Kaum eine Etappe ohne bitteres Ende: Die erste Woche der Tour de France ist geprägt von schweren Stürzen und prominenten Ausfällen – die Sicherheitsfrage rückt stärker in den Fokus. Die Rennjury reagiert mit Gelben Karten. Doch ist das sinnvoll?

Tour de France 2025 Etappenkarte

Mitten in einem Zwischensprint auf der 3. Etappe der Tour de France geschieht das Unvermeidliche. Bei rund 60 Stundenkilometern geraten zwei Fahrer aneinander - Sekundenbruchteile, in denen sich alles entscheidet. Jasper Philipsen, einer der großen Favoriten auf das Grüne Trikot, stürzt schwer. Der belgische Hochgeschwindigkeits-Fahrer schlägt auf dem Asphalt auf, rutscht mehrere Meter über die Straße, bleibt schließlich am Streckenrand liegen. Das Trikot zerrissen, der Rücken blutig, das Schlüsselbein und mindestens eine Rippe gebrochen.

Schlimme Bilder lieferte auch die 7. Etappe. Joao Almeida, der wichtigste Berghelfer von Superstar Tadej Pogacar, stürzte schwer. Er war in der hektischen Schlussphase wie auch einige andere Fahrer zu Fall gekommen. Aber anders als Philipsen hatte er Glück. Wie Adrian Rotunno, Teamarzt von UAE Emirates, erklärte, ist der Portugiese "ohne ernsthafte Verletzungen" davongekommen. Almeida habe "einen unkomplizierten Rippenbruch auf der linken Seite" erlitten sowie "einige schwere Schürfwunden am Körper" davongetragen, aber keine Gehirnerschütterung. "Wir werden ihn weiterhin sorgfältig beobachten", erklärte Rotunno.

Für Philipsen dagegen ist alles vorbei. Und das nahm seine Rivalen emotional schwer mit. Im Ziel ist es sein großer Konkurrent Biniam Girmay, der die Dramatik der Szene in Worte fasst: "Es sah schlimm aus, wie er da lag. In Situationen wie solchen rast mein Puls mit 300 Schlägen pro Minute." Es ist ein Moment, der das gesamte Fahrerfeld aufschreckt - und ein Sinnbild ist für die erste Tour-Woche: brutal, nervös, überladen mit Risiko. Philipsens Aus fällt schwer ins Gewicht, sportlich wie emotional. Und doch steht nach solchen Stürzen nicht die Analyse der Ursachen im Mittelpunkt, sondern etwas anderes: die Suche nach einem Schuldigen.

Gelbe Karte klärt Schuldfrage

Statt dem "Warum?" rückt also das "Wer?" in den Vordergrund - besonders bei den Rennkommissären. Wer war beteiligt? Wer hat die Linie nicht gehalten? Wer bekommt eine Gelbe Karte?

In Philipsens Fall steckt hinter dem "Wer" der Fahrer Bryan Coquard. Sichtlich betroffen und mit Tränen in den Augen entschuldigt sich der Cofidis-Profi direkt nach der Etappe: "Ich habe das Gleichgewicht verloren und versucht das auszubalancieren. Es tut mir unendlich leid, dass Philipsen dadurch zu Fall kam", stammelte der geschockte Franzose. Sprint-König Philipsen muss die Tour nach schwerem Crash abbrechen

Doch seine Reue rettet ihn nicht vor einer Strafe. Als Verursacher bekommt Coquard von den Rennkommissaren die Gelbe Karte, 13 Punkte Abzug in der Sprintwertung und eine Geldstrafe von 500 Schweizer Franken. Mit zehn Punkten liegt der Franzose nun abgeschlagen auf dem 47. Platz. Angeführt wird die Wertung von Jonathan Milan (Lidl-Trek), der mit 92 Punkten das Grüne Trikot trägt. Allerdings stehen in den kommenden Tagen mehrere anspruchsvolle Bergetappen an - in der Punktewertung kann sich also noch einiges verschieben. Eine zweite Gelbe Karte würde für Coquard dennoch das sofortige Aus bei der Tour de France bedeuten.

