Die Vorfreude auf den Wettkampf Sonntag in Dresden ist groß. Olympiasiegerin Yemisi Ogunleye will bei den deutschen Meisterschaften ihren Titel verteidigen und zeigen, dass sie die vier Kilogramm schwere Eisenkugel weiter als bisher stoßen kann. Die 20-Meter-Marke übertraf sie – anders als vor einem Jahr bei den Sommerspielen in Paris – in dieser Freiluftsaison noch nicht.

Durch eine Mandelentzündung und Probleme mit der Achillessehne verlief zuletzt der Trainingsalltag des neuen deutschen Leichtathletikstars nicht immer wunschgemäß. Doch aus Rückschlägen gestärkt hervorzugehen, gehört zu den besonderen Fähigkeiten der 26-Jährigen. So sei sie für die im September stattfindenden Weltmeisterschaften in Tokio zuversichtlich.

WELT AM SONNTAG: Frau Ogunleye, Sie besitzen eine Goldmedaille, aber auch eine goldene Stimme. Wann haben Sie zuletzt Gospels gesungen?

Yemisi Ogunleye: Erst gestern. Ich habe mir am Abend meine Gitarre gegriffen, ein bisschen gejammt und dabei ein paar Töne von mir gegeben. Obwohl, das stimmt ja nicht. Während des Trainings läuft bei mir auch diese Musik, sodass ich da häufig intuitiv leise mit einstimme, so wie heute.

WAMS: Was Ihnen stets ein zusätzliches Lächeln ins Gesicht zaubert.

Ogunleye: Das stimmt. Zugleich ist das aber auch mein Kraftquell. Songs wie „Goodbye Yesterday“ (von der christlichen Band Elevation Rhythm, die Redaktion) geben mir einfach eine gewisse Lockerheit, ein echtes Wohlfühlgefühl. Dadurch löse ich mich auch von dem Druck, der natürlich da ist, vor allem von außen, und durch den Olympiasieg noch mehr als vorher. Auch ich bin keine Maschine, die jeden Tag die gleichen Spitzenleistungen bringen kann. Auch künftig werde ich meine Wettkämpfe angehen wie die Olympischen Spiele, mich bestmöglich vorbereiten, nur auf mich schauen und hoffen, dass mein Körper an dem Tag, wo es zählt, eine gute Leistung abruft.

WAMS: Mit dem Olympiasieg gelang Ihnen der größte Triumph eines Sportlers. Können Sie dadurch nicht ohnehin gelassener sein?

Ogunleye: Definitiv gehe ich jetzt mit einem anderen Gefühl in den Ring. Ja, ich habe das Ultimative erreicht, trotzdem habe ich noch Ziele, möchte ich mich weiterentwickeln, meine Drehstoßtechnik perfektionieren, auf einem konstant hohen Niveau performen – und das noch über Jahre. Wobei ich noch sagen möchte, dass der Wettkampf in Paris immer der Wettkampf meines Lebens bleiben wird. Dass, was am 9. August im Stadion vor 80.000 Zuschauern abging, ist nicht zu toppen, egal, welche Erfolge ich noch erziele. An dem Tag passte einfach alles. Wenn ich daran denke, bekomme ich immer Gänsehaut.

WAMS: Das ist rund ein Jahr her. Wie oft schauten Sie sich seither Ihren letzten Versuch an, als Sie die Kugel auf genau 20 Meter katapultierten und gewannen?

Ogunleye: Bestimmt über 1000-mal. (lacht) Entweder sah ich ihn mir allein oder mit meiner Trainerin an, oder ich habe ihn durch die vielen Ehrungen und Events zu sehen bekommen. Ganz ehrlich: Ich kann mich daran nicht sattsehen, auch wegen der unbeschreiblichen Emotionen im weiten Stadionrund. Ich habe alle Zuschauer abgeholt, denn im Innenraum passierte nichts weiter, außer, dass mein letzter Stoß anstand. Ein Sonnenstrahl sorgte auch noch für das perfekte Licht in der Arena. Es war göttlich.

