Italien und die Angst vor dem Hattrick des Grauens
Ein 9:0. Oder ein 10:1. Oder ein 11:2. Das bräuchte Italien am Sonntagabend in Mailand gegen Norwegen, um sich in Gruppe I vor den Skandinaviern für die Fußball-Weltmeisterschaft im kommenden Jahr zu qualifizieren. Mit anderen Worten: impossibile, unmöglich.
So sehen es mittlerweile wohl auch die paar Hundert italienischen Fans, die am Donnerstag in Chisinau verfolgten, wie ihre Elf durch Tore in der 88. und 92. Minute ein tristes 2:0 gegen Moldau erwirtschaftete. Norwegen hatte denselben Gegner zuletzt 11:1 besiegt, auch daher der uneinholbare Abstand bei der Tordifferenz. Nun vermissten die Ultras ein ernsthaftes Bemühen ihrer Squadra, das Ergebnis wenigstens in eine ähnliche Richtung zu schrauben, und gaben ihrer Verstimmung ab Mitte der zweiten Hälfte lautstark Ausdruck. Was wiederum Nationaltrainer Gennaro Gattuso auf die Palme brachte. „Eine Schande“ seien die Proteste gewesen, die er da mitanhören musste, so der Commissario Tecnico: „Das akzeptiere ich nicht.“
Die Stimmung könnte also mal wieder besser sein in der morbiden Fußballnation Italien, die sich anschickt, die dritte Weltmeisterschaft in Folge zu verpassen. Nur ein erfolgreiches Play-off im März würde den Hattrick des Grauens noch verhindern. Es ist die Runde, in der die Auswahl vor den vergangenen beiden WM-Turnieren gescheitert ist. Gegen Schweden (in zwei Spielen) sowie Mazedonien gelang nicht mal ein Tor. Beide gehören nun wieder zu den möglichen Gegnern, wenn gleich zwei Partien gegen andere Gruppenzweite der Qualifikation oder Nachrücker aus der Nations League gewonnen werden müssen.
Buffon mit Hattrick für die Tschechische Republik
Diesmal begann die Kampagne im Sommer mit einem 0:3 in Norwegen, welches die verunglückte Ära von Nationaltrainer Luciano Spalletti beendete, das Leistungsvermögen Italiens im vergangenen Jahrzehnt aber durchaus akkurat widerspiegelte. Dass sich 2021 überraschend ein EM-Titel in die Dekadenz schleichen konnte, erscheint längst als Anomalie. Die stolze Geschichte eines viermaligen Weltmeisters äußert sich nur noch in der Erwartungshaltung. „Norwegen sollte Italien 3:0 im Eishockey schlagen können, aber nicht im Fußball“, lästerte Gian Piero Gasperini, Trainer der AS Rom. Doch in der Gegenwart scheint auch Norwegen, das sich zuletzt 2000 für ein großes Turnier qualifizierte, eine Nummer zu groß.
Die Wirklichkeit lautet außerdem, dass Gattuso gar nicht erst versuchte, durch einen Kantersieg in Chisinau noch ein Wunder von Mailand heraufzubeschwören. Der Coach nutzt die Partien dieser Tage lieber für Rotationen und die Play-off-Vorbereitung. Mittelfeldmann Sandro Tonali von Newcastle, einer der wenigen Topspieler aktuell, wird gegen Norwegen aussetzen, weil er von einer Gelbsperre bedroht ist. Federico Chiesa, potenziell Italiens einziger Starangreifer, fehlt so weit auch noch, nach einer langen Verletzungspause lehnte der Liverpool-Stürmer zuletzt mehrmals die Berufung ab.
Es herrscht nicht gerade Überfluss, auch wenn immer mal wieder von hoffnungsvollen Talenten berichtet wird. Ein gewisser Buffon etwa traf diese Woche dreimal in der EM-Qualifikation der U19. Louis Buffon, 17, Sohn der Torwartlegende Gianluigi Buffon, Italiens aktuellem Teammanager. Sohn allerdings auch des tschechischen Models Alena Seredova. Und das ist die schlechte Nachricht: Louis Buffon erzielte seinen Hattrick für die Tschechische Republik.
So müssen halt auch mal zwei späte Tore in Moldau genügen. „Chapeau“, lobte Gattuso sein Team in Chisinau und bemühte einen Gemeinplatz, der für Italien tatsächlich zutrifft: „Es gibt keine einfachen Spiele.“
Es gibt allerdings erstmals 48 Teilnehmer an der WM, was eine Nichtqualifikation noch blamabler machen würde. Aus Europa reisen 16 Teams statt wie früher 13 zum Turnier. Nicht genug, findet Gattuso, der Italiens Bewerbungsakte als hinreichend gefüllt betrachtet – nach je zwei Erfolgen gegen den Weltranglisten-78. Israel, darunter einem vogelwilden 5:4 mit Siegtor in der Nachspielzeit, den 130. Estland und den 156. Moldawien. Vor dem Match dort klagte Gattuso, dass sich aus Südamerika sechs von zehn Teams direkt qualifizieren und ein siebtes ein Play-off spielen darf. „Die Kriterien müssen unbedingt überarbeitet werden.“ Nach dem Abpfiff in Chisinau knöpfte er sich die Afrikaner vor: „1990 und 1994 waren zwei dabei, heutzutage sind es acht.“
Undankbare Fans, fieser Modus
Ja, die guten alten Zeiten. Aus denen kommt auch Gattuso, Weltmeister von 2006. Deshalb kennt er natürlich das klassische italienische Erfolgsgeheimnis, er nannte es schon bei seiner Vorstellung: „die Familie“. Dieses Gemeinschaftsgefühl sei „das Wichtigste, wichtiger als Taktik und Aufstellungen“, und daran arbeitet er seither also.
Äußere Feinde kommen da ganz gelegen. Undankbare Fans, fieser Modus: So etwas schweißt die Familie umso fester zusammen, so war es auch 2006, als Italiens Wagenburg in Duisburg stand und der Calciopoli-Skandal sowie Klischeepamphlete in der deutschen Presse die Azzurri zu weltmeisterlichem Trotz trieben.
Glaube versetzt Berge – niemand personifizierte diesen Mythos wie der Grätscher Gattuso, der alles aus Möglichkeiten machte, die es nicht zu geben schien. „Das einzige Talent, mit dem ich geboren wurde, ist nie aufzugeben“, sagte er zu Spielerzeiten und fügte mit seiner charmanten Selbstironie hinzu: „Manchmal schaue ich auf meine Füße runter und sage zu ihnen: ‚Verdammt, macht mir doch mal eine Freude!‘“
Kann es eine schönere Allegorie geben auf die aktuelle, so unerklärlich talentarme Generation, deren einziger Weltklasse-Akteur im Tor steht? Gianluigi Donnarumma hat sich dem Gattuso-Kult fest verschrieben. „Du spürst Gattuso am Leib, es ist, als ob er in jedem Moment der Partie hinter dir stehen würde“, erklärt der Kapitän. Damit werde es auch gelingen, die Geister der vergangenen Play-offs zu exorzieren. „Es wird nicht ein drittes Mal passieren, es darf nicht passieren“, so der Keeper von Manchester City: „Diese Nazionale wird sich für die WM qualifizieren.“
Dass es neben Gattusos Kampf damals im Mittelfeld schon auch die Kunst von Andrea Pirlo oder Francesco Totti gab, wird auf dem anvisierten Trip zurück in die Zukunft lieber ausgeblendet. Dass er nur zweite Trainerwahl war, auch. Ursprünglich sollte die Erlösung in Claudio Ranieri einem verbrieften Wundermacher des Fußballs aufgetragen werden; einst hatte er den Provinzklub Leicester City zu einer englischen Meisterschaft gecoacht, zuletzt als reaktivierter Rentner die AS Rom aus dem Abstiegskampf ins europäische Geschäft geführt. Doch der 74-Jährige verwies lieber auf einen vereinbarten Beraterjob bei seinem Römer Herzensklub, als sich der Gefahr auszusetzen, Ruf und Seelenfrieden noch mit einem Trauerspiel bei der Nationalelf zu ruinieren.
Zehn Vereine in zwölf Jahren
Nur der furchtlose Gattuso schreckt vor keinem Job zurück: Es ist das Muster einer erratischen Coachingkarriere, die im Schweizer Skandalklub Sion begann, wo er während der Saison zum Spielertrainer befördert wurde, um wenig später aus beiden Funktionen gefeuert zu werden. Auch seither hat er kaum ein Himmelfahrtskommando ausgelassen.
Auf Kreta und in Pisa konnten die Spieler nicht bezahlt werden, Gattuso half persönlich mit aus, an Herz hat es ihm nie gemangelt, an Loyalität zu seinen einfachen Wurzeln als Sohn eines Tischlers aus Kalabrien auch nicht. Die leidenschaftlichen Chaosklubs Palermo, Valencia und Marseille ließen sich aber nicht mal von ihm bändigen, so etwas wie Kontinuität erreichte er mit je anderthalb Jahren Amtszeit nur bei seinem einstigen Spielerklub AC Mailand und in Neapel. Zuletzt trainierte er Hajduk Split. Insgesamt kommt der Trainer Gattuso auf zehn Vereine in zwölf Jahren, wenn man auch Florenz dazuzählt. Dort erfolgte die Trennung bereits vor dem ersten Match.
Ein bedenkliches Omen für Italien ist aber vor allem Gattusos Tendenz, selbst bei guten Ansätzen hauchdünn am Ziel zu scheitern. In Mailand und Neapel fehlte jeweils ein Punkt zum Einzug in die Champions League, in Split wurde auf der Zielgeraden die Meisterschaft verspielt. Den zur Panikbekämpfung vor dem Play-off so wichtigen Gewinnermythos, den Donnarumma beschwört, hat jedenfalls der Trainer Gattuso genau nicht. Und auch an das triste Ende seiner Spielerlaufbahn in der Nationalelf erinnert man besser nicht. Zur WM 2010 nahm ihn Trainer Marcello Lippi noch mal mit, weil er nun mal für jedes Team ein guter Einfluss ist. Doch Titelverteidiger Italien scheiterte unter anderem durch ein 1:1 gegen Neuseeland schon in der Gruppe.
Immerhin, Italien war dabei. Bekommt er das auch wieder hin, hätte Gennaro Gattuso schon eine Menge geleistet.
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