Die Zeit des deutschen Hinterherschwimmens ist vorbei
Es gab Zeiten, da verließen deutsche Schwimmer mit wenigen Ausnahmen die Bühne bei Großereignissen mit hängenden Köpfen. Viele schon nach Vorlauf oder Halbfinale, viele – und das war oft das Erschreckende – weit hinter ihren Möglichkeiten. Finalplätze? Bestzeiten? Selten. Medaillen? Wenige bis keine. Versunken im Mittelmaß, wenn überhaupt. Von der einstigen Schwimmnation war – bis auf Einzelkönner wie Brustschwimmer Marco Koch – nicht mehr viel übrig.
Die Situation hat sich deutlich gewandelt. Zu einer der Topnationen im Becken reicht es zwar noch nicht, aber der Aufschwung ist sichtbar. Die gerade beendete WM in Singapur war die erfolgreichste für Deutschland seit 2009, als Britta Steffen und Paul Biedermann jeweils zweimal Gold gewannen. Es folgten zwei Olympische Spiele komplett ohne Medaille (2012 und 2016). Die Bilanz jetzt bei der WM: zwei Titel, zweimal Silber, einmal Bronze. Dazu die drei Goldmedaillen von Florian Wellbrock im Freiwasser sowie der dortige Staffelsieg.
„So eine WM haben wir seit Jahren nicht erlebt“, sagt der zweimalige WM-Zweite Sven Schwarz (23) im WELT-Gespräch: „Das bringt gleich im ersten Jahr nach Olympia viel Aufwind. Und das ist wichtig für den deutschen Schwimmsport.“ Er meint neben den Medaillen auch die 18 Finalteilnahmen. „Es ist ganz wichtig, dass wir wieder in die Finals kommen“, so Schwarz: „Wir haben ein junges Team. Wenn wir den Schwung mitnehmen, sind wir auf einem guten Weg. Wir schauen definitiv positiv in die Zukunft.“
Eine Mannschaft, nicht nur ein, zwei Einzel
Hinter den nüchternen Zahlen steckt mehr: Eine Mannschaft, die sich gegenseitig unterstützt und die auf den langen Strecken der Männer auch in der Breite Weltspitze ist. Mit Wellbrock (27) ist der zuletzt gestrauchelte Vorzeigeschwimmer und Routinier zurück bei alter Stärke. Mit Olympiasieger, Weltrekordhalter und jetzt auch Weltmeister Lukas Märtens (23) gibt es einen Erfolgsgaranten und internationalen Star. In Überraschungsweltmeisterin Anna Elendt (23), die mit ihrer Freude alle ansteckte, eine neue Sympathieträgerin, die wie Schwarz ein Versprechen für die Zukunft ist. Und: Dahinter herrscht keine Leere.
Die Medaillenhoffnungen von Lucas Matzerath (25), Melvin Imoudu (26), Angelina Köhler (24) und Isabel Gose (23) erfüllten sich zwar nicht, aber sie sorgten in den Finals für Spannung, verpassten teils knapp das Edelmetall und werden sich revanchieren wollen. Und Luca Nik Armbruster (23) stellte über die Sprintdistanz von 50 Meter Schmetterling, die 2028 in Los Angeles erstmals olympisch sein wird, erst im Halbfinale, dann im Endlauf einen deutschen Rekord auf.
Zur Wahrheit gehört zwar auch: Im nacholympischen Jahr gönnen sich manche Sportler längere Pausen, gehen es langsamer an. „Aber“, sagt Schwarz, „letztendlich fährt jeder zur WM, um zu gewinnen. Und es waren fast alle da.“ Und schließlich hatten sich auch einige der Deutschen eine längere Pause genommen – wie die Olympia-Vierten Köhler und Imoudu. Fest steht: Es bleibt viel zu tun, was vor allem mit Blick auf die Staffeln deutlich wird, aber der deutsche Schwimmsport ist weiter im Aufwind. Warum ist das so?
Der Faktor Florian Wellbrock: Es begann mit EM-Gold 2018 in Glasgow. Als sich Wellbrock 2019 dann zum Doppel-Weltmeister mit Gold im Freiwasser und im Becken krönte, hatte Deutschland wieder einen Vorzeigeschwimmer, einen Siegertypen. Und der Magdeburger legte nach, mit weiteren WM-Medaillen und Olympiagold 2021. „Letztendlich haben wir alle davon profitiert, dass Flo diese Medaillen geholt und Schwimmen wieder populärer gemacht hat“, sagt Schwarz: „Das gab dem deutschen Schwimmen und uns einen Aufwind – und daraus ist das Ganze erwachsen.“
Dass Wellbrock nach dem Paris-Debakel jetzt in Singapur ein fulminantes Comeback gelang, dürfte seine Wirkung ebenfalls nicht verfehlt haben. Die Beckenschwimmer kamen eine gute Woche später an – und trafen auf Wellbrock, der Historisches geschafft hatte und auch im Becken antrat. So etwas hebt ein ganzes Team, genau wie der WM-Titel von Märtens im ersten Finale der Titelkämpfe.
Neues Selbstbewusstsein: „Ich weiß, was ich kann. Wenn ich in Topform bin, ist es schwer mich zu schlagen“, sagt Märtens. Und dennoch macht er sich keinen überbordenden Druck. Sein Credo: „Ich muss gar nichts.“ Märtens beherrscht die Balance. Schwarz ebenfalls. Keine Angst vor großen Namen, den er nun selbst hat. Mit Blick auf die Mannschaft sagt Schwarz mit Nachdruck: „Wir brauchen uns nicht zu verstecken.“ Worte, die von einem neu gewachsenen Selbstbewusstsein zeugen.
