Den Anruf, der das Leben der Familie verändern wird, nimmt zunächst niemand ernst. 2008 hören Klaudia und Gerhard Müller in ihrem Haus im bayerischen Pähl ihren Anrufbeantworter ab. Jürgen Klinsmann hat drauf gesprochen, ihr Sohn Thomas solle morgen bitte zum Training der Profis des FC Bayern kommen. Die Müllers denken an den Scherz von Thomas’ Onkel, der gern seine Stimme verstellt. Doch es ist kein Gag. Es ist der Start einer Weltkarriere.

Ihr Thomas, damals Stürmer der zweiten Mannschaft des deutschen Rekordmeisters, debütiert wenig später mit 18 Jahren unter Klinsmann in der Fußball-Bundesliga, der Trainer wechselt ihn beim 2:2 gegen den Hamburger SV für Miroslav Klose ein.

George W. Bush ist US-Präsident, Katy Perry stürmt die Charts, beinahe jeder hat ein Nokia-Handy, Energie Cottbus spielt Bundesliga. RB Leipzig gibt es noch nicht. Vieles sich seitdem verändert. Sehr vieles. Aber eben nicht alles. Thomas Müller ist immer noch beim FC Bayern. Unfassbare 500 Ligaspiele (360 Siege) hat er seitdem absolviert – mehr als RB Leipzig (303). Hat sich vom Talent zu einem der bekanntesten, beliebtesten und erfolgreichsten Sportler der deutschen Geschichte entwickelt. Jetzt schließt sich der Kreis: In diesen Wochen endet seine Bundesligakarriere, endet eine Ära. Ein letztes Heimspiel, am kommenden Samstag (18.30 Uhr, Sky) gegen Borussia Mönchengladbach. „Nächstes Jahr werde ich ein Ticket brauchen“, sagt Müller, inzwischen 35 Jahre. Am 34. und letzten Spieltag steht die Partie auswärts gegen die TSG Hoffenheim an.

Müller tritt mit einem letzten Titel ab, der Deutschen Meisterschaft, seiner 13. Das hat in der Bundesliga kein anderer geschafft. „Meine erste Schale habe ich 2010 geholt“, so der Weltmeister. „Du hast etwas Schweres in der Hand. Das vermittelt ja auch das Gefühl, dass es echt nicht leicht ist, das Ding zu holen.“ Am 18. Mai wird er mit den Bayern auf dem Münchner Marienplatz zum letzten Mal den Fans die Schale entgegenstrecken. Und sicher einige Sprüche reißen. Die Drei-Liter-Weißbiergläser sind poliert.

Thomas Müller prägt die letzten Wochen dieser Ligasaison. Es geht um die Würdigung dieses Ausnahmeprofis. Und die Frage: Was macht Müller denn nun nach dieser Spielzeit?

Die Liga, Fans, Experten und Kollegen verneigen sich vor einem ganz besonderen Spieler. Und sein Klub bemüht sich darum, ihm den bestmöglichen Abschied zu bereiten. Auch, weil die Kommunikation rund um die Entscheidung, dass Müller keinen neuen Vertrag mehr erhält, vor einigen Wochen sehr unglücklich lief. Die Fans feiern Müller seitdem bei jedem seiner letzten Partien mit Standing Ovations.

„Ich empfinde viel Freude und Dankbarkeit“, so Müller. „Ich spüre eine enorme Wertschätzung für die vergangenen 15 Jahre, und das ist ein gutes Gefühl.“ Der FC Bayern prüft derzeit, was in Sachen Müller-Abschied alles möglich ist. Zuletzt war ein Auftritt der Sportfreunde Stiller, einer von Müller sehr geschätzten Musikgruppe, im Gespräch. Wie auch immer der Tag genau laufen wird – es wird emotional.

Müller hatte beim FC Bayern über 130 Mitspieler, von Marcell Jansen über Christian Lell und Luca Toni bis zu Harry Kane. Vor diesem Wochenende kam er auf 150 Tore und 173 Vorlagen in der Liga. Kein anderer Spieler hat seit Müllers Debüt in dem Wettbewerb so viele Treffer vorbereitet wie er. Insgesamt gewann er 33 Titeln – darunter sechsmal den DFB-Pokal und zweimal die Champions League. In der Königsklasse spielte er 163. Mal, einzig Superstar Cristiano Ronaldo (183) und Torwart-Legende Iker Casillas (177) kommen auf noch mehr Partien.

Der perfekte Abschied kann nicht mehr gelingen – das wäre der Triumph in der Champions League gewesen, am 31. Mai im Finale im Münchner Stadion. Dort, wo Müller unter Klinsmann debütierte. Die Bayern sind im Viertelfinale ausgeschieden, auch im DFB-Pokal sind sie längst raus. Und doch kann Müller noch einen Titel gewinnen zum Ende seiner Bayern-Spielerkarriere.

