Der FC Bayern tritt in Leipzig zur Meisterprüfung an. Durchfallen tut er nicht, aber muss noch einmal wiederkommen. Über ein Spiel, das die Saison des Rekordmeisters abbildet und gleich drei Wahrheiten über Thomas Müller erzählt.

Im Mai müssen die Bayern gegen Leipzig. Das ist eine Gewissheit des Spielplans. Es ist so sicher wie der nächste Scherz von Thomas Müller. Wenn es für den Rekordmeister gegen Leipzig geht, wird abgeliefert: spektakuläre Spiele, wilde Wendungen, beinahe verlorene Meisterschaft. Auch beim 3:3 (2:0) am 32. Spieltag der Saison 2024/2025 ist es nicht anders: Die Zuschauer bekommen etwas geboten, nur vielleicht nicht das, was sie erwartet haben. In der letzten Sekunde verhindert Yussuf Poulsen die vorzeitige Meisterschaft. "An sich wissen wir, dass wir es sind", sagt Müller nach seinem letzten Auftritt in Sachsen. Aber das sind sie eben noch nicht, zumindest rein rechnerisch.

Damit geht es den Bayern von 2025 aber besser als denen im Jahr 2023. Da stand der damalige RB-Boss Max Eberl grinsend in den Katakomben der Allianz Arena und feierte am 33. Spieltag einen Sieg der Sachsen, der dem BVB eigentlich die Meisterschaft bringen sollte. Es kam anders. Weil Thomas Müller gegen Dortmund stichelte und die am 34. Spieltag die Nerven verloren. Die Bayern wurden 2023 Meister, sie werden auch 2025 wieder Meister. Daran ändert das 3:3 an diesem Samstag nichts. Die Bayern wurden nur 2024 nicht Meister. Es hat an ihrem Selbstverständnis genagt.

Das hat sie kurz von dem Kurs abgebracht, auf dem sie einst waren. Zum Beispiel im Mai 2017, bei einem weiteren Spiel gegen Leipzig. Die erste Reise dorthin überhaupt. Es war der Tag, an dem Thiago mächtig sauer wurde. "¡Que se dejen de tonterías! ¡Somos el Bayern, joder!", brüllte der da durchs Leipziger Stadion. "Die sollen die Faxen lassen, wir sind die Bayern, verdammt!" Das machten die Leipziger dann auch. Bayern lag zur Pause 1:2 zurück, drehte ein 2:4 noch in ein 5:4. Es war ein Spektakel. Eins, das egal war.

Verpasstes "Finale Dahoam" untermauert Schwäche in Europa

Die Meisterschaft war längst gewonnen, aber der Aufsteiger und Vizemeister sollte nicht zu aufmüpfig werden. Wurden sie in der Folge nie. Zumindest nicht über die Strecke einer gesamten Saison. Nicht Leipzig, nicht Dortmund, sondern Leverkusen entriss den Bayern die Dauer-Meisterschaft. Doch Leverkusen ist längst zerlegt und die Schale zurück auf dem Weg nach München. Schon hier in Leipzig?

Denn acht Jahre nach Thiago geht es wieder nach Leipzig. DIE Bayern sind die Mannschaft von Vincent Kompany nicht mehr. Oder noch nicht wieder, verdammt. Der FC Bayern ist immerhin wieder Meister, wenn auch noch nicht rechnerisch. Mit einem Sieg holen sie die Meisterschaft schon am 32. Spieltag zurück nach München.

Doch die Bayern lassen an diesem Samstag im Mai erst viel vermissen. Dem FC Bayern in seiner jüngsten Inkarnation fehlt die Gnadenlosigkeit, die absolute Autorität, die einst ganze fußballerisch bedeutsame Landstriche quer durch Europa zittern ließ. Der kategorische Imperativ - "Wir sind Bayern, verdammt!" - steht infrage. Nicht zuletzt durch die bescheidene Bilanz in den europäischen Wettbewerben seit dem Sieg in der Champions League im Pandemie-Turnier von Lissabon. Das "Finale Dahoam", die große Revanche für das verlorene Endspiel gegen Chelsea im Jahr 2012, wurde gegen Inter bereits im Viertelfinale verspielt.

Sicher auch, weil die Bayern nicht mehr die verdammten Thiago-Bayern sind. Zeit wartet auf niemand. Die Welt des Fußballs hat sich verändert. Auch das ist gut auszumachen, hier im ehemaligen Zentralstadion in Leipzig.

Da ist Manuel Neuer, der verletzt auf der Bank sitzt. Er kann nicht helfen. Er kann nur zusehen, als sein Vertreter Jonas Urbig in der 11. Minute auf dem Weg zurück zum Tor auf nassem Geläuf wegrutscht und hilflos einem Ball hinterherschauen muss. Den schickt der Leipziger Stürmer Benjamin Sesko per Außenrist ins leere Tor.

Da ist Jamal Musiala, der seit Wochen schmerzlich vermisst wird. Ohne den das Spiel der Bayern so unstrukturiert wirkt, ohne den Bayern-Ballbesitzspiel ideenlos daherkommt. Auf dem Platz bestimmt er sonst das Geschehen. Er ist nicht da. Weil niemand bestimmt, erhöht der ehemalige Nationalspieler Lukas Klostermann vor der Pause gar auf 2:0. Wo sind die Bayern, verdammt?

