Nach DFB-Debakel: Wie radikal reagiert Julian Nagelsmann?
Die deutschen Fußballer stehen unter Druck. Sportlich wegen des Fehlstarts in der WM-Quali, aber noch mehr emotional. Die gute Stimmung um das Team droht ins Gegenteil zu kippen. Bundestrainer Julian Nagelsmann spürt ebenfalls Gegenwind.
Es wurden schlimme Vergleiche bemüht. Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft hat am Donnerstagabend in Bratislava (0:2 gegen die Slowakei) gespielt, wie auf den letzten bleiernen Metern der Joachim-Löw-Ära. Wie zum Ende der Amtszeit des mittlerweile wieder durch seine Erfolge mit dem FC Barcelona rehabilitierten Hansi Flick. Wer sich erinnert (oder erinnern möchte), der weiß: Das war grau(gans)sam. In rasender Geschwindigkeit erlebt derzeit Julian Nagelsmann, wie schnell man vom deutschen Hoffnungsträger zum Krisencoach abstürzen kann, der kurz davorsteht, in heiße Debatten um seine Tauglichkeit als Bundestrainer verwickelt zu werden.
Und deswegen wird dem zweiten Spiel in der WM-Qualifikation gegen Nordirland am Sonntagabend (20.45 Uhr bei RTL und im Liveticker bei ntv.de) eine überraschend große Bedeutung zugeschoben. Aus der mal erwarteten Pflichtaufgabe wird fast schon ein Do-or-die-Spiel um Gruppenplatz eins. Wie absurd das für eine Mannschaft klingt, die im kommenden Sommer Weltmeister werden will. Nagelsmann hat das Ziel ausgerufen, die Spieler können sich damit identifizieren. Oder konnten? Seit diesem Donnerstag steht plötzlich alles infrage.
Alles möglich nach dem Bratislava-Schock
Wie folgsam ist das Aufgebot Nagelsmann noch? Erreicht er die Spieler mit seinen Ideen? Fußball ist ein wildes Geschäft. Im Sommer 2024 verzauberte der junge Bundestrainer das ganze Land mit seinem Team. Im Herbst 2025 sieht er sich mit einer historischen Niederlage und düstersten Szenarien konfrontiert. Ihm fliegt gerade alles um die Ohren: Aufstellungen, Systeme, Ansagen. Die Expertenwelt drischt schonungslos auf ihn ein, sein Kapitän fürchtet sich davor, dass die gute Stimmung gänzlich absäuft: "Es geht jetzt nicht darum, dass jetzt der eine auf den anderen guckt, dass wir uns gegenseitig beschuldigen. Wir alle sitzen in einem Boot", sagte Joshua Kimmich. "Was uns nicht passieren darf, ist, dass wir uns jetzt selbst zerlegen und diesen Glauben und diese Überzeugung in unsere Qualität und diese Gruppe verlieren."
Kimmich ist alarmiert, als Anführer, aber auch aus individueller Motivation. Wie kaum ein anderer im Team steht er für das drohende Scheitern einer einst hoch gewetteten DFB-Generation. Kimmich will unbedingt Weltmeister werden, wie Nagelsmann. Kimmich nimmt dafür jede Rolle im Team an. Derzeit ist es die in der Zentrale. Aber wie lange noch? Der Bundestrainer hatte nach dem völlig unerwarteten Schock in Bratislava alles offen gelassen, auch eine Blitz-Rückversetzung des Bayern-Stars auf die rechte Seite. Dort hatte sich der junge Nnamdi Collins zum ersten Mal versucht und war überfordert. Die ewige Baustelle bleibt eine ewige Baustelle. Und Kimmich die Lösung?
Oder Maxi Mittelstädt? Der Linksverteidiger könnte einen Seitenwechsel verordnet bekommen, David Raum würde dann wohl reinrücken ins Team oder gar ganz aus der Startelf fliegen. Nagelsmann hatte einigermaßen patzig angesagt, dass so etwas, ein Seitenwechsel, für einen Profi kein Problem sein sollte. Auch Jonathan Tah könnte aus dem Zentrum rücken, dann würde wohl Robin Koch an der Seite des ebenfalls zuletzt überforderten Abwehrchefs Antonio Rüdiger seine Chance bekommen. Derweil mochte der Coach gar nichts zulassen, was sich mit Qualität oder Taktik beschäftigt. Er verzog sich auf die Emotionalität, die er leidenschaftlich vorlebte.
"Dürfen uns jetzt nicht selbst zerfleischen"
Ob diese Erzählung trägt? Manchmal wirkt es, als würde Nagelsmann das Spiel zu sehr durchdenken. Als würde er die Mannschaft mit seinen Ideen überfordern, für deren Implementierung er zu wenig Zeit hat. Dann ist der 38-Jährige plötzlich wieder Vereinstrainer und nicht der DFB-Coach, der mit ihm durchgeht. Dabei war es ihm doch als unumgängliche Konsequenz aus dem tristen Herbst 2023, als der deutsche Fußball zuletzt in Schutt und Asche lag, wichtig, dass sich die Mannschaft einspielt, dass sich Rollen finden. Klar, Ausfälle sorgen für Veränderungen. Aber derzeit wirkt es eher so, als wäre Nagelsmann auf seiner Traumreise zum WM-Titel vom Weg abgekommen, ohne einen Kompass zurück aus dem Taktik-Dschungel.
