„Der BVB steht für Kampf und Arbeit. Ich kann mir ein Urteil erlauben“
Niko Kovac hat Borussia Dortmund aus einer schier aussichtslosen Situation heraus doch noch in die Champions League geführt – vor allem auch, weil er die Fitness der Mannschaft erheblich verbessert hat. Die eigentliche Herausforderung, so Kovac im Gespräch mit WELT AM SONNTAG im BVB-Trainingslager in Österreich, beginnt aber erst in der kommenden Bundesliga-Saison, die in zwei Wochen startet.
WELT AM SONNTAG: Welchen Preis wird ihre Mannschaft für die Klub-WM bezahlen müssen?
Niko Kovac: Diese WM für Vereinsmannschaften war tatsächlich etwas völlig Neues, aber es war nicht für alle Spieler Neuland. Unsere Nationalspieler sind es ja gewohnt, in der Sommerpause eine WM oder eine EM zu spielen. Es ist natürlich eine Herausforderung, eine Saisonvorbereitung zu absolvieren, nachdem die komplette Mannschaft gerade erst ein langes Turnier gespielt hat. Doch ich denke, dass wir die Situation meistern werden.
WAMS: Was macht Sie so optimistisch? Ihre Spieler konnten erst in den Urlaub gehen, als andere Klubs bereits mit der Vorbereitung begonnen haben.
Kovac: Es stimmt, wir sind erst knapp zwei Wochen in der Vorbereitung und stehen bereits eine Woche vor dem ersten Pflichtspiel (DFB-Pokal; d.Red.). Allerdings hatten die Spieler unmittelbar nach dem Ende der vergangenen Saison ein paar Tage frei und hatten nach der Klub-WM drei Wochen Urlaub. Da haben sie bereits einige Übungen und Läufe gemacht, sodass wir jetzt schon den Fokus auf das Detail legen können. Das ist auch nötig, denn es bleibt nicht mehr viel Zeit. Wir dürfen nicht schludern. Tatsächlich bin ich sehr zufrieden, wie ernsthaft die Jungs die Aufgabe angehen. Aber natürlich werden wir auch Teile der Vorbereitung noch in die Saison hineinziehen müssen. Anders geht es nicht.
WAMS: Rudi Völler prophezeit, dass der BVB und die Bayern wegen der Auswirkungen der Klub-WM gefühlt mit fünf Punkten Rückstand in die Saison gehen werden. Hat er recht?
Kovac: Das ist eine Hypothese, die wir zu widerlegen versuchen – und die Bayern, davon gehe ich aus, auch. Wir haben eine gute, professionelle Mannschaft. Die Jungs wissen, worauf es ankommt. Gerade wir als Borussia Dortmund brauchen eine gute, bessere Vorrunde als in den letzten Jahren.
WAMS: Auch ohne die Klub-WM hat in den vergangenen Jahren die Anzahl von Verletzungen bei allen Bundesligisten stark zugenommen, besonders bei Bayern und Dortmund. Die Folge von zu vielen Spielen?
Kovac: Ich bin überzeugt, dass eine gute Körperlichkeit, eine gute Fitness, entscheidend ist, um bestimmte Verletzungen zu vermeiden oder zumindest zu reduzieren. Es gibt einen ganz klaren Zusammenhang zwischen dem Fitnessstand eines Spielers und seiner Anfälligkeit für muskuläre Verletzungen. Deshalb werden Trainingsteuerung, Monitoring und Prophylaxe immer wichtiger. Du brauchst Spezialisten, die besten Leute, die sich um diese Themenbereiche kümmern. Was das angeht, haben wir in den vergangenen Monaten gute Arbeit gemacht.
WAMS: Es gab viele Veränderungen im Betreuerstab. Zwei neue Athletiktrainer sind gekommen, ein neuer Ernährungsberater und eine Schlafberaterin. Hatte der BVB da Nachholbedarf?
Kovac: Ich habe eine gewisse Erwartungshaltung, weil ich aus meiner eigenen Profizeit noch sehr genau weiß, wann ich fit war und wann nicht. Ich hatte sehr unterschiedliche Trainer, die aber alle sehr viel Wert auf Fitness gelegt haben. Daher würde ich behaupten, dass ich weiß, wie die Spieler in eine gute Verfassung zu bekommen sind.