WAMS: Sie klingen sehr emotional. Wie präsent ist denn der Olympiasieg in Ihrem täglichen Leben?

Ogunleye: Wenn ich in den ersten Wochen morgens aufwachte, fragte ich mich häufig: „Yemi, bist du wirklich Olympiasiegerin?“ Jetzt sind es die noch immer vielen Medienanfragen, die den Erfolg fortwährend wachhalten. Bewusst lebe ich den Olympiasieg mit meiner Trainerin. Wenn wir essen gehen, stoßen wir mit einem Glas Spezi darauf an. Wir feiern den Moment immer wieder. Als Leistungssportler macht man das viel zu wenig, weil man von einem Wettkampf zum nächsten, von einer Meisterschaft zur anderen hetzt, dabei ist es für eine gesunde Seele so wichtig, auch innezuhalten und zu feiern. Wir werden das Ritual bis zum Ende meiner Karriere beibehalten.

WAMS: Was unterscheidet die heutige Yemisi Ogunleye noch von jener vor dem Olympiasieg?

Ogunleye: Die jetzige Yemi traut sich mehr zu, ist viel mutiger, zuversichtlicher und auch geduldiger.

WAMS: Und auch Millionärin?

Ogunleye: Es ist witzig, dass Sie das fragen.

WAMS: Warum?

Ogunleye: Mein Papa (stammt aus Nigeria, die Redaktion) rief mich mal an und meinte, die nigerianische Community behaupte, durch den Olympiasieg wäre ich jetzt Millionärin. Es wäre schön, aber das bin ich nicht. Dafür müsste ich noch sehr, sehr lange sehr weit stoßen. Ja, es haben sich Türen bei Sponsoren geöffnet, wie bei Skoda als Markenbotschafterin, wodurch ich im Juli erstmals bei einer Etappe der Tour de France dabei sein durfte. Das Olympiagold zahlte sich schon aus, aber längst nicht so, wie es viele vermuten. Außerdem bin ich ein Mensch, der mit wenig auskommt, denn so bin ich aufgewachsen.

WAMS: In Ihrer Kindheit hatten Sie wegen Ihrer Hautfarbe auch viel Leid zu ertragen. Wegen ständiger Diskriminierungen sprachen Sie „von dunklen Gedanken“. Gott habe dann zu Ihnen gesprochen. Seither sind Sie sehr gläubig, und sie sagten, er habe sie auch auf dem Weg zum Olympiasieg begleitet. Hat sich dadurch für Sie ein ganz besonderer Traum erfüllt?

Ogunleye: Während der Sommerspiele in Tokio saß ich beim Hochsprung der Frauen vor dem Fernseher, als die Australierin Nicola Olyslagers die Silbermedaille gewann. Sie erzählte danach ihre Lebensgeschichte, wie sie als 16-Jährige zum Christentum kam und ihr Glauben zur Quelle ihrer Inspiration wurde. Das bewegte mich derart, dass ich in dem Moment dachte, diese Chance möchte ich auch einmal haben, um meine Geschichte jüngeren Athleten zu vermitteln und ihnen damit Vorbild zu sein. Vor Paris war ich nie groß in den Medien, saß immer auf der Ersatzbank so wie die meisten Athleten. Der Weg nach oben ist verdammt schwer, und dass ich jetzt viele Bühnen habe, um zu erzählen, wie man trotz widrigster Umstände Außergewöhnliches erreichen kann, ist definitiv der größte Traum, der in Erfüllung gegangen ist.

WAMS: Und was war das prägendste Erlebnis seit dem Olympiasieg?

Ogunleye: Die Willkommensfeier daheim bei meiner Familie, als ich meiner Oma Gertrud, die 84 Jahre alt ist, die Goldmedaille umhängen konnte. Es war so rührend, da kamen nicht nur ihr die Tränen.