Klub-WM finanziell wichtig für den FC Bayern

Sein Vertrag gilt bis 30. Juni. Damit er an der Klub-WM teilnehmen kann, bekommt er eine Art „Mini-Kontrakt.“ Das Turnier wird vom 14. Juni bis 13. Juli in den USA ausgetragen – erstmals mit 32 Mannschaften. Aus finanziellen Gründen und mit Blick auf Vermarktung und Prestige ist der Wettbewerb für den Klub durchaus wichtig. In der Vorrunde geht es in Cincinnati gegen Auckland City aus Australien, in Miami gegen Boca Juniors aus Argentinien und in Charlotte gegen Benfica Lissabon aus Portugal. Das Finale steigt in New Jersey.

Müllers letztes Hurra mit seinem Herzensklub. „Die Klub-Weltmeisterschaft, wir werden sie uns schnappen“, betont Müller.

Und danach? Der Publikumsliebling hält sich offen, ob er seine Spielerkarriere woanders fortsetzt. Über Anfragen aus Italien, der Türkei, den USA und aus England wird berichtet. AC Florenz soll sehr interessiert sein, für den Klub spielten bereits Mario Gomez und Franck Ribéry nach ihrer Zeit bei den Bayern. Das von Starcoach José Mourinho trainierte Fenerbahce Istanbul schaut sich offenbar nach einem erfahrenen Anführer um. Der Los Angeles FC ist ein Partnerklub des FC Bayern und wird als Option für Müller gehandelt. Mancher im Münchner Klub findet allerdings: Wer seit seinem zehnten Lebensjahr für den FCB spielt und als Profi des Klubs Weltmeister wurde, der wechselt nicht in die MLS.

Müller könnte als „One-Club-Player“ in die Fußballgeschichte eingehen. Als einer, der als Profi immer für denselben Klub spielte. Er weiß um das Risiko, welches ein Wechsel im Winter der Karriere birgt – man kann sein eigenes Denkmal beschädigen. Bei Müller sind ob seiner enormen Karriere zwar nur kleine Kratzer möglich, doch er hat natürlich verfolgt, wie es seinen Kumpels und einstigen Mitspielern Bastian Schweinsteiger (Manchester United) und Mats Hummels (AS Rom) ging.

Bei beiden Weltmeistern erfüllten sich die Erwartungen in Sachen Einsätzen und sportlich glücklicher Zeit im Ausland nicht. Pierre Littbarski, Weltmeister von 1990, träumt von einem Wechsel von Thomas Müller zum 1. FC Köln. Müller nimmt das alles gelassen zur Kenntnis. Und betont, er sei auf die kommenden Wochen fokussiert.

Bei seinen Beratern trudeln unzählige Anfragen an. Fernsehsender würden ihn sehr gern als Experten haben, zudem gibt es zahlreiche andere Optionen. Werbegesicht ist Müller längst – und dürfte es bleiben.

Termin für Abschiedsspiel steht noch nicht

Ein Abschiedsspiel außerhalb der Ligasaison wird der FC Bayern seiner Legende auch noch bieten. Der Termin steht bislang nicht. Und die Vereinsbosse hoffen sehr, dass Müller mittel- oder langfristig eine verantwortungsvolle Aufgabe im Klub übernehmen wird, außerhalb des Rasens.

Ehrenpräsident Uli Hoeneß sagte WELT AM SONNTAG: „Immer, wenn wir gesprochen haben, habe ich Thomas gesagt: Du weißt, dass wir sehr stark auf dich setzen, wenn es um die Zukunft des FC Bayern geht. Insofern ist das Thema Thomas Müller für mich überhaupt nicht abgeschlossen. Im Gegenteil.“

Sollte Müller im Sommer mit dem Fußball-spielen aufhören, würde der 73-jährige Hoeneß ihm raten, sich ein Jahr oder zwei Jahre im Auftrag des FC Bayern auf der ganzen Welt im Sport umzusehen. „Meine Vorstellung: Er geht mal drei Monate die NBA studieren, drei Monate die NFL, dann nach England beispielsweise zu Manchester United“, so Hoeneß. „Er kommt dann mit einer gewissen Erfahrung wieder. Und bespricht mit uns, was er beim FC Bayern künftig machen könnte. Es gibt so viele Aufgaben im Verein, da wird Thomas Müller immer einen Platz finden.“

Nach 17 Jahren als Bundesligaspieler des FC Bayern beginnt für Müller in diesem Sommer ein neues Lebenskapitel. Was wird ihm am meisten fehlen? Kürzlich war er mit seinem Vater Gerhard Golfen – neben dem Fußball seine zweite sportliche Leidenschaft. Beim Abschlagen sagte Müller seinem Vater: Das Einzige, was ohne Profifußball nicht ersetzbar ist, sei das Adrenalin, dass man als Spieler in einem Stadion spüre. Aber seinem Leben, seinem Tag eine Struktur zu geben – das werde er ja wohl hinbekommen.

Der Ausnahmespieler Thomas Müller wird dem deutschen Fußball fehlen.

Julien Wolff ist Sportredakteur. Er berichtet für WELT aus München über den FC Bayern und die Nationalmannschaft sowie über Fitness-Themen. Seit 2011 führt er Interviews mit Thomas Müller und schreibt über dessen Spiele.

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