Individuelle Faktoren: Anna Elendt und Schwarz mögen für viele Sportinteressierte neue Gesichter sein – für Schwimmfans sind sie es nicht. Ihre Erfolge in Singapur sind logische Konsequenzen. Bei Schwarz ist es eine kontinuierliche Entwicklung über viele Jahre, die ihn 2024 bereits ins Olympia-Finale über 800 Meter Freistil brachte, das er als Fünfter beendete. Im Frühling schwamm er Europarekord.
Elendt dominiert schon lange auf nationaler Ebene die Bruststrecken, hält die Rekorde über 50, 100 und 200 Meter. Schon lange gilt sie als Hoffnungsträgerin auf Podestplätze bei internationalen Meisterschaften. Gelungen war ihr dies bis jetzt allerdings nur einmal – mit WM-Silber 2022. Mit dem Ende ihres Studiums in den USA, sagt sei, sei Druck abgefallen, sie sei freier. Und sie trainiere nun anders.
Starke Trainingsgruppen: Wellbrock, Märtens, Schwarz und der Olympia-Zweite im Freiwasser Oliver Klemet – über die langen Freistilstrecken ist die nationale Konkurrenz groß. Alle zählen zur Weltspitze. Und interner Konkurrenzkampf sorgt für immer bessere Leistungen.
Par excellence wird das in Magdeburg gelebt. Trainer Bernd Berkhahn hat den Standort zum Herzstück des deutschen Schwimmens gemacht – vor allem aber nicht nur über die langen Strecken. Bis 2024 unterstützt von Norbert Warnatzsch, einst Trainer von Franziska van Almsick und Britta Steffen. Schwarz trainiert in Hannover, aber Wellbrock, Märtens, Klemet und früher auch Rob Muffels messen sich täglich in Magdeburg. Märtens sah lange Zeit zu Wellbrock auf, orientierte sich an ihm. Auch die Langstrecken-Asse Isabel Gose, Märtens-Schwester Leonie, die niederländische Olympiasiegerin Sharon van Rouwendaal und die Australierin Moesha Johnson, Weltmeisterin und Olympia-Zweite, trainieren in Magdeburg. Erfolg zieht Erfolg an. Weitere Athleten folgten.
Gute Trainer: Da ist zum einen Bundestrainer Berkhahn, der mit seiner Magdeburger Trainingsgruppe auch international für Aufsehen erregt. Aber es gibt auch andere – und neue Leute mit neuen Impulsen. Wie Stephan Wittke, seit 2024 Bundestrainer Sprint. In Heidelberg verstärkt der Spanier Santiago Marquez Fuentes seit 2024 das Team und verhalf Luca Armbruster zu seinen nationalen Rekorden in Singapur. Zudem betreute er die in den USA lebende Elendt und stellte mit ihr kurzerhand den Tauchzug um.
Nicht neu dabei, aber innovativ und prägend: Lasse Frank. Seit 2019 in Berlin im Amt, spielt der einst erfolgreiche Hauptstützpunkt wieder eine wichtigere Rolle. Frank bezieht Experten mit ein, u.a. Spezialisten für Diagnostik, Athletik und Technik.
Sven Schwarz arbeitet bereits seit 2019 in Hannover mit Landestrainer Emil Guliyev zusammen, der einst für Aserbaidschan selbst bei Olympia an den Start ging. Gemeinsam haben sie den Sprung aus dem Jugend- in den Erwachsenenbereich vorbildhaft geschafft. „Da ist ein großes Vertrauen da“, sagt Schwarz.
Mentale Arbeit: Der Deutsche Schwimm-Verband arbeitet mit Sportpsychologen. Franka Weber hat dabei seit diesem Jahr Unterstützung von Imornefe Bowes, der als Teampsychologe dabei ist und auch in Singapur vor Ort war. Verschiedene Charaktere brauchen unterschiedliche Typen.
Der Niederländer Bowes kommt aus dem Beachvolleyball, war auch Bundestrainer in Deutschland und trainierte dann seine Ehefrau: Olympiasiegerin Laura Ludwig. Er bringt neue Impulse.
Leben im Ausland: Ins Ausland zu gehen, muss nicht für jeden zum Erfolg führen, aber es ist eine Möglichkeit. Unter anderem für Josha Salchow, der dort zum Top-Sprinter heranwuchs, und für Elendt war das College-System der richtige Weg. Dort sind Sport und Uni einfacher zu kombinieren, zudem bieten die internationalen Trainingsgruppen den täglichen Wettkampf. Elendt bleibt auch nach dem Studium dort. Hin und wieder trainiert sie mit der Bowman-Gruppe um Frankreichs Olympiasieger Leon Marchand und der zweimaligen Goldmeidallengewinnerin Regan Smith. Bob Bowman ist der Erfolgscoach von Schwimmlegende Michael Phelps.
Talentförderung: Wichtig ist, die Athleten aus dem Jugendbereich in die offene Klasse heranzuführen. Das gelingt wieder. Auch, weil Deutschland an der Spitze Vorbilder hat, an denen sie sich orientieren können und sich im Gegenzug auch um den Nachwuchs kümmern. So entstehen Dynamiken. Lise Seidel, mit 18 die Jüngste im WM-Team, schaffte es in Singapur mit persönlicher Bestzeit und Altersklassenrekord ins Finale (200 Meter Rücken). In Maya Werner, Vincent Passek, Nina Jazy, Julianna Dora Bocska und Jarno Bäschnitt gaben weitere junge Athleten ihr WM-Debüt – zu Beginn des neuen Olympiazyklus ein wichtiger Schritt.
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