Strafen, neue Regeln, Unmut – Eine Sportart ringt um Glaubwürdigkeit
Es ist diese scheinbare Leichtigkeit bei einer Sache, die für die meisten Menschen unvorstellbar ist. Es ist das tollkühn und gleichzeitig elegant wirkende Abspringen von einer mächtigen Schanze, dieses Fliegen durch die Luft, das einen Großteil der Faszination Skispringen ausmacht. Für die Athleten selbst, für Fans und Zuschauer. Olympiasieger Andreas Wellinger kann minutenlang mit leuchtenden Augen erzählen, wenn es um jene so fragile Sportart geht, die er mit Leidenschaft betreibt, in der er Höhen und Tiefen erlebt hat. Umso mehr wühlen ihn die Geschehnisse des vergangenen Winters und die Konsequenzen daraus immer noch auf – vor allem jetzt, da die neue Saison kurz bevorsteht. Denn der Schaden war groß und die Schatten sind lang.
„Wir haben einen sehr großen Einbruch in der Glaubwürdigkeit unserer Sportart erlebt“, sagt der 30-Jährige. „Was in Trondheim passiert ist, war scheiße. Für unseren Sport, für alle Athleten.“ Der Olympiasieger von 2018 spricht vom Manipulationsskandal um die norwegischen Skispringer bei deren Heim-Weltmeisterschaften. Ein Skandal, der das Sportliche nicht nur bei den Titelkämpfen, sondern für den Rest des Winters überlagerte – und dem Skispringen damit auch eine große Hypothek für die am 21. November startende neue Saison mitgibt.
Es gab Strafen, Konsequenzen und neue Regeln – inwieweit die Maßnahmen aber ausreichen, darüber gibt es unterschiedliche Meinungen. Das Skispringen, so viel steht fest, kämpft um seinen Ruf und um verloren gegangenes Vertrauen. Die Protagonisten schwanken zwischen Hoffnung und Frust.
Nun ist das Material in dieser so sensiblen Sportart, in der minimale Abweichungen im Flugsystem, aber eben auch beim Equipment große Auswirkungen haben können, schon lange ein Thema. Die Experten und Tüftler aller Teams versuchen, das Beste herauszuholen – und die Konkurrenz schaut ganz genau hin, wenn plötzlich einer davonfliegt oder irgendetwas anders aussieht: Was ist das? Und ist das im Rahmen des Reglements? Meistens ist es das.
Gewonnen hat zudem, wer in die Köpfe der anderen kriecht – Materialfragen sind oft auch Mentalfragen. Ein echter Coup gelang dem Schweizer Simon Ammann 2010 mit seiner neuartigen, revolutionären Bindung – einem kleinen, gebogenen Stäbchen anstatt eines Fersenbands. Eine legale Entwicklung, die alle anderen hektisch werden ließ und Ammann dabei half, seine olympischen Goldmedaillen Nummer drei und vier zu gewinnen.
Horngacher: „Wir müssen Vertrauen zurückgewinnen“
Was die Norweger allerdings im Februar in Trondheim mit den Anzügen anstellten, war durch das Reglement nicht mehr gedeckt. Es war auch keine Lücke, die sie gefunden hatten, und auch nicht mit sehr viel Wohlwollen noch innerhalb der Grauzone zu verorten. Auf anonym gefilmten Videos war zu erkennen gewesen, wie das Team Wettkampfanzüge auf unerlaubte Art bearbeitet. Kurz nach den Weltmeisterschaften wurden der ehemalige Cheftrainer Magnus Brevig, Assistent Thomas Lobben, Servicemann Adrian Livelten sowie fünf Springer vorläufig suspendiert.
Nach Untersuchungen des unabhängigen Ethik-Büros blieben von den Springern nur Marius Lindvik, der in Trondheim auf der Normalschanze vor Wellinger Gold gewonnen hatte, und Johann Andre Forfang übrig. Beide hatten in Trondheim auch Medaillen im Mixed und mit dem Team geholt. Die drei Betreuer gaben zu, die Anzüge der beiden mit einer zusätzlichen, nicht elastischen Naht verstärkt zu haben, die für mehr Stabilität in der Luft sorgen sollte, also einen aerodynamischen Vorteil bringt.
„Das Materialthema ist im vergangenen Winter völlig eskaliert“, sagt Bundestrainer Stefan Horngacher kurz vor Saisonstart und ergänzt: „Aber vielleicht ist das auch gut so.“ Gut so, damit genauer hingeschaut wird und Regeln optimiert werden. „Wir müssen Vertrauen zurückgewinnen. Das, was passiert ist, ist definitiv nicht gut für den Sport. Aber wir sind auf einem guten Weg. Unsere Hoffnungen ist groß, dass es endlich gerecht wird und wir wieder übers Skispringen reden.“
Gelbe und Rote Karten wie im Fußball
Was er anspricht, sind unterschiedliche Anpassungen, Neuerungen und Verschärfungen, die der Internationale Skiverband Fis beschlossen hat. In den Österreichern Jürgen Winkler und Mathias Hafele, Letzterer ein ehemaliger Skispringer, gibt es auch neues Duo, das hauptverantwortlich für die Kontrolle der Ausrüstung ist. „Mit Mathias Hafele hat die Fis einen Profi geholt, der sich auskennt, der weiß, was er macht, der weiß, wie er das kontrollieren kann“, sagt Horngacher. „Er hat ein paar Grenzen eingezogen und Dinge effektiver gestaltet.“ Eine Personalie, die generell in der Szene sehr gut aufgenommen wurde.
