Im deutschen Fußball ist derzeit eine besondere Entwicklung zu beobachten. Das Verhalten von Verantwortlichen einiger Klubs und Größen der Branche gegenüber dem FC Bayern hat sich verändert. Ihre Aussagen und ihr Verhalten zeigen, dass der Respekt vor dem deutschen Fußball-Rekordmeister schwindet. Von Ehrfurcht ist keine Spur mehr. Den Bayern Paroli zu bieten, sie herauszufordern und zu kritisieren wird immer normaler.

Bis vor wenigen Jahren traute sich kaum jemand von der Konkurrenz, sich öffentlich gegen die Münchner zu stellen. Natürlich gab es legendäre Fehden zwischen Uli Hoeneß und Willi Lemke oder Christoph Daum, doch die sind Jahrzehnte her. In den 2000ern und vor allem ab dem Triple-Sieg 2013 kam es kaum mehr zu Auseinandersetzungen.

Das ist jetzt anders. Es begann mit Fernando Carro. Der Geschäftsführer von Bayer Leverkusen hatte im vergangenen Jahr auf einem Fantreffen gesagt, dass er „nichts, absolut nichts“ von Bayerns Sportvorstand Max Eberl halte. Im Fall Florian Wirtz legte Caro kürzlich nach, sprach von einer „Show“ der Bayern. Und seit dem Werben des Meisters um Stürmer Nick Woltemade vom VfB Stuttgart geht es richtig rund. Bayern-Bashing ist en vogue.

Der einstige Bundesliga-Trainer Ewald Lienen sagte in einem Podcast, es widere ihn an, es sei lächerlich, wenn ein Verein Spieler kaufe, die woanders ausgebildet wurden – und dieser Klub selbst die Ausbildung junger Spieler vernachlässige.

Auch Andreas Rettig äußerte sich in dieser Woche kritisch zu dem von den Bayern erhofften Woltemade-Transfer. Er sagte auf einem Kongress: „Ich hätte mir gewünscht, dass die Transferpolitik des FC Bayern nicht gerade dann öffentlich wird, wenn Nick und der DFB ein großes Endspiel vor der Brust haben. Das finde ich vom Zeitpunkt her suboptimal.“

Wenngleich Rettig offen lässt, wem konkret er vorwirft, dass der erhoffte Transfer kurz vor dem Finale der U21-EM, das Deutschland gegen England verlor, öffentlich wurde – er nennt den FC Bayern. Und lässt damit die Interpretation zu, dass er das Vorgehen des Meisters kritisch sieht. Das steht Rettig generell zu, er ist ein erfahrener Fußball-Manager, der meinungsstark ist – sein Amt ist in dieser Sache das Problem.

Rettig ist Geschäftsführer Sport des DFB. Als Vertreter des Verbandes sollte er allen deutschen Vereinen gegenüber so neutral wie möglich sein. Die öffentliche Bewertung des Vorgehens eines Klubs in Sachen Transfers verbietet sich in dieser Position.

Wenngleich Rettigs Enttäuschung über das verlorene U21-EM-Finale verständlich und es sein Job ist, die Interessen des DFB deutlich zu machen – hier wäre etwas Zurückhaltung angebracht. Genauso wie Zurückhaltung angebracht wäre, wenn der 1. FSV Mainz 05, der VfL Wolfsburg oder Borussia Dortmund um Woltemade werben würden.

Kritik am FC Bayern ist mitunter scheinheilig

Generell ist die Kritik aus der Liga und aus dem deutschen Fußball am Vorgehen der Bayern mitunter scheinheilig. Im Fußball ist es weitverbreitet, auf inoffiziellem Wege Kontakt zu dem Spieler oder dessen Beratern aufzunehmen, bevor man auf den Verein des Spielers zugeht. Man kann das anders handhaben – aber es ist keine Todsünde, es so zu machen. Im Gegenteil: Es ist eine legitime Strategie, ob sie nun aufgeht oder nicht.

Dass die Bayern mit der Woltemade-Seite verhandeln, ist also legitim. Auch während der U21-EM. Die Münchner sind nicht verantwortlich für den Erfolg einer Junioren-Nationalmannschaft. Und den Fokus eines Spielers. Hier Rücksicht zu nehmen, wäre schlicht unprofessionell.

Wenn überhaupt wäre es an Woltemade und seinem Management gewesen, die Verhandlungen und Gespräche auf die Zeit nach dem Finale zu legen. Doch im schnelllebigen Milliarden-Geschäft Profifußball ist ein perfektes Timing, mit dem alle Seiten zufrieden sind, kaum bis gar nicht mehr möglich.

Und der VfB Stuttgart wäre wohl ebenfalls verstimmt gewesen, hätten die Bayern vorher mitgeteilt, dass sie Woltemade wollen. Rettig und alle anderen im Verband sollten – wenn überhaupt – mit dem Spieler klären, ob das Timing nicht hätte ein anderes sein können oder müssen.

Ob es der Fall Wirtz, die Personalie Woltemade oder die Transferpolitik der Bayern generell ist: Vieles entlädt sich seit einigen Monaten an der Person Eberl. Kollegialität im Haifischbecken Bundesliga zu erwarten, wäre naiv. Doch es ist schon erstaunlich, wie respektlos in der Liga mitunter öffentlich über den Sportvorstand und die Transferpolitik unter ihm gesprochen wird oder Andeutungen gemacht werden.

Erstaunlich ist das deshalb, weil Eberl selbst mit Kritik oder Meinungen zu anderen Vereinen immer zurückhaltend ist. In Michael Olise ist ihm einer der besten Transfers aller Bundesligaklubs der vergangenen Jahre gelungen. Zudem hat er die Verträge von Jamal Musiala, Joshua Kimmich und Alphonso Davies langfristig verlängert.

An der Spitze des Klubs steht keine Fußball-Größe

Möglicherweise spürt die Konkurrenz, dass Eberl aber auch intern Fragen beantworten musste. Uli Hoeneß und Karl-Heinz Rummenigge sind öffentlich nicht immer präsent, mit Vorstandschef Jan-Christian Dreesen steht keine Fußball-Größe an der Spitze des Klubs – diese Situation hat viele im deutschen Fußball offensichtlich mutiger werden lassen.

Es gibt offene Baustellen im Kader der Bayern. Die Suche nach einem Außenstürmer erinnert manchen an die lange Trainersuche vor einem Jahr, gerade verlängerte Wunschspieler Nico Williams bei Athletic Bilbao bis 2035. Eberl hat seit seinem Amtsantritt vor gut einem Jahr nicht alles richtig gemacht, das hat er reflektiert und selbstkritisch auch öffentlich zugegeben. Dass er zuletzt auch mal die „Abteilung Attacke“ übernahm und seinen Klub verteidigt, tut ihm gut. Es ist notwendig.

Der VfB Stuttgart hat deutlich gemacht, dass er viel Geld für Woltemade will. Auch hier ist keine Ehrfurcht vor den Bayern zu spüren. Der Deal könnte sehr kostspielig werden. Doch die Verpflichtung würde Sinn ergeben. Und wäre für Eberl und den FC Bayern, sollte der Spieler nicht mehr als 60 Millionen Euro kosten, ein Erfolg.

Julien Wolff ist Sportredakteur. Er berichtet für WELT seit vielen Jahren aus München über den FC Bayern und die Nationalmannschaft sowie über weitere Fußball- und Fitness-Themen.

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