Müller fühlt sich als Meister, Kane ist es noch nicht

Einer ist auf der Tribüne. Harry Kane ist gesperrt. Er kann ebenfalls nicht helfen. Was war im Vorfeld geunkt worden. Endlich sein erster Titel, nach rekordverdächtig langem Anlauf. Und er kann selbst nicht auf dem Rasen stehen. Bitter. Zur Halbzeit sieht es jedoch nicht danach aus, als würde der britische Top-Stürmer Feierlichkeiten verpassen.

Und dann ist da Kapitän und Kane-Ersatz Thomas Müller. Das 3:3 in Leipzig legt zwei Wahrheiten offen. Die Wahrheit Nummer eins: Thomas Müller ist eine überlebensgroße Identifikationsfigur. Der Rekordmeister wird lange auf jemanden wie ihn warten müssen. Vielleicht wird es jemanden wie ihn so nie wieder geben. Einen, der seine gesamte Bundesliga-Karriere, seine gesamte Europa-Karriere beim FC Bayern verbringt. Der Bayer ist und Bayer bleibt.

Als er um 14:35 Uhr die Bayern-Spieler zum Warmmachen aufs Feld führt, brandet im Bayern-Block tosender Jubel auf. Nach Spielende steht Müller vor dem Gästebereich und animiert zur La-Ola, versucht (erfolgreich) alles, um den Frust über das unglückliche Ende dieses wilden Spiels einfach wegzufeiern. Bei Sky spricht der Routinier davon, sich bereits "ganz als Meister" zu fühlen, und die Freude sieht man ihm an. Die Fans danken es ihm mit "Müller!"-Rufen, die noch aus dem Bayern-Block hallen, als die Spieler längst auf Weg in die Kabine sind.

Der bayernhafteste Verlauf, der möglich ist

Es gibt eine andere Wahrheit, die von dieser Abschiedstour noch verschleiert wird. Es ist die Wahrheit Nummer zwei. Die ist so bitter wie unausweichlich: Es ist eine sportlich nachvollziehbare Entscheidung des FC Bayern, sich im Sommer von Thomas Müller zu trennen. Alle Sentimentalitäten ignorierend, gibt es auf seiner Position mittlerweile in Jamal Musiala schlicht einen besseren Spieler. Und dem Vorhaben, ebenjenen Musiala und Joshua Kimmich zu den neuen Gesichtern des FC Bayern zu machen, hilft die Abwesenheit des charmant-lausbübischen omnipräsenten Thomas Müller womöglich sogar.

In der 61. Minute verlässt er nach einem undankbaren Spiel das Feld. Wenige Sekunden später nickt Eric Dier eine Ecke von Michael Olise ein. Keine 60 Sekunden später trifft der Vorbereiter direkt selbst. Es steht 2:2 und niemand kann es erklären. Der FC Bayern findet Gefallen an der Chance, doch noch Meister zu werden, Joshua Kimmich treibt Angriff um Angriff an, tatsächlich nimmt das Spiel den bayernhaftesten Verlauf, der möglich ist: in der 83. Minute trifft Leroy Sané. Das muss die Meisterschaft sein. Riesiger Jubel bei Vincent Kompany, riesiger Jubel auch bei den Auswärtsfans. Die waren wieder ohne ihre Ultras gekommen. Eine liebgewonnene Tradition bei vielen Fangruppierungen in Deutschland. Leipzig wird boykottiert. Andere sind da. Raketen steigen aus dem Block empor, Nebeltöpfe werden gezündet, "Super Bayern, Super Bayern", dröhnt es durch das Leipziger Stadion.

Ein Spiel, das zur Saison passt

Harry Kane, der das Spiel in einer VIP-Loge verfolgt, tummelt sich auf einmal am Spielfeldrand. Er will den ersten Titel seiner Karriere feiern. Passiert nicht. Yussuf Poulsen trifft in der 94. Minute. Mit dem Abpfiff steht es 3:3 und die Spieler des FC Bayern etwas ratlos auf dem Feld.

Der FC Bayern steckt in einem Umbruch, der sich immer wieder hässlich in zähen Partien gegen Celtic Glasgow, dem fürchterlichen Betriebsunfall mit der 2:3-Niederlage gegen Bochum oder auch der 1:4-Lehrstunde gegen den FC Barcelona von Ex- und Supertrainer Hansi Flick manifestiert. Auch in Leipzig ist er fast greifbar. Die Erlösung weicht dem Schock, Vincent Kompany und Harry Kane bleibt die Freude über ihren ersten (Erstliga)-Titel verwehrt. Nur vorerst natürlich, spätestens nächste Woche beim Heimspiel gegen Borussia Mönchengladbach wird sich der Druck in Freude entladen. Dann ist die Meisterschaft offiziell, auch rechnerisch. Eine wichtige Gewissheit, auch fürs Selbstverständnis nach einer titellosen Saison.

Nur Sekunden nach Abpfiff setzt Thomas Müller derweil seine Abschiedstournee vor dem Auswärtsblock fort. Seine letzte Meisterschaft wird er "dahoam" feiern. Auf der Couch oder im eigenen Stadion. Es wird eine Meisterschaft der kleinen Schritte sein. Und dann, wenn es im nächsten Mai vielleicht wieder gegen Leipzig geht, wird er nicht mehr dabei sein. Das ist die letzte, die dritte Wahrheit über Thomas Müller.

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