Schon in der vergangenen Saison waren die Anzugkontrollen effizienter gemacht worden, die Springer durften zudem nur noch mit einem einzigen Anzug, der mit einem Identifikationschip versehen war, antreten. Generell wird in diesem Winter nun strenger und engmaschiger vor und nach dem Sprung kontrolliert. Verbessert wurde vor allem die 3D-Vermessung der Sportler; sie ist nun deutlich genauer – ebenso ist der Schnitt der Anzüge noch exakter definiert.
Neu sind auch die Sanktionen. Wer wegen eines Fehlers bei der Ausrüstung für den Wettkampf nicht zugelassen oder nachträglich disqualifiziert wird, erhält eine Gelbe Karte. Ein zweiter Verstoß bedeutet eine Rote Karte und damit eine Sperre für das Wettkampfwochenende. Die jeweilige Nation darf den Springer auch nicht ersetzen, sondern verliert für diesen Zeitraum den Startplatz.
Es wurde also einiges auf den Weg gebracht. Maßnahmen, die zwar auch bei Wellinger die Hoffnung nähren, dass es fairer wird und der Sport wieder in den Mittelpunkt rückt, aber er sieht die Sache auch skeptisch. „Es sind viele Dinge, bei denen wir selbst noch nicht wissen, wie sie ablaufen. Die Gesamtsituation, würde ich sagen, ist eher fragwürdig – mit dem, was passiert ist, und wie die Aufarbeitung war“, sagt er und fragt: „Haben wir die Glaubwürdigkeit dadurch zurückgewonnen?“ Wellinger verzieht als Antwort das Gesicht. Während Horngacher vor allem die Konsequenzen im Reglement und bei der Kontrolle hervorhebt und als positiv bewertet, treiben Wellinger vor allem die Strafen für die Norweger um – und da gibt Horngacher ihm recht. „Damit kann man nicht wahnsinnig zufrieden sein.“
Wellingers Frontflügel-Vergleich
Brevig, Lobben und Livelten sollen – eine offizielle Entscheidung steht noch aus – laut norwegischer Medien für 18 Monate gesperrt und zu einer Geldstrafe von jeweils rund 4300 Euro verurteilt werden. Sie wehren sich, werfen der Fis in einem Schreiben unfaire Behandlung vor, da Ähnliches in der Vergangenheit weniger sanktioniert worden sei, und sagen, dass der Weltverband gewissermaßen die Schuld trage und eine Doppelmoral an den Tag lege. „Das muss man nicht kommentieren“, sagt Horngacher. „Wer neben der Nähmaschine sitzt bei einem offensichtlichen Betrug und anderen die Schuld gibt, lebt in der falschen Welt.“
Lindvik und Forfang erhielten eine Sperre von drei Monaten, die mit Start des Weltcup-Winters bereits abgegolten ist, sowie eine Geldbuße von jeweils rund 2700 Euro – und akzeptierten das. Die WM-Resultate von Trondheim werden ihnen nicht nachträglich aberkannt, ebenso wenig wird ihnen ein Wissen um die Manipulationen vorgeworfen, sondern nur, dass sie die Anzüge und mögliche Anpassungen hätten prüfen müssen.
Wellinger hat von Anfang an klar die Meinung vertreten, dass die Springer die Änderungen, vor allem in dieser Form, bemerkt haben müssen. „Wir sind in einer Sportart, die so hochsensibel ist. Wenn das Formel-1-Team von Max Verstappen den Frontflügel umstellt, dauert es genau eine Runde und er fragt: Was habt ihr gemacht?“, sagt Wellinger und ist nicht gerade gut auf die beiden zu sprechen. „Sie stellen sich hin und wollen nichts bemerkt haben. Ich finde das äußerst fragwürdig.“
„Zum Glück habe ich die beiden wenig gesehen“
Ihm gehe es, betont er, nicht darum, nachträglich den WM-Titel zu erhalten, sondern um den Sport. „Wofür stehen wir?“, fragt er und gibt sich selbst die Antwort: „Für einen fairen Wettkampf. Dafür, dass wir eine geile Sportart betreiben und vor vollen Stadien springen dürfen, dass sich die Leute dafür interessieren. Dass wir lachende Kinder sehen. Wenn wir dann nur über die Anzüge diskutieren, weil Dinge passieren, die eben nicht in der Grauzone, sondern im schwarzen Bereich sind, finde ich es extrem schade für alle, die versuchen, ihr Bestes zu geben mit dem, was im Regelwerk steht, und für die Zuschauer.“
Wellingers Frust ist kaum zu überhören, das Thema dürfte die Szene noch länger beschäftigen „Zum Glück“, sagt er, „habe ich die beiden wenig gesehen, aber ich will sie auch gar nicht sehen.“ Beim Weltcupstart in Lillehammer dürfte sich das kaum vermeiden lassen.
Melanie Haack ist Sport-Redakteurin. Für WELT berichtet sie seit 2011 über olympischen Sport, Ausdauer-Abenteuer sowie über Fitness & Gesundheit. Hier finden Sie alle ihre Artikel.
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