„Ich habe noch nie bei einem Verein aus finanziellen Gründen unterschrieben“
Im Sommer des vergangenen Jahres war es, als der FC St. Pauli einen neuen Trainer brauchte. Fabian Hürzeler, der den Kiezklub nach 13 Jahren Erstliga-Abstinenz zurück ins deutsche Fußball-Oberhaus geführt hatte, hatte sich für ein Engagement in der Premier League entschieden – Hürzeler wechselte zu Brighton & Hove Albion. Bei der Suche nach einem Nachfolger wurden die Hamburger in Belgien fündig: Sie holten Andreas Blessin, der dort Royal Union Saint-Gilloise trainiert hatte.
Blessin, 51 Jahre alt, fügte sich gut ein – und steht mit dem FC St. Pauli zwei Spieltage vor dem Saisonende kurz vor dem Klassenerhalt. Ein großer Erfolg. Die Hamburger haben fünf Punkte Vorsprung auf Relegationsrang 16.
Frage: Herr Blessin, ist es schwerer, mit dem FC St. Pauli den Klassenerhalt zu schaffen oder mit dem FC Bayern Deutscher Meister zu werden?
Alexander Blessin: Das ist ein ganz schwieriger Vergleich, denn es gibt zwei unterschiedliche Herangehensweisen. Bei Bayern München hat man 20 Top-Stars, zwischen denen man als Trainer moderieren muss. Das ist beim FC St. Pauli aufgrund der Voraussetzungen anders – zumal es vor der Saison auch noch einen gewissen personellen Aderlass gab. Wenn man aus wenigen Mitteln viel macht, kann man auf die Leistung auf jeden Fall ebenfalls sehr, sehr stolz sein. Aber noch sind wir nicht durch, von all den Schulterklopfern können wir uns nichts kaufen.
Frage: St. Pauli hat die Liga überrascht, steht trotz des 0:1 gegen Stuttgart auf Rang 14. Gab es eine Situation in dieser Saison, in der Sie auf Ihre Mannschaft ganz besonders stolz waren?
Blessin: Ich bin vor allem stolz darauf, wie überragend das Team über die komplette Saison mitgezogen hat. Wenn ich ein Spiel herausheben müsste, wäre es das 3:1 gegen Holstein Kiel am 12. Spieltag. Bis dahin hatten wir einige Punkte geholt wie gegen Leipzig (0:0), in Freiburg (3:0) oder Hoffenheim (2:0), dafür immer wieder Komplimente bekommen, was die Performance betrifft …
Frage: Aber zu Hause gab es bis dahin noch keinen Dreier, und Ihre Mannschaft stand auf dem Relegationsplatz.
Blessin: Ja, und dann kommt mit Kiel ein unmittelbarer Konkurrent zu uns. Jeder hat gesagt: Wenn ihr in der Bundesliga bleiben wollt, müsst ihr das Spiel gewinnen. Der Druck war sehr groß. Dass meine Mannschaft die Partie dann so souverän für sich entschied, zeigt, welchen Charakter sie hat.
Frage: Welcher Ihrer Spieler hätte es in die Bundesliga-Elf des Jahres verdient?
Blessin: Grundsätzlich propagiere ich immer, dass es wichtig ist, geschlossen als Mannschaft aufzutreten. Aber bei unserem Torhüter Nikola Vasilj mache ich eine Ausnahme, weil er in dieser Saison außerordentlich gut performt und uns oft die Null gerettet hat. Er hätte es verdient.
Frage: St. Pauli ist Ihre erste Bundesliga-Trainerstation, ausgebildet wurden Sie vor allem bei RB Leipzig unter Ralf Rangnick. Was nahmen Sie von ihm mit?
Blessin: Wie Ralf über Fußball denkt, seine Spielweise, wie er die Spieler mit seiner positiven Art vereinnahmen kann. Ich war zuvor auch schon beim VfB Stuttgart Spieler unter ihm. Was mir an ihm darüber hinaus besonders imponiert: Dass er immer Vollgas gibt, jede Facette aus einem Spieler herauskitzelt. Noch heute sind wir in Kontakt.