WAMS: Erklären Sie uns diese Philosophie bitte ...
Kovac: Eine gute Fitness ist die Grundlage für alles. Das ist die Basis, die dir hilft, Verletzungen zu minimieren und ohne Verschleißerscheinungen durch schwierige Saisonphasen zu gehen. Wir versuchen mit dem neuen Staff, das Maximum aus der Mannschaft herauszuholen. Dabei sind wir auf einem guten Weg – aber noch längst nicht da, wo wir sein wollen. Der Körper braucht immer sechs bis acht Wochen, bis das Training Wirkung zeigt. Wir werden also auch noch einige Wochen nach dem Saisonstart brauchen.
WAMS: Sie haben die Mannschaft im Februar auf Platz elf übernommen und sie noch in die Champions League geführt. Das hätten viele dem BVB nicht mehr zugetraut. Warum hat es trotzdem geklappt?
Kovac: Da kamen viele Punkte zusammen. Eine entscheidende Phase begann, nachdem wir Anfang März zu Hause gegen Augsburg verloren hatten. Da waren die Spieler schon sehr geknickt. Und ich auch. Zu diesem Zeitpunkt hatte es seit meinem Antritt drei Niederlagen aus fünf Spielen gegeben. Doch danach hat sich einiges stabilisiert. Ein Schlüssel war dann, als wir den FC Barcelona im Rückspiel im Viertelfinale der Champions League am 15. April 3:1 geschlagen haben. Da haben wir uns und allen gezeigt, dass wir sehr wohl die Fähigkeit haben, um auch auf diesem Niveau mitzuhalten. Das hat uns beflügelt – und die Jungs sind dann sehr entschlossen diesen Weg zu Ende gegangen.
WAMS: Es war die gleiche Mannschaft, die nur wenige Wochen zuvor noch ausgepfiffen und teilweise verspottet worden war ...
Kovac: Wir waren in einer erheblichen Drucksituation. Aber Druck muss nicht immer hemmend sein, er kann auch Kräfte freisetzen. Doch entscheidend war, dass wir die Mannschaft technisch, taktisch und auch körperlich nach vorn gebracht haben.
WAMS: Wie war das mitten im laufenden Spielbetrieb möglich? Das gleicht ja fast schon einer Operation am offenen Herzen.
Kovac: Es war schon sehr schwierig, die Balance zu finden zwischen der Belastung durch die Spiele auf der einen Seite und der Arbeit im Training zur Verbesserung an technischen und taktischen Elementen sowie der Fitness auf der anderen. Wir mussten ja vermeiden, dass die Jungs ihre Frische verlieren. Aber wir haben den Spagat geschafft, weil es die Spieler gut angenommen haben.
WAMS: Als es nicht gut lief, haben Sie auffällig viel mit positiven Verstärkungen gearbeitet und versucht, die Spieler starkzureden. Weil das Selbstvertrauen am Boden war?
Kovac: Das ist ja ganz normal. Wenn es nicht läuft, fragen die Menschen nach Gründen. Unsere Spieler haben viel gegrübelt. In solchen Phasen kann es hilfreich sein, wenn sie an ihre Stärken, an ihre Qualitäten erinnert werden.
WAMS: Sie haben beispielsweise Julian Brandt sogar mit Florian Wirtz und Jamal Musiala verglichen. Haben Sie das ernst gemeint?
Kovac: Ich weiß, welchen Wert Julian Brandt für uns hat – und den hat er am Ende der Saison auch wieder unter Beweis gestellt. Wenn er das spielt, was er kann, dann schießt er Tore und bereitet noch mehr Tore vor. Dann ist Jule von seinem Wert her für uns der Wirtz, dann ist er unser Musiala. Natürlich stehen die beiden anderen derzeit in der Wertigkeit über ihm. Aber Julian gehört auf seiner Position für mich zu den besten drei Spielern in der Bundesliga. Dazu stehe ich weiter.