"Wahnsinniges Handicap"

Das einstige deutsche Radidol Jan Ullrich stuft den Druck als Vorbestrafter als "ein wahnsinniges Handicap" ein und auch Podcast-Kollege Rick Zabel sieht das ähnlich: "Das ist ein ganz schöner Schuss vor den Bug wenn du weißt: Ich darf jetzt keinen Ellenbogen mehr groß ausfahren."

Seit Januar setzt der Radsportweltverband Union Cycliste Internationale (UCI) auf das Gelbe-Karten-System, um für mehr Sicherheit im Peloton zu sorgen. An über 230 Renntagen - bei Männern und Frauen - haben die Kommissare das Instrument bereits eingesetzt. Bis zum Start der Tour verteilten sie 159 Verwarnungen, 42 Prozent davon gingen direkt an Fahrer. In weiteren Fällen richteten sich die Sanktionen gegen Teammitarbeiter - etwa Sportliche Leiter oder Betreuer - die für rund 37 Prozent der Verstöße verantwortlich waren. Die übrigen 21 Prozent entfielen auf Medienfahrzeuge, Begleitmotorräder oder andere Teilnehmer, die den Rennverlauf ebenfalls beeinflussen können.

Was als Maßnahme zur Prävention gedacht ist, macht es den Offiziellen besonders leicht, die Verantwortung bei Stürzen einzelnen Profis zuzuschreiben - schnell, öffentlich und oft, ohne die tieferliegenden Ursachen zu hinterfragen.

Schnell verurteilt - das Netz als zweiter Schiedsrichter

In der Praxis hat sich das System längst zu mehr als nur einem sportlichen Disziplinarwerkzeug entwickelt. Wer eine Gelbe Karte kassiert, steht nicht nur im Strafprotokoll - sondern oft auch binnen Minuten im Zentrum von Schuldzuweisungen im Netz. Nach Philipsens Sturz auf der dritten Etappe war das deutlich zu beobachten. In Windeseile wurde das Geschehen in den sozialen Netzwerken analysiert, diskutiert und bewertet. Plötzlich ging es nicht mehr nur um einen Unfall. Es ging um Schuld: Coquard habe dort nichts verloren, dürfe als Außenseiter gar nicht um Punkte mitsprinten, solle disqualifiziert werden, diskutieren Fans schnell.

Zumindest eins sind die Online-Urteile allzu oft: voreilig und unwissend. Denn Sprints auf der Straße sind kaum objektiv zu bewerten. Sie verlaufen chaotisch, unter hohem Tempo, auf wechselndem Terrain und oft ohne klare Sichtachsen. In solchen Situationen eine eindeutige Schuld zuzuweisen, ist schwierig - auch für die Jury. Stürze im Profiradsport lassen sich selten auf eine einzelne Ursache zurückführen. Oft entstehen sie aus der Dynamik des Rennens selbst - aus dem Zusammenspiel von Tempo, Taktik und der engen Konkurrenz im Feld. Selbst regelkonformes Verhalten schützt nicht immer davor, in kritische Situationen verwickelt zu werden.

Strafen allein schaffen keine Sicherheit

Das Gelbe-Karten-System ist Teil eines Maßnahmenpakets, das auf mehr Sicherheit im Fahrerfeld abzielt. Es ersetzt jedoch nicht die Auseinandersetzung mit den Ursachen für Stürze. In aktuellen Diskussionen stehen daher zunehmend auch strukturelle Aspekte im Mittelpunkt - etwa die Frage, an welchen Punkten im Rennen besondere Risiken entstehen und wie sich diese durch organisatorische oder technische Maßnahmen besser kontrollieren lassen.

Laut UCI-Unfallstatistik beruhen die meisten Stürze auf Fahrfehlern - die jedoch in vielen Fällen wiederum auf äußere Faktoren zurückzuführen sind. Häufig liegt der Auslöser dabei in der von den Veranstaltern zu verantwortenden Streckenführung selbst: zu schmale Fahrbahnen, enge Kurven, unübersichtliche Ortsdurchfahrten oder riskant platzierte Sprintabschnitte.

Ein besonders drastisches Beispiel war der schwere Sturz von Fabio Jakobsen bei der Polen-Rundfahrt 2020. Der Niederländer prallte beim Zielsprint in eine Absperrung und lag danach im künstlichen Koma. Tour-de-France-Etappensieger Simon Geschke kritisierte damals deutlich: "Jedes Jahr frage ich mich, warum die Organisatoren denken, das sei eine gute Idee. Massensprints sind gefährlich genug, man braucht kein Bergab-Finale mit 80 km/h."