Frage: Gibt es andere Trainer, von denen man sich etwas abschaut?
Blessin: Ich fand meine Zeit in Italien sehr lehrreich, als ich mich mit verschiedenen Trainern wie Luciano Spalletti (2023 Meister mit Neapel, jetzt Nationalcoach, d. Red.) über Fußball austauschen konnte. Viele waren sehr offen – bis auf José Mourinho (lächelt). Das lag aber wohl eher am Ergebnis.
Frage: Sie holten mit CFC Genua ein 0:0 gegen Mourinho und die AS Roma.
Blessin: Ja, und er war nach dem Spiel erst mal gefühlt eine halbe Stunde in der Schiedsrichter-Kabine, um Dampf abzulassen. Prinzipiell bin ich der Meinung, dass man keinen Trainer kopieren sollte, sondern authentisch bleiben muss. Natürlich mag jeder Jürgen Klopp. Aber ihn imitieren? Das würde nicht funktionieren. Weder vor einer Mannschaft – noch in den Medien.
Frage: Hat Klopp schon angerufen, um Sie als Cheftrainer nach Leipzig zu locken?
Blessin: Nein. Das letzte Mal haben wir uns gesehen, als ich mit Union Saint-Gilloise in der Europa League gegen ihn spielte. Wir gewannen zu Hause gegen Liverpool 2:1 (Dezember 2023, d. Red.). Wir wollten danach eigentlich noch ein Bier zusammen trinken, dazu kam es nicht. Vielleicht war er wegen des Ergebnisses nicht in Stimmung (lächelt).
Frage: Sie werden aufgrund Ihrer Leistungen mit anderen Klubs wie Wolfsburg in Verbindung gebracht. Ihr Vorgänger Fabian Hürzeler sagte nach dem Aufstieg 2024, dass er bleibt – und ging dennoch zu Brighton. Bleiben Sie bei St. Pauli?
Blessin: Ich habe noch nie bei einem Verein aus finanziellen Gründen unterschrieben. Entscheidend ist für mich das Projekt und wie ein Verein geführt wird. Ich fühle mich hier super wohl und weiß, was ich an St. Pauli habe. Als wir eine schwierige Phase hatten, blieben Andreas Bornemann und Oke Göttlich (Manager und Präsident, d. Red.) besonnen. Es macht mir verdammt viel Spaß, mit ihnen zu arbeiten. Dann fällt es einem leicht, jeden Tag die 100 Prozent abzurufen. Mehr möchte ich zu dem Thema aber nicht sagen, denn jegliche Energie gilt den nächsten Spielen.
Frage: Durch die Genossenschafts-Scheine nimmt St. Pauli geschätzt rund 30 Millionen Euro ein. Haben Sie welche gekauft? Und was müssen die Ziele der nächsten Jahre sein?
Blessin: Ja, ich bin jetzt auch Genosse. Und was die Ziele angeht: Wir sind als Aufsteiger in die Saison gegangen, wollen die Klasse halten und auch künftig Bundesligist bleiben. Ich bin davon überzeugt, dass uns das gelingen kann, auch wegen unserer unglaublichen Fan-Base. Ich bekomme sogar Zuschriften aus Indonesien, Australien und den USA. St. Pauli polarisiert, manche zeigen uns auch mal den Stinkefinger. Aber der Klub wird von der Mehrheit sehr wertgeschätzt – in vielerlei Hinsicht.
Frage: Hoffen Sie, dass Stadtrivale HSV den Aufstieg nicht schafft – oder nehmen Sie den Sieg im Derby lieber?
Blessin: Dann nehme ich doch das Zweite, ein Bundesliga-Derby wäre sicher eine geile Erfahrung. In Italien erlebte ich das mit meinem Ex-Verein CFC gegen Sampdoria, das ist eines der größten Derbys. Ich bekomme immer noch Gänsehaut, wenn ich daran denke. Aber erst einmal müssen wir in der Liga bleiben.
Der Artikel wurde für das Sport-Kompetenzcenter (WELT, SPORT BILD, BILD) verfasst und zuerst in SPORT BILD veröffentlicht.
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