Die WM-Qualifikation, das hatte er angekündigt, hat eigentlich drei Missionen. Erstens die Starterlaubnis für das Mega-Turnier auf der anderen Seite des großen Teichs (eigentlich obligatorisch, jetzt irgendwie nicht mehr). Nagelsmann wollte eine Selbstverständlichkeit entwickeln, die Spiele nicht nur gewinnen, sondern so dominant auftreten, dass beim Publikum keine Fragen mehr bleiben. Und, zu guter Letzt, störte ihn die Berechenbarkeit der DFB-Elf. Seit der EM habe man (in Abwandlungen) taktisch immer das Gleiche gemacht. Diese Monotonie der Herangehensweise wollte er aufbrechen. Doch vor den osteuropäischen, rustikalen Betonhochhäusern in Bratislava dämmerte einem, dass diese DFB-Elf für die ganz hohe, feine Spielarchitektur (noch) nicht gemacht ist.
Der vernünftige Weg führt also wieder fünf Schritte zurück. Der besorgte Torwart Oliver Baumann mahnte, sich erstmal wieder zu verzwergen, auf das Wesentliche: "Wir dürfen uns jetzt nicht selbst zerfleischen. Wir müssen die Basics erstmal auf den Platz bringen." Er habe, so sagte Nagelsmann, "Vertrauen in die Mannschaft, aber es muss einfach jeder begreifen, dass wir so ein Spiel angehen müssen - auch wenn es total dumm klingt - wie ein Champions-League-Halbfinale". Zweifel, dass sie das können, hat er nicht. Die Spieler seien "ja alles Profis bei sehr guten, teilweise überragend großen Klubs. Ich glaube schon, dass die jetzt spüren, was es bedarf". Es liegt an ihnen. Und am Bundestrainer. Er ist nicht nur für Aufstellung und Taktik verantwortlich, auch für Motivation und Gier.
Wer kann für Kreativität sorgen?
Und diese Kompetenz wird nun unter das Brennglas gelegt. Einst hieß es, er habe die Kabine beim FC Bayern verloren. Klar, das Machtgefüge beim deutschen Rekordmeister ist deutlich komplizierter als bei der DFB-Elf. Aber: Wiederholt sich das bei der Nationalmannschaft? Und welche Rolle spielt der Abgang von Assistent Sandro Wagner, der ja auch nicht ohne Nebengeräusche ablief. War der neue Augsburg-Coach für die emotionale Arbeit so wichtig, dass dieser Teil nun verwaist ist, von seinem weniger extrovertierten Nachfolger Benjamin Hübner nicht aufgefangen werden kann?
Aber die Probleme wirken größer als die Suche nach dem Feuer. Defensiv passte nichts zusammen, und auch "vor der Kiste" war nicht viel los, wie Kimmich laut klagte. Das 220-Millionen-Euro-Duo Florian Wirtz und Nick Woltemade brachte nahezu nichts Gefährliches zusammen, Serge Gnabry verletzte sich, kann aber wohl gegen Nordirland mitwirken. Dazu kommen die nicht zu kompensierenden Ausfälle von Jamal Musiala und Kai Havertz. Wer sorgt für die kreativen Momente, wenn Wirtz nicht in bester Form ist, wenn Musiala fehlt? Leon Goretzka schaffte das gegen die Slowakei nicht. Muss er raus? Rückt er wieder an die Seite von Kimmich ins defensive Zentrum? Angelo Stiller wäre dann erster Kandidat für die Bank. Als Zehner könnte sich der Mainzer Nadiem Amiri versuchen, im DFB-Team konnte er aber noch nicht nachweisen, dass er eine nachhaltige Alternative ist.
Ruhe oder Panik?
Was er zumindest nicht ist: ein emotionaler Anführer. Den hat sich Bundestrainer mit Robert Andrich ins Boot geholt. Wenn Nagelsmann einen frischen Input ins Team bringen will, wäre der Sechser eine Option. Der vom Bundestrainer geschätzte "Worker", Kampfsau hätte man früher zu diesem deutschen Phänotyp gesagt, wäre wieder en vogue. In der Zentrale tummelt sich Qualität, die anderswo fehlt. Wie Kimmich, der immer dort am meisten vermisst wird, wo er gerade nicht ist. Es ist zum Mäusemelken für den Bundestrainer. Und das vor dem Spiel, das für Wochen die Richtung der DFB-Debatten vorgibt: Ruhe oder Panik.
Ein Erfolg gegen die selbstbewussten Nordiren bleibt trotz aller Gemengelagen eine Selbstverständlichkeit. Und eher blöd aus Nagelsmanns Sicht: Er überstrahlt auf keinen Fall den Abend in Bratislava, das war nicht nur ein Ausrutscher. Was wäre nur los, wenn es auch noch in Köln schiefgeht? Dann droht etwas, was der deutsche Fußball in keiner Welt akzeptieren könnte: eine WM ohne das DFB-Team. Nur 1930, als der DFB absagte, und 1950, nach dem Zweiten Weltkrieg, als die FIFA die Verbündeten Deutschland und Japan ausschloss, fuhr Deutschland nicht zu den interkontinentalen Meisterschaften. Und vier Niederlagen in Serie gab es zuletzt 1912/13. Drei sind es aktuell.
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