Beim Sturz von Jasper Philipsen spielt genau das eine Rolle. Der Zwischensprint war an einer leicht abschüssigen Stelle platziert - mit entsprechend hohem Tempo. "Es wurde deshalb zu einem Hochgeschwindigkeitssprint. Besser ist es immer, Zwischensprints an leicht bergauf gehenden Stellen einzurichten", erklärt Aike Visbeek, Sportlicher Leiter des Teams Intermarché-Wanty.

Tourstars äußern Kritik

Selbst die Stars des Fahrerfelds stellen zunehmend infrage, ob Sicherheitsaspekte ausreichend berücksichtigt werden. Vingegaard bringt es drastisch auf den Punkt: "Ehrlich gesagt, wenn meine Tochter oder mein Sohn fragen, ob sie Radrennen fahren können, lautet die Antwort ‚Nein‘. So wie der Sport heute ist, ist er zu gefährlich." Auch Mathieu van der Poel sieht Handlungsbedarf, insbesondere bei der Startliste. "Weniger Teams und weniger Fahrer sind das Wichtigste, was wir für unsere Sicherheit tun können", betont der Ex-Weltmeister.

Gutes Beispiel Kilometer-Regel

Vor dem Hintergrund, dass Radprofis sich selbst nicht mehr sicher in ihrem Sport fühlen, gewinnen Maßnahmen an Bedeutung, die gezielt darauf abzielen, gefährliche Rennsituationen zu entschärfen. Eine solche Änderung, die bereits Wirkung zeigt, ist die sogenannte Kilometerregelung - eine Anpassung, die speziell auf hektische Etappenfinals abzielt.

Die Regel besagt: Kommt es in den letzten fünf Kilometern einer Flachetappe zu einem Sturz oder einem technischem Defekt, verliert der betroffene Fahrer keine Zeit in der Gesamtwertung. Er wird mit der Zeit des Hauptfeldes gewertet - unabhängig davon, wann er letztlich über die Ziellinie rollt. Das soll vor allem Gesamtklassement-Fahrer schützen, die im Finale nichts mit dem Sprint zu tun haben, aber durch Stürze oder Positionskämpfe mitgerissen werden könnten. Früher galt diese Regelung nur für die letzten drei Kilometer, doch zur Saison 2024 wurde sie auf fünf Kilometer ausgeweitet.

Die Ausweitung dieser Regelung zeigt, dass präventive Anpassungen durchaus Wirkung entfalten können - ohne den Charakter des Rennens zu verändern. Sie entlastet das Peloton genau dort, wo es am gefährlichsten wird, und sie ist ein Beispiel dafür, wie sich Sicherheit und sportlicher Wettbewerb durchaus miteinander vereinbaren lassen.

Tour de Suisse als Vorbild

Ein weiterer Ansatz, der in Zukunft für mehr Sicherheit sorgen könnte, stammt aus der Schweiz. Bei der diesjährigen Tour de Suisse haben die Veranstalter erstmals eine mobile Sicherheitszentrale eingerichtet, die das Renngeschehen in Echtzeit überwacht und bei Stürzen schneller reagieren kann, vor allem auf unübersichtlichen oder nur schwach frequentierten Streckenabschnitten. Genau dort, wo im Ernstfall jede Sekunde zählt: wie beim tödlichen Sturz von Gino Mäder am Albulapass oder beim Unfall der Schweizerin Muriel Furrer bei der WM 2024, der sich ebenfalls abseits der Zuschauerbereiche ereignete.

Unterstützt wird das System durch GPS-Tracker, die an den Rädern der Fahrer angebracht sind und eine exakte Ortung in jeder Rennsituation ermöglichen. Auch bei den anstehenden Weltmeisterschaften in Ruanda wird dieses System zum Einsatz kommen.

Ansätze wie die Sicherheitszentrale in Kombination mit GPS-Tracking setzen früher an - dort, wo Risiken entstehen. Im Unterschied zum Gelbe-Karten-System greifen sie nicht erst dann, wenn der Sturz bereits passiert ist. Aber ob ein System dieser Art auch bei einem Zwischenfall wie dem von Jasper Philipsen etwas verändert hätte?

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