WAMS: Gab es auch ein Ereignis in den vergangenen zwölf Monaten, was Sie aus Ihrem Gedächtnis am liebsten streichen würden?

Ogunleye: Durchaus. Ich werde von vielen Menschen auf der Straße oder beim Einkaufen erkannt und angesprochen, was mich freut und wogegen ich nichts habe. Ich höre den Menschen sehr gern zu, mache gern Selfies und gebe Autogramme. Gelegentlich gibt es aber Menschen, die sehr aufdringlich sind, keine Grenzen kennen, auf die ich sie dann hinweisen muss. Inzwischen habe ich es gelernt, Nein zu sagen.

WAMS: Bei der Anfrage, ob Sie bei der Tour de France die 15. Etappe von Muret nach Carcassonne miterleben wollen, sagten Sie Ihrem Autosponsor gleich zu. Sind Sie auch selbst aufs Rad gestiegen?

Ogunleye: Nur kurz, vielleicht einen Kilometer zum Spaß. Ich befinde mich mitten in meiner Wettkampfsaison, da passt so ein Ritt über die Berge nicht.

WAMS: Was haben Sie für sich selbst von der Tour mitgenommen?

Ogunleye: Die sagenhafte Begeisterung der Menschen hat mich extrem bewegt. So eine Leidenschaft erlebte ich bei noch keiner Sportveranstaltung. Wenn man bedenkt, dass Zehntausende Menschen aus aller Welt fünf, sechs, sieben Stunden und mehr vor Beginn des eigentlichen Events schon am Straßenrand standen und darauf warteten, den Radrennern oder ihrem Liebling für nur wenige Sekunden zuzujubeln, verschlägt es einem fast die Sprache. Es ist ein Paradebeispiel, wie die immense Kraft des Sports Menschen friedlich zusammenbringt. Diese Hingabe wünschte ich mir auch für die Leichtathletik. Und dann beeindruckte mich natürlich, was die Radrenner täglich leisten – Wahnsinn. Ich verneige mich vor ihnen, dazu wäre ich nicht in der Lage.

WAMS: Wohin wird Gott Sie in Ihrer sportlichen Karriere noch führen?

Ogunleye: Das kann ich nicht sagen. Ob zu weiteren Medaillengewinnen, durch Höhen und Tiefen? Keine Ahnung. Aber was es auch immer sein wird, es wird gut werden. Lassen Sie mich bitte noch eines sagen.

WAMS: Bitte.

Ogunleye: Leider kannte ich Laura Dahlmeier nicht persönlich, doch als ich erfuhr, was dieser großartigen Sportlerin widerfahren ist, war ich regelrecht erschüttert. In solchen furchtbaren Schicksalsmomenten relativiert sich alles, da wird einem unweigerlich bewusst, was im Leben wirklich wichtig ist. Ich wünsche ihren Eltern und Angehörigen von Herzen alle Kraft und Stärke, um diesen tragischen Verlust verarbeiten zu können.

Das ist Yemisi Ogunleye

Die Tochter eines Nigerianers und einer Deutschen wurde am 3. Oktober 1998 in Germersheim in der Pfalz geboren und wuchs im wenige Kilometer entfernten Bellheim auf. Als Kind turnte sie. Mit 13 Jahren wechselte sie als Mehrkämpferin zur Leichtathletik. Nach zwei Kreuzbandrissen im rechten Knie und einer Sportpause begann sie beim MTG Mannheim unter Trainerin Iris Manke-Reimers mit dem Kugelstoßen. Vor fünf Jahren stellte sie ihre Technik vom Angleiten auf das Drehstoßen um. Nach Platz zehn beim Weltmeisterschaftsdebüt 2023 und Rang zwei im Vorjahr bei der Hallen-WM gewann sie fünf Monate später Olympiagold in Paris. Die Sportsoldatin und studierte Sonderpädagogin ist streng gläubig, singt im Gospelchor und arbeitet in der Gemeinde mit Jugendlichen.

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