WAMS: Sie haben auch gesagt, dass Niklas Süle ein Spieler für die WM 2026 sei. Davon ist er jedoch noch weit entfernt.
Kovac: Ich kenne Niklas schon aus unserer Zeit in München. Ich weiß genau, was er kann. Und es ist ja so: Die Spieler lesen und hören gerade in einer Krise nur negative Dinge. Der Mensch lebt aber von positiven Nachrichten. Nach denen sehnen wir uns doch alle. Deshalb habe ich meine Spieler nicht nur intern, sondern auch öffentlich gelobt.
WAMS: Der Mannschaft wurde selbst in den ersten Wochen ihrer Tätigkeit die Mentalität abgesprochen. Hat der BVB vielleicht tatsächlich ein größeres Mentalitätsproblem als andere Teams?
Kovac: Der BVB hat häufiger ein Problem gehabt, konstant gute Leistungen abzurufen. Ich habe mich gar nicht so viel mit der Vergangenheit beschäftigt. Ich habe mich eher gefragt: Wie schaffen wir es, konstanter zu werden? Und meiner Auffassung nach sind dabei gerade die einfachen Dinge hilfreich. Ich halte nichts davon, den Fußball zu verkomplizieren. Mein Motto lautet: KISS.
WAMS: KISS?
Kovac: „Keep it simple, stupid.“
WAMS: Halte es so einfach wie möglich.
Kovac: Genau. Die Vorgaben, die wir der Mannschaft gegeben haben, waren klar und einfach, sowohl bei eigenem Ballbesitz als auch bei Ballbesitz des Gegners. Und wenn jeder genau weiß, was er zu tun hat, ist es leichter, wieder in die Spur zu kommen.
WAMS: Weil sich die Mannschaft mit der KISS-Spielweise wohler fühlt?
Kovac: Ja, und weil der BVB für Leidenschaft, Energie und Aggressivität steht. Sicher auch für Spektakel – vor allem aber für Kampf und Arbeit. Ich kann mir ein Urteil erlauben, ich habe früher sehr oft gegen den BVB gespielt. Und diese Attribute haben wir als Trainerteam den Jungs vorgelebt. Wir waren früh da und sind spät gegangen. In der Zeit dazwischen haben wir den Jungs den nötigen Input gegeben.
WAMS: Wie kann es gelingen, diesen Spirit auch mit in die neue Spielzeit zu nehmen?
Kovac: Wir dürfen uns auf keinen Fall in Sicherheit wiegen und sagen: Okay, es wird schon automatisch so weiterlaufen. Denn es wird nichts von allein gehen. Das habe ich den Jungs schon am ersten Trainingstag gesagt. Vor allem: Wir müssen sofort da sein! Wir haben nur drei Wochen Vorbereitungszeit, da zählt jede Minute, die wir auf dem Trainingsplatz stehen. Aber ich bin bis hierhin wirklich sehr angetan davon, wie die Spieler dies umsetzen. So muss es weitergehen. Dafür werde ich sorgen.
WAMS: Emre Can bleibt Kapitän, obwohl er bei Teilen der Fans umstritten ist. Warum haben Sie sich nicht für Nico Schlotterbeck entschieden?
Kovac: Zunächst einmal: Wir haben sehr viele erfahrene Spieler. Das ist gut. Denn die wissen, wie man sich in schwierigen Situationen verhalten muss. Das ist für mich als Trainer immer sehr wichtig. Zum Kapitän: Ich habe nichts verändert, weil ich überhaupt keinen Anlass sehe. Natürlich ist Nico Schlotterbeck ein sehr wichtiger Spieler, auch wenn er im Moment leider verletzt ist. Doch zum einen ist es gerade für einen Spieler in solch einer Situation wichtig, nicht zu sehr in der Öffentlichkeit zu stehen, zum Beispiel im Rahmen einer Debatte über die Kapitänsbinde. Zum anderen: Es wäre einfach nicht fair Emre Can gegenüber. Er hat sich für die Mannschaft aufgeopfert, war bis zu seiner Verletzung uneingeschränkter Stammspieler. Er ist ein guter Kapitän und ein vorbildlicher Leader.
WAMS: Mit Jobe Bellingham ist ein selbstbewusster junger Spieler gekommen, von dem viele sagen: Er kann auch ein Führungsspieler werden. Sie auch?
Kovac: Über allem steht die fußballerische Qualität. Deshalb haben wir ihn geholt. Aber Jobe ist auch, obwohl er erst 19 ist, bereits eine Persönlichkeit. Er ist für sein Alter bemerkenswert professionell. Er steht voll im Leben und weiß, was er will. Solche Spieler sind für uns wichtig, denn sie sind auch Anstifter – im Hinblick auf eine gute, leistungsfördernde Atmosphäre. Er wird die anderen noch mehr pushen und dadurch unsere Qualität erhöhen. Konkurrenz belebt das Geschäft.
WAMS: Hält er den Vergleich mit seinem älteren Bruder Jude, dem Superstar von Real Madrid, aus? Sie müssten sich ja gut auskennen, was die Vergleiche mit älteren Brüdern angeht.
Kovac: (lacht und dreht sich zu seinem zwei Jahre jüngeren Bruder und Co-Trainer Robert Kovac um, der einige Meter entfernt sitzt) Ich habe immer schon gesagt, die jüngeren Brüder sind meistens die besseren. (Robert Kovac winkt lachend ab) Im Ernst: Ich habe nur Positives von Jude Bellingham gehört – und einiges davon sehe ich bei Jobe auch. Fakt ist aber: Jeder hat seine eigene Persönlichkeit. Wir haben einen richtig guten Spieler dazu bekommen, der – wenn er die Entwicklung nimmt, die wir ihm zutrauen – auch ein richtiger Klasse-Spieler werden kann. Und dabei werden wir ihn nach Kräften unterstützen.
WAMS: Die BVB-Fans träumen von der Meisterschaft. Ist dies im Hinblick auf die nächste Zukunft realistisch?
Kovac: Ich kann den Traum nachvollziehen. Aber ich muss realistisch sein. Und realistisch betrachtet haben wir die vergangene Saison mit 25 Punkten Rückstand auf die Bayern und mit 12 Punkten Rückstand auf Leverkusen beendet. Wir haben es mit Ach und Krach noch in die Champions League geschafft. Das heißt nicht, dass wir keine Ambitionen haben, aber wir müssen weiterhin an unserer Stabilität arbeiten. Es geht für uns darum, den Abstand zu verkleinern. Die Bayern hatten einen Schnitt von 2,41 Punkten – wir von 1,67. Das sind Welten. Natürlich würden wir uns nicht dagegen wehren, oben mitzumischen. Aber wir sind aktuell kein Topfavorit auf die Meisterschaft. Ein realistischeres Ziel wäre da schon der Gewinn des DFB-Pokals – und ein lohnenswertes dazu.
WAMS: Es gibt noch eine weitere Sehnsucht beim BVB: Endlich wieder Kontinuität auf dem Trainerposten zu haben. Haben die Probleme der vergangenen Jahre auch damit zu tun, dass es die nicht gab?
Kovac: Es hat ganz allgemein Vorteile, wenn ein Verein und ein Trainer länger zusammenarbeiten. Denn wenn permanent gewechselt wird, kommt es zu Reibungsverlusten. Die Spieler müssen sich immer wieder auf neue Systeme, neue Herangehensweisen einstellen. Das ist nicht einfach. Ein Klub sollte eine klare Linie entwickeln: Wofür will ein Verein stehen? Wie soll die Mannschaft spielen? Danach sollte man dann die Spieler und die Trainer scouten. Um etwas zu entwickeln, braucht es Zeit. Doch leider gibt es im modernen Fußball kaum Zeit.
WAMS: Mit anderen Worten: Der BVB wäre gut beraten, Ihren zum Ende der kommenden Saison auslaufenden Vertrag zu verlängern?
Kovac: (lacht) Das haben Sie jetzt gesagt. Aber im Ernst: Mein Trainerteam und ich fühlen uns hier wirklich sehr wohl. Ich denke auch, dass wir schon etwas Gutes geschafft haben. Doch entscheidend wird die kommende Saison sein – und dann werden wir sehen, was die Zukunft bringt.
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