Der Weltmeister, bei dem Größe nicht in Zentimetern gemessen wird
Für Niko Kappel ist die Reise nach Indien zur Weltmeisterschaft der Para-Leichtathleten auch ein bisschen eine ungewisse. Sein Ellenbogen plagt den kleinwüchsigen Kugelstoßer. Doch der 30-Jährige ist Optimist - im Sport und bei seinen weiteren Engagements. Dazu zählt ganz viel Freude in Schulen.
Niko Kappel hantiert täglich mit einer Kugel. Vier Kilogramm schwer, aus Metall. Doch er würde sie gern mal austauschen. Eine Glaskugel müsste her, für den Blick in die Zukunft. "Was ist denn meine Leistung tatsächlich wert? Was ist in 30 Jahren? Was ist in 40 Jahren?" Der Kleinwüchsige hält den Weltrekord im Kugelstoßen. Wenige Athleten seiner Startklasse schaffen es, über 14 Meter zu stoßen, er ist der Einzige, der schon die 15 Meter geknackt hat. 15,07 Meter.
Die Zukunftsfrage ist eine, die den Para-Leichtathleten antreibt. "Lachen die dann über 15 Meter oder beißen die sich dann imm ernoch die Zähne daran aus? Ich weiß es nicht", sagt der 30-Jährige im Gespräch mit ntv.de. "Wir sind die erste Generation, die über eine lange Zeit unter Profibedingungen trainieren darf. Natürlich ist es mein Antrieb, die Latte so hochzuhängen, dass es auch wirklich was wert ist. Und dass wir dann in 30 Jahren zurückschauen und sagen können: 'Okay, irgendwas haben wir richtig gemacht.'"
Ellenbogen hindert ihn in der WM-Vorbereitung
Wobei er auch jetzt bereits einen Haken hinter "richtig gemacht" setzen kann. Kappel hat einen kompletten Paralympics-Medaillensatz zu Hause. Er ist zweimaliger Weltmeister - und damit bei der Weltmeisterschaft der Para-Leichtathleten in Neu-Delhi Titelverteidiger. Er ist auch Weltjahresbester. Kurz: Er ist der große Favorit. Er weiß das. Und was das mit sich bringt. "Ja, die Goldmedaille ist das Ziel. Ja, an die Leistung anzuknüpfen, die ich dieses Jahr schon gezeigt habe, ist auch das Ziel. Und trotzdem ist noch so ein bisschen ein Fragezeichen dahinter", sagt Kappel.
Denn Kniebeugen mit 270 Kilogramm Zusatzgewicht sind ein Rekord dieser Trainingssaison. Auch die Werte für die Sprünge im Schnellkraftbereich sind so gut wie nie. Aber der Ellenbogen ist es nicht. Der plagt den Stuttgarter, freie Gelenkskörper haben sich gebildet, er wird wohl im Herbst nicht um eine Operation herumkommen. Fünf Wochen musste er aufs Kugelstoßen verzichten. Rund 800 Stöße fehlen Kappel in Vorbereitung auf die Titelkämpfe.
Ein Wermutstropfen, doch Kappel kehrt gleich wieder seinen Optimismus hervor: "Aber ich würde nicht hinfahren, wenn ich nicht der festen Überzeugung wäre, dass wir das hinkriegen." Zuletzt hatte er wieder Trainingseinheiten, mit denen er sehr glücklich war, die Schmerzen sind aktuell aushaltbar.
Mit 21 Jahren schon Paralympics-Sieger
Was dann die Konkurrenz - vor allem der Usbeke Bobirjon Omonov, der vergangenes Jahr vor Kappel Paralympics-Gold gewann - beim Wettkampf am 30. September liefert, kann er natürlich nicht beeinflussen. Doch die eigene Zielsetzung ist klar: die Grenzen immer weiter ausreizen. Nicht nur bei der WM, sondern auch danach. Kappel blickt schon auf die Paralympics 2028 in Los Angeles voraus: "Ich bin der festen Überzeugung, dass ich in meiner sportlichen Laufbahn noch weiter stoßen werde als 15,07 Meter. Ich bin sicher, dass das möglich ist. Deshalb wäre ich schon enttäuscht, wenn es mir nicht gelingen würde." Mit Anfang 30 sieht er sich im besten Kugelstoßer-Alter, da soll noch lange nicht Schluss sein, den größten Druck macht er sich selbst.
Dabei hat er die Grenzen bereits verschoben. Mit 13,57 Metern gewann Kappel bei den Paralympics in Rio de Janeiro 2016 Gold - der Vorsprung von einem Zentimeter reichte. Der damals gerade mal 21-Jährige war plötzlich ein Star. Alles fing an, als Kappel als Teenager vor dem Fernseher saß und bei den Paralympics 2008 Mathias Mester sah. Bis dahin hatte Kappel Fußball gespielt, im Team war er der einzige Kleinwüchsige. Inklusion war damals gar kein Thema, sie wurde einfach gelebt. Er war natürlich kein Kopfballungeheuer, erzählte er mal, aber gerade bei Kontern konnte er seine Schnelligkeit ausspielen.
