Für DFB-Kapitänin Giulia Gwinn dauert die Fußball-EM womöglich nur 40 Minuten. Beim Auftakt-Sieg gegen Polen verletzt sie sich am Knie. Während das Team hofft, dass es doch nicht so schlimm ist, wird die Knie-Misere von Gwinn zum Déjà-vu.

Die Hände über dem Gesicht, die Tränen laufen: Giulia Gwinn liegt in der 40. Minute des ersten EM-Gruppenspiels der deutschen Fußballerinnen gegen Polen (2:0) kurz hinter der Mittellinie. Das Knie, es ist offenbar schlimm verletzt. Die Kapitänin des DFB-Teams muss ausgewechselt werden. Ihr erstes Turnierspiel als Anführerin endet bitter und viel zu früh. "Es war ein Schock", sagt Bundestrainer Christian Wück über die Szene.

Zwei Minuten vorher hatte Gwinn im Strafraum gegen die polnische Starstürmerin Ewa Pajor vom FC Barcelona in höchster Not mit einer Mega-Grätsche geklärt und den Rückstand verhindert. "Wir müssen ihr hoch anrechnen, dass sie das Gegentor verhindert hat", so Wück. Aber: "Der Sieg ist extrem bitter erkauft." Denn die 26-Jährige verdreht sich dabei das Knie. Während sie mit dem rechten Bein den Ball wegspitzelt, ist ihr linkes Bein angewinkelt, sie rutscht auf diesem, als es seitlich wegdreht. Gwinn bleibt nach der Aktion liegen, Pajor schaut erschrocken auf die Deutsche. Schiedsrichterin Stephanie Frappard ruft sofort die Mediziner herbei.

Als sie kurz darauf eigenständig aufstehen kann, sieht es zunächst nicht ganz so schlimm aus. Die Rechtsverteidigerin kehrt sogar aufs Spielfeld zurück, doch dann geht sie im Mittelfeld wieder zu Boden und muss ihren Schmerzen Tribut zollen. Torhüterin Ann-Katrin Berger eilt zu ihr, Lea Schüller und Janina Minge kommen von der anderen Seite des Feldes angelaufen. "Ein brutaler Schock" ist es für Minge, die in Folge als Vize-Kapitänin die Binde trägt. Denn unter Tränen und gestützt von den Betreuern verlässt Gwinn das Feld.

"Erst einmal in den Arm genommen"

Auf der Tribüne leiden ihre Eltern mit, die ihre Tochter zu fast jedem Spiel begleiten. Bekannt wurden sie der Öffentlichkeit mit schwarz-rot-goldenen Perücken. Als ihre Tochter in den Katakomben verschwindet und auch zur zweiten Halbzeit nicht wieder im Innenraum des Stadions auftaucht, sind auch ihre Eltern nicht mehr auf der Tribüne zu sehen.

Gwinn ist noch in der Kabine, als das Spiel endet. Sie ist der Grund, warum das Team sich trotz des Auftaktsiegs dank der Tore von Jule Brand und Lea Schüller nur kurz auf dem Rasen freut, warum das Gehüpfe zum über die Lautsprecher eingespielten "Völlig losgelöst" von Major Tom schnell endet. "Wir sind nach dem Spiel einmal alle zur ihr rein, haben sie in den Arm genommen. Es war uns wichtig, ihr zu zeigen, dass wir für sie da sind und dass sie extrem wichtig für uns ist", so Laura Freigang.

Denn die Situation ist ein Drama für Gwinn. Die Diagnose steht noch aus, sie muss dafür ins MRT, die Untersuchung wird am Samstag erfolgen, heißt es vom DFB. Freigang und Co. hoffen: "Wir sind in Gedanken alle bei ihr und hoffen bis zum letzten Moment, dass es vielleicht schlimmer aussah, als es im Endeffekt ist."

Gwinn hat bereits zwei Kreuzbandrisse hinter sich

Was ihre Knie betrifft, ist Gwinn ein gebranntes Kind. Schon zwei Kreuzbandrisse hat sie hinter sich. 2020 und 2023, erst rechts, dann links. Beide Male zugezogen in Spielen für den DFB. Der zweite besonders bitter: Es sei nur das Außenband betroffen, heißt es zunächst. Gwinn atmet auf. Am Tag danach dann der Nackenschlag: Es ist doch das Kreuzband. Zwei Jahre hat die Rechtsverteidigerin wegen ihrer Knieverletzungen schon ohne Fußball verbringen müssen, verpasst auch die WM 2023. Ein Horror, den sie eigentlich hatte hinter sich lassen wollen. Doch nun sind die Sorgenfalten wieder tief.

Ein Drama ist ihr frühes Aus auch für das DFB-Team. Es verliert die Kapitänin auf dem Platz. Die Spielerin des FC Bayern hatte nach der Ernennung zur Nachfolgerin von Alexandra Popp, die ihre Karriere für Deutschland beendete, so viel Lob von ihren Teamkolleginnen erhalten. "Auf dem Platz gibt sie mir Sicherheit, glaubt an mich, auch wenn sie weiß, dass es gerade nicht läuft. Sie ist immer gut drauf und der sozialste Mensch, den ich kenne", hatte Brand gesagt. Und Elisa Senß hat "mega viel Vertrauen". Gwinn macht Ansagen, wenn nötig, reißt mit, und ist als Sprachrohr des Teams nochmal gereift.

Gwinn-Ersatz Wamser von eigener Nominierung überrascht

Aber nicht nur für das Gefühl und Selbstverständnis des DFB-Teams ist Gwinns mögliches Turnier-Aus ein Tiefschlag, auch spielerisch hatte sie eine gewichtige Rolle inne. Mit Blick auf den Kader hatte es Skepsis an den Entscheidungen von Bundestrainer Christian Wück gegeben. Denn als Ersatzspielerin für Gwinn hatte Wück Carlotta Wamser nominiert. Sie selbst hatte gar nicht mit einer EM-Teilnahme gerechnet. "Christian hatte nur die Nummer von meