"Dreckige" DFB-Elf lässt ganze Fußballnation hoffen und leiden
Die deutsche Nationalmannschaft gewinnt das enorm wichtige WM-Quali-Spiel gegen Nordirland. In Belfast zeigt die DFB-Elf eine neue Seite: die des dreckigen Fußballs. Und Bundestrainer Julian Nagelsmann ist erleichtert.
Es reicht eine Aktion, um den Windsor Park in Belfast wieder aufzuwecken. Plötzlich sind sie wieder da, die nordirischen Fans. Sie klatschen, sie brüllen, sie erheben sich und skandieren ihren Schlachtruf: "Green White Army". Wieder bejubeln sie jeden Eckball wie eine Heldentat, jeden Einwurf wie ein Tor. Dabei hat man zwischenzeitlich sogar die Handvoll mitgereisten Deutschen und ihre einsame Trommel unter den 17.926 Anwesenden vernehmen können.
Doch eine halbe Stunde vor Abpfiff ist damit endgültig Schluss. Seit Beginn hat das Stadion den DFB-Torwart Oliver Baumann bearbeitet. Ihn ausgebuht, ausgefiffen und geschmäht. Und in der 60. Minute passiert dann die logische Folge: Der gestresste Baumann spielt einen ungenauen Pass auf Joshua Kimmich. Der DFB-Kapitän wiederum will den gegnerischen Einwurf am eigenen Strafraum verhindern, hält den Ball per Grätsche im Spiel. Und plötzlich hat der Außenseiter die große Chance auf den 1:1-Ausgleich.
Keine Sorge: Aus der Situation entsteht nichts Zählbares. Doch sie verändert das restliche Spiel. Zwei Jahre waren die Nordiren in Belfast ungeschlagen gewesen. Nationalcoach Michael O'Neill, sein Team und die Fans hatten eine perfekte Festung geschaffen. Wer diese nordirische Mannschaft in ihrem Nationalstadion gesehen hat, wundert sich nicht mehr darüber. Selten sind Länderspiele so stimmungsvoll, so leidenschaftlich. Es fehlte nicht viel, da hätte diese Serie auch gegen das DFB-Team gehalten. Am Ende ist es Glück, dass die Nagelsmannschaft die 1:0 (1:0)-Führung über die Zeit rettet.
Nicht wirklich ästhetisch
Aber die DFB-Elf übersteht den Sturm in der nordirischen Festung. Nicht schön, aber erfolgreich. Das heben fast alle Protagonisten nach dem Abpfiff hervor. Sie hätten gewusst, dass es ein hartes Spiel werde, sagte etwa der Bundestrainer im Nachhinein. Es birgt schon eine gewisse Ironie (später sogar noch mehr): Eine ganze Woche lang warnte Julian Nagelsmann vor den langen Bällen der Nordiren. Was der Bundestrainer nach eigener Aussage als Kompliment meinte, kam auf der Insel ganz anders an. Doch Nagelsmann sollte recht behalten. Schon früh gibt es eine Kostprobe: Nach einer Viertelstunde fliegt ein langer Ball in Richtung des DFB-Strafraums und findet nach etwas Chaos im deutschen Sechzehner den Weg ins DFB-Tor. Doch der Windsor Park bebt umsonst: Abseits.
Man spürt ein erstes Mal, weshalb im Vorfeld so viel über dieses Stadion, das fußballromantisch mitten in einem Wohnviertel liegt, gesprochen wurde. Und das zu Recht: Die Art und Weise, wie die nordirischen Fans ihr Team anfeuern, ist ganz anders, als man es aus Deutschland bei der Nationalelf kennt. Deutlich emotionaler, deutlich positiver. Was dabei hilft: Die Menschen kamen schon selbstbewusst in den Windsor Park. Zwei nordirische Journalisten scherzten im Pressebereich beim Blick auf die Aufstellung untereinander, dass sie auch schon bessere deutsche Mannschaften gesehen haben. Die Vorfreude war groß, denn auch sie hatten gesehen, wie schwer sich die deutsche Nationalelf bislang in der WM-Qualifikation getan hatte.
Der Bundestrainer schickte dasselbe Team aufs Feld, das drei Tage zuvor mit 4:0 gegen Luxemburg gewonnen hatte. Zwar fehlen immer noch zahlreiche Stammkräfte, aber bei diesen Oktoberspielen gibt es auch Erfreuliches: Im DFB-Werkzeugkasten liegt wieder eines der Lieblingsinstrumente des Bundestrainers. Innenverteidiger Schlotterbeck zeigt vor allem in der ersten Hälfte, warum Nagelsmann ihn so sehr schätzt. Der BVB-Star spielt immer wieder seine Diagonalbälle quer über das Feld - von der linken auf die rechte Seite. Damit zieht die DFB-Elf den engen Verteidigungsblock der Nordiren immerhin etwas auseinander. Und Nagelsmann setzt den langen nordirischen Bällen Leon Goretzka entgegen, der sich in wirklich jedes Kopfballduell wirft - im eigenen Ballbesitz aber offenbar ohne Aufgabe war.