Dann sah er Mester, dann sah er, was für ihn möglich ist. Er lernte den paralympischen Sport kennen, sah die Chance, sich auf Topebene zu messen. Vielleicht hätte er sich aufgrund seiner Vorgeschichte für den Sprint entschieden, so Kappel. Doch die Wahl hatte er gar nicht erst. Weil es für Kleinwüchsige nur Kugelstoßen und Speerwerfen gibt. Anders führt kein Weg zu den Paralympics. In Los Angeles steht gar nur noch das Kugelstoßen auf dem Programm.
Kappel sieht es mit gemischten Gefühlen, mehr Auswahl wäre immer gut, aber: "Ich glaube, dass es schon richtig ist, dass bei uns nicht so viel angeboten wird wie im olympischen Sport, weil wir die einzelnen Startklassen haben. Und es gibt natürlich nicht so viele Kleinwüchsige auf der Welt wie nicht Kleinwüchsige." Je mehr aufgesplittet wird, desto weniger groß wären die Konkurrenzfelder. "So eine paralympische Goldmedaille soll eine gewisse Wertigkeit haben." Dass er beim Kugelstoßen gelandet ist - Jackpot. "Mit dem Training kann ich mich sehr, sehr gut identifizieren und es macht mir großen Spaß." Und, fügt er mit einer großen Portion Understatement hinzu, "es scheint ja auch ganz gut funktioniert zu haben."
"Inklusion kann man nicht erzwingen"
Der Leistungssport ist aber nicht das Einzige, was Kappel antreibt. Er lebt Inklusion vor, trainiert auch in einer Gruppe mit nicht-olympischen Athleten. Und möchte aktiv Hürden in der Gesellschaft abbauen. "Inklusion passiert nicht am bürokratischen Tisch, sondern über Begegnungen. Inklusion kann man nicht erzwingen, sondern sie muss einfach passieren. Leute müssen aufeinander zugehen", ist er überzeugt.
Dass Humor dabei immer eine Lösung ist, zeigt er selbst auch in den Sozialen Medien. Mehr als 247.000 Follower hat er bei Tiktok, zusätzlich mehr als 30.000 bei Instagram. Da lässt er sich mit einer Spur aus Kinderriegeln in den Kofferraum eines Autos locken, da stolpert er, landet in einer Tasche, die plötzlich winzig klein in den Händen eines Nicht-Kleinwüchsigen aussieht. Sein Kumpel Mathias Mester treibt derlei Scherze gern auf die Spitze, Kappel teilt den Humor.
Prangert aber auch deutlich an, wenn der angebliche Humor keiner ist, so wie bei Luke Mockridge während der Paralympics im vergangenen Jahr. Der mit seiner verhöhnenden Aussage über die Wettkämpfe für reichlich Unverständnis sorgte. Er diffamierte die Wettkämpfe, sprach vom Schwimmen, wo nur der, der überlebt, siegt. "Luke Mockridge und seine beiden Mitstreiter haben Pech, dass Menschenverachtung, Ignoranz und Geschmacklosigkeit nicht paralympisch sind. Sonst hätten sie diese tollen Spiele als Athleten erleben können und wären heiße Gold-Kandidaten gewesen", sagte er damals der dpa.
Kinder "sind direkter und ehrlicher"
Wie es besser geht, das lebt er vor - und teilt es mit anderen. Kappel ist gefragter Gesprächspartner bei dem Thema, er hält Vorträge - und geht auch ganz spielerisch an die Sache heran. Mit dem Inklusionsmobil der Aktion Mensch und des Deutschen Behindertensportverbands geht er in Schulen.
Einfach mal ausprobieren, was für andere der Alltag ist. Brillen, die verschiedene Seheinschränkungen simulieren. Rollstühle und Prothesen zum Ausprobieren. Begeistert erzählt er von einem Tag an einer Mainzer Schule, in der Neuntklässler ganz ungefiltert ausprobieren, ob sie mit einer solchen Brille noch die Torwand treffen. Kinder "sind direkter und ehrlicher. Die probieren halt aus. Das ist mega spannend", sagt er begeistert.
Es ist eine Arbeit, die den gelernten Bankkaufmann und das lokalpolitisch aktive CDU-Mitglied, so begeistert, dass man keine Sorge haben muss, er würde nach der Sportkarriere in ein Loch fallen. "Das treibt mich echt mega an und da freue ich mich schon auf den Tag, wenn meine Karriere beendet ist. Ich freue mich nicht darauf, wenn ich mal keinen Leistungssport mehr mache. Aber wenn es mal soweit ist, freue ich mich zum Beispiel darauf, in solche Projekte noch mehr Energie reinzugeben."
Bis es soweit ist, bleibt Kappel im Hauptberuf mit der Metallkugel beschäftigt. Damit ihm selbst ein Blick in eine Glaskugel nicht um den Schlaf bringen kann.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke