Zerbrochen und repariert: Die tragische Geschichte von Wunderkind Amanda Anisimova
Amanda Anisimova gilt einst als Teenager-Wunderkind, dann zerbricht sie an tragischen Schicksalsschlägen. Die US-Amerikanerin gibt den Tennissport auf und kämpft für ihre psychische Gesundheit. Vor einem Jahr ist sie noch die Nummer 191 der Welt, heute steht sie im Finale von Wimbledon.
"Das ist ehrlich gesagt mehr, als ich mir jemals hätte wünschen können", stammelt eine ungläubige Amanda Anisimova ins Mikrofon. "Ich glaube nicht, dass ich das heute noch realisieren kann. Es ist verrückt. Ich kann das Ergebnis wirklich nicht glauben."
Die US-Amerikanerin ist überglücklich ob ihres großen Triumphs. Doch diese Szene spielt sich vor fast genau sechs Jahren ab, als die 17-jährige und ungesetzte Anisimova im Viertelfinale der French Open Simona Halep schlägt, die 2017 und 2014 dort im Endspiel stand. Und nicht nach Anisimovas Finaleinzug in Wimbledon gegen die Weltranglistenerste Aryna Sabalenka am vergangenen Donnerstag.
Dennoch fallen die Reaktionen nach den Siegen ähnlich aus. Fassungslosigkeit. Ungläubigkeit. Riesige Freude. "Um ehrlich zu sein, wenn du mir gesagt hättest, dass ich im Finale von Wimbledon stehen würde, hätte ich dir nicht geglaubt. Vor allem nicht so früh", sagt Anisimova diesmal. In einer wahren Hitzeschlacht und in einem echten Krimi ringt die heute 23-Jährige die Top-Favoritin mit 6:4, 4:6, 6:4 nieder. Dass es zu dem großen Erfolg und zum ersten Grand-Slam-Endspiel kommt, erwartet nach den letzten Jahren niemand. "Es war ein Jahr voller Wendungen. Im Finale zu stehen, ist einfach unbeschreiblich, ehrlich", fügt Anisimova in London hinzu.
Riesige Erwartungen an "Wunderkind" Anisimova
Der damalige Teenager hat in den Jahren seit der Pariser Überraschung viel durchgemacht und zunächst nicht die steile Karriere hingelegt, die viele erwarteten. Stattdessen wird ihr Weg steinig. Tragisch sogar. Und am Ende umso beeindruckender.
Im Alter von 15 Jahren ist Anisimova bereits die Nummer zwei der Junioren-Weltrangliste, 2017 gewinnt sie den US-Open-Titel der Mädchen. Gegen eine gewisse Coco Gauff, die heute zweifache Grand-Slam-Siegerin ist. Anisimova erhält den Stempel des Wunderkinds spätestens bei ihrem Halbfinaleinzug bei Roland Garros 2019. Sie ist "the next big thing" in den USA und schiebt sich trotz ihres zarten Alters in die Top 25 der Welt vor. In Bogota gewinnt sie kurz zuvor ihren ersten WTA-Titel und wird zur jüngsten US-Amerikanerin mit einem Tour-Titel seit Serena Williams. Patrick Mouratoglou, Williams' Coach, sagt damals in Paris, dass Anisimova ihn an Lindsay Davenport erinnere.
Viele Lorbeeren, riesige Erwartungen. Wie so oft im Tennis-Zirkus. Schon bald wird der US-Amerikanerin mit russischen Wurzeln das alles zu viel. Der Teenager zerbricht.
Tragödie um Anisimovas Vater
Als sie gerade in Schwung gekommen ist, verstirbt im Herbst 2019 ihr Vater und langjähriger Trainer Konstantin Anisimov an einem Herzinfarkt. Nur wenige Tage vor den US Open. Urplötzlich überrollt diese Tragödie die junge Spielerin, reißt ihr den Boden unter den Füßen weg. Anisimova zieht sich aus dem Grand-Slam-Turnier in New York zurück und es folgen turbulente Jahre voller emotionaler Herausforderungen, Formschwankungen und zunehmendem Druck.
2023 merkt Anisimova, dass sie aufhören muss. Dass sie nicht mehr kann. Dass sie eine Pause braucht. Und zwar nicht zwei Wochen, sondern eine richtige Pause. Mit offenem Ende. Sie gibt den Tennissport vollständig auf.
Die US-Amerikanerin kämpft mit psychischen Problemen und Burnout, empfindet es als unerträglich, an Turnieren teilzunehmen. Sie hasst Tennis und alles, was damit zu tun hat. Das erinnert an Tennis-Legende Andre Agassi, der in seiner Biografie "Open" schreibt, wie er den Sport verabscheut hat, unter anderem wegen des Drucks, den sein Vater aufgebaut hatte. Und auch, weil es "so verdammt einsam" war, eine sich wiederholende Plackerei aus Reisen und Training, unterbrochen von unruhigen Kampfphasen. In einer elfmonatigen Saison jetten Tennisprofis von Hotel zu Hotel rund um die Welt, um dann im Scheinwerferlicht vollkommen allein auf dem Court gegen die eigenen Dämonen und gefühlt den Rest der Welt anzukämpfen.
Tennis-Pause nach Burnout, Rat an Zverev
Anisimova hat genug davon und zieht einen Schlussstrich. Zwar besiegt sie am Donnerstag Aryna Sabalenka auf dem Heiligen Rasen, doch im tiefsten Tal, im Moment der größten Leere, feiert sie 2023 den größten Sieg ihrer Karriere. Inmitten ihrer psychischen Probleme diese lange Auszeit zu nehmen und die Karriere willentlich hinten anzustellen, möglicherweise sogar ganz zu riskieren; in diesem jungen Alter so selbstreflektiert zu sein und die richtigen Schlüsse zu ziehen; mentale und körperliche Gesundheit über alles andere zu stellen: Das alles verdient höchsten Respekt.
Auch in Wimbledon spricht sie offen über psychische Probleme, um das Tabu stetig weiter aufzubrechen. Als Alexander Zverev nach seinem Ausscheiden in der ersten Runde seine mentale Leere öffentlich macht, hat Anisimova einen Ratschlag parat: "Viele Menschen haben mit Einsamkeit zu kämpfen, besonders im Profisport", sagt sie und fügt hinzu, dass die Pause vom Tourleben "mir wirklich geholfen hat und ich froh bin, dass ich das gemacht habe, denn ich bin mit einer neuen Perspektive zurückgekommen, fühle mich erfrischt und habe viel über mich selbst gelernt."
Anisimova rät dem Deutschen und auch anderen Spielern, die sich in der Vergangenheit zu ihren psychischen Problemen geäußert haben, wie etwa Naomi Osaka, Paula Badosa, Matteo Berrettini oder Andrej Rublew, zur "Selbstreflexion, um herauszufinden, was schiefläuft oder wie ich einen Lebensstil schaffen kann, der mir Spaß macht".
Anisimova fällt aus den Top 400
Monatelang rührt Anisimova damals keinen Schläger an, macht lieber Urlaub, studiert und trifft Freunde und Familie. Alles, bloß kein Tennis. Dann baut sie ein Team um sich herum auf - mit Menschen, "denen ich mich anvertrauen konnte und denen ich vertraute. Menschen, mit denen ich reden konnte."
Ganz langsam, so wie es die Gesundheit erlaubt, kämpft Anisimova sich zurück. Setzt sich Stück für Stück wieder zusammen. Erst 2024 feiert sie ihr Comeback auf dem Tennisplatz. Grand-Slam-Turnier und gar -Finals sind zu diesem Zeitpunkt in weite Ferne gerückt, in der ATP-Rangliste ist sie aus den Top 400 gefallen. Doch durch die lange Pause ist der Spaß am Sport wieder da. Vielleicht ihr größtes Erfolgserlebnis im Tennis. Seitdem arbeitet die US-Amerikanerin sich beständig wieder hoch: Im Februar 2025 kehrt sie nicht nur wieder unter die Top 20 zurück, sondern gewinnt auch ihren ersten WTA-1000-Titel in Doha.
"Ihre Gelassenheit, mentale Stärke und Arbeitsmoral sind beeindruckend", sagt Anisimovas Coach Rick Vleeshouwers in Wimbledon über sie. "Aber als Mensch schätzt sie ihr Tennisleben viel mehr als zuvor. Wenn man Abstand von etwas nimmt, das einen so großen Teil des Lebens ausmacht, vermisst man es und lernt es zu schätzen."
Von ganz unten ins Wimbledon-Finale
Nun steht die wieder reparierte Anisimova im größten Finale des Tennissports, nachdem sie im vergangenen Jahr in der Wimbledon-Qualifikation als Nummer 191 der Welt ausgeschieden war. Gegen Iga "Gnadenlos" Swiatek, die mit Belinda Bencic im Halbfinale kurzen Prozess macht, wird sie zur erst zweiten Spielerin jemals, die nach einer Niederlage in der Qualifikation des Vorjahres ein Grand-Slam-Finale erreicht hat (Bianca Andreescu gelingt dies 2019 bei ihrem US-Open-Sieg ebenfalls).
Tragödie, Trauer, Wiederauferstehung: "Es war eine lange Reise. Endlich habe ich mein Spiel und mein Selbstvertrauen gefunden", sagt Amanda Anisimova über ihre unglaubliche Geschichte. Der Wimbledon-Titel wäre die Krönung. Den größten, den inneren Triumph kann ihr sowieso niemand mehr wegnehmen.
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