„Heutzutage mache ich mein Gewicht mit Water Loading“
Sechs Minuten ging das EM-Halbfinale in die Verlängerung. Sechs Minuten, in denen Seija Ballhaus auf der Matte alles geben musste. Am Ende gewann sie – und schrieb Geschichte: In Montenegro holte die 24-Jährige als erste deutsche Judoka seit 1977 EM-Gold im Leichtgewicht (bis 57 Kilogramm). Ein historischer Erfolg, den sie ihrer jahrelangen Disziplin, ihrem klaren Fokus und ihrem Siegeswillen zu verdanken hat.
Im Interview spricht die gebürtige Hamburgerin über den Wert dieses Erfolgs, das Ringen um das richtige Gewicht und warum sie teilweise bis zu sechs Liter Wasser am Tag trinkt. Das Besondere: All das erlebt Ballhaus nicht allein. Die meisten Erlebnisse teilt sie zusammen mit ihrer Zwillingsschwester Mascha. Auch sie gehört zur Weltspitze, kämpft bis 52 Kilogramm und ist derzeit Achte der Weltrangliste. Seit der ersten Judo-Stunde fordern sich die beiden heraus – als Schwestern, Sportlerinnen und als Team.
WELT: Frau Ballhaus, Sie haben 48 Jahre nach Sigrid Happ als erste deutsche Judoka im Leichtgewicht EM-Gold geholt und damit deutsche Sportgeschichte geschrieben. Haben Sie inzwischen realisiert, was Sie erreicht haben?
Seija Ballhaus: So langsam, ja. Während der EM war ich im Tunnel, jeden Tag in der Halle, ständig unterwegs, keine Zeit, überhaupt mal innezuhalten. Mein Handy ist nach dem Finale auch vor lauter Nachrichten explodiert, ich habe bestimmt 150 Stück bekommen. Erst zu Hause, als ich meine Kämpfe noch mal angeschaut habe, kam es langsam bei mir an: Ich habe wirklich Gold geholt!
WELT: Im Halbfinale mussten sie sechs Minuten in die Verlängerung. Woher nehmen Sie in solchen Momenten die Kraft?
Ballhaus: Natürlich hilft das Training. Wir haben im Vorfeld solche Verlängerungen geübt – aber am Ende entscheidet der Kopf. Ich habe mir geschworen: Ich breche nicht ein, lieber falle ich auf der Matte um als aufzugeben. Diese Willensstärke, dieser unbedingte Kampfgeist – das macht in solchen Situationen den Unterschied.
WELT: Sie sind mit vier Jahren zum Judo gekommen. Erinnern Sie sich noch an Ihre ersten Schritte?
Ballhaus: Unsere Eltern wollten damals einfach mal etwas anderes ausprobieren als Kinderturnen. Sie hatten selbst keine Ahnung von Judo. Meiner Schwester Mascha und mir hat es sofort gefallen. Und spätestens, als wir die ersten Medaillen gewonnen haben, war klar: Das ist unser Sport.
WELT: Heute kämpfen Sie bis 57 Kilo und Ihre Schwester Mascha bis 52 Kilo auf höchstem Niveau. Was bedeutet es Ihnen, die Leidenschaft mit ihrer Schwester teilen zu können?
Ballhaus: Alles. Wir pushen uns gegenseitig, wir kennen uns in- und auswendig. Wir teilen die Träume, Niederlagen und Siege. Und es ist definitiv besser, dass wir nicht in einer Gewichtsklasse kämpfen – das erspart uns einiges an Stress. (lacht)
WELT: Was war bisher Ihr emotionalster Moment auf der Matte?
Ballhaus: Definitiv die EM jetzt. Und auch Maschas WM-Bronze – da saß ich auf der Tribüne und hatte selbst Tränen in den Augen, weil ich so mit meiner Schwester mitgefühlt habe.
WELT: „Gewicht machen“ gehört im Judo immer dazu. Ist das eher ein Stressfaktor oder Routine?
Ballhaus: Mittlerweile Routine. Ich muss zwei Kilo abnehmen, das kriege ich gut hin. Früher, in der Jugend, war es schlimmer. Da musste ich fünf Kilo vor Wettkämpfen abnehmen. Da war man mehr beschäftigt beim Training daran zu denken „Du musst leichter werden und mehr schwitzen.“ Heute geht es entspannter zu. Und das hilft auch, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren: das Kämpfen.
WELT: Wie wird man fünf Kilogramm los?
Ballhaus: Erst mal empfehle ich gerade Jugendlichen, frühzeitig die Gewichtsklasse zu wechseln und nicht unnötig „Gewicht zu machen“, vor allem gerade in jungen Jahren. Aber heutzutage mache ich mein Gewicht mit Water Loading. Das heißt sieben bis zehn Tage vor dem Wiegen trinke ich circa sechs Liter Wasser täglich und ernähre mich gesund. Etwa 24 Stunden vor der Waage reduziere ich die Flüssigkeit drastisch, um weiter Wasser auszuschwemmen. Kurz vorher gehe ich noch auf das Laufband zum Schwitzen und verzichte ein bis zwei Tage vor der Waage auf Salz und Kohlenhydrate, um Wassereinlagerungen zu vermeiden.
WELT: Wie würden Sie Ihren Kampfstil in einem Wort beschreiben?
Ballhaus: Mutig. Ich suche den direkten Zweikampf am Körper. Und ich bin vielseitig, ich kann rechts und links werfen. Das hilft mir im Kampf, bestmöglich auf meine Gegnerinnen und ihren Kampfstil reagieren zu können.
WELT: Gibt es ein Ritual, bevor es auf die Matte geht?
Ballhaus: Ja, nach der Anzugkontrolle mache ich noch ein paar kurze Übungen, dann springe ich hoch, schlage mir leicht ins Gesicht – das ist mein Moment. Dann weiß ich: Jetzt geht's los.
WELT: Sie haben eine Ausbildung bei der Polizei gemacht. Ein Plan B für die Karriere danach?
Ballhaus: Auf jeden Fall. Ich wollte sowieso zur Polizei, unabhängig vom Judo. Aber durch das Spitzensportprogramm in Bayern war es perfekt kombinierbar. Jetzt habe ich eine abgeschlossene Ausbildung zur Polizeimeisterin – ein gutes Gefühl. Denn im Sport kann immer etwas passieren.
WELT: Vom Sport könnten Sie trotz ihrer Erfolge nicht leben. Ist das manchmal frustrierend?
Ballhaus: Ja, schon. Bei Grand Slams gibt es zwar ein Preisgeld – 5.000 Euro für einen Sieg –, aber bei Europameisterschaften nicht. Auch die Judo-Bundesliga bringt ein bisschen was, aber von den paar Hundert Euro lebt man nicht. Mein Gehalt bei der Polizei gibt mir da Sicherheit, meine Judo-Karriere weiterzuverfolgen.
WELT: Einen Großteil ihrer Karriere haben Sie noch vor sich. Was möchten Sie am Ende Ihrer Karriere in ihrem Wikipedia-Artikel über sich lesen können?
Ballhaus: Olympiasiegerin. Nachdem ich die Spiele in Paris knapp in der Qualifikation verpasst habe, ist Los Angeles 2028 mein großer Traum. Und wenn ich meine kleinen Ziele erreiche, erfüllt der sich hoffentlich von selbst.
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