Erinnerungen an die zweite Liga
Und so ist das ganze Spiel eher nichts für Fußball-Ästheten, die hatten an diesem Montagabend hoffentlich etwas Besseres vor. Es spricht Bände, wenn die Protagonisten davon sprechen, dass der Auftritt nicht sonderlich ansprechend, dafür aber kämpferisch war. Im Keller des Windsor Parks verrät Linksverteidiger David Raum, dass er sich an seine Zeit in der zweiten Liga erinnert gefühlt habe. Man kennt es: Das ist der Ort, an dem es häufig nicht nur um die fußballerische Klasse geht, sondern vor allem um Kampf, Wille und Glück. Das sei auch am Montagabend kein schöner Fußball gewesen, räumte Raum ein. "Aber es war wichtig für uns, dass wir diese Spiele gewinnen. Hier ist es nicht angenehm, hier muss man erst mal gewinnen."
Es muss eigentlich nicht weiter beschrieben werden: Spielerisch lief bei beiden Mannschaften wenig zusammen. Das DFB-Team versuchte es immerhin noch etwas, scheiterte aber entweder an sich selbst oder an den Gastgebern. Florian Wirtz war sehr bemüht, aber mindestens genauso unglücklich. Karim Adeyemi warf sich zwar ein ums andere Mal in Eins-gegen-eins-Duelle, ging aber nur selten siegreich hervor.
Das hätte ewig so weitergehen können, wenn nicht die 31. Minute gekommen wäre. Es passiert etwas, was kaum jemand für möglich hielt: Nick Woltemade erzielt (endlich) sein erstes DFB-Tor. Nach einer Ecke von Raum schulterte der 23-Jährige den Ball ins Tor. Achtung, und auch hier wird es jetzt etwas ironisch: Nagelsmann hatte vor dem Spiel vor den Standardqualitäten der Nordiren gewarnt. Und jetzt ist es das DFB-Team, das gleich fünf der acht bisherigen Quali-Tore nach einem ruhenden Ball erzielte. Im Rahmen der Oktoberspiele hatte Nagelsmann nur Standards und die Defensive trainieren lassen. Es sei schon eine "neue Qualität", erklärte der Bundestrainer. "Das kann immer ein Dosenöffner sein - den Gegner mit Waffen zu schlagen, die ihn selbst stark machen." Fast schon im Stile einer Topmannschaft.
Es ist nur der 72. der FIFA-Weltrangliste
Wie fragil der deutsche Vorsprung aber war, zeigt sich immer wieder. Kurz vor der Halbzeit ist es der Nordire Ethan Galbraith, der sich in einer Art Ping-Pong-Duell gegen Kimmich und Jonathan Tah durchsetzt. Den Ball kann er an der Strafraumkante querlegen, aber der Angreifer Jamie Reid verzieht seinen Abschluss gnadenlos. Trotz des kämpferischen Auftritts der Nordiren drängt sich aus DFB-Sicht vor allem immer wieder der Gedanke auf: Was wäre, wenn das jetzt nicht der 72. der FIFA-Weltrangliste wäre? Wenn da nicht Jamie Reid vom Drittligisten FC Stevenage zum Abschluss kommen würde, sondern Kylian Mbappé von Real Madrid?
Auch egal. Kurz nach der Pause hat die DFB-Elf sogar noch die Chance, für die Entscheidung zu sorgen. Der ständig ausgebuhte Wirtz schickt mit einem eleganten Pass noch Adeyemi auf die Reise. Der Dortmunder macht eigentlich alles perfekt: Er kreuzt den Laufweg mit den beiden Verteidigern, die ihn verfolgen, und kommt so frei zum Abschluss. Nur den setzt er neben das Tor. Selbst der britische "Guardian" zeigte sich irritiert: "Ein außergewöhnlicher Fehlschuss von jemandem, der so talentiert ist." Dass er noch er an der Schulter gezupft wurde, erklärt den Fehlschuss vielleicht.
Ein Schrei der Erleichterung
Die Schönheit des Spiels nimmt danach noch weiter ab. Hier ein Foul, da ein Fehlpass, da ein Stoppfehler: Es droht, bis zum Ende so vor sich hinzudümpeln. Doch dann kommt die besagte 60. Minute. Plötzlich erwacht der Windsor Park wieder zum Leben. Auf den Rängen leiden die nordirischen Fans mit. Die wilde Schlussphase, in der nun das DFB-Team beginnt, die Bälle einfach lang nach vorn zu schlagen, verfolgen sie überwiegend stehend. Wer ein Geländer vor sich hat, lehnt darauf. Im Stadion lassen sich auch viele gefaltete Hände beobachten. Das Team von O'Neill rennt mutig an, ist dabei aber etwas planlos.
Am Ende ist es aber Kimmich, dem ein lauter Schrei der Erlösung entgleitet. Der Abpfiff. "Schön, dass wir über so ein Standardtor dann so einen dreckigen Auswärtssieg feiern", freut sich Raum im Anschluss. Schließlich war das ja auch das Problem bei der 0:2-Niederlage in Bratislava.
Am Ende sitzt ein erleichterter Bundestrainer im vollen Presseraum des Windsor Parks und sagt einen Satz, der alles irgendwie erklärt: "Heute war einfach die Tabelle wichtig." Weil, wer Weltmeister werden will (das ist ja immer noch der Anspruch), muss sich halt qualifizieren. Und bisher hat noch kein Team einen WM-Titel in der Quali geholt. Mit dem Sieg teilt sich das DFB-Team die Tabellenspitze nun mit der Slowakei. Am 17. November gibt es das Spiel um den Gruppensieg - der Verlierer muss in die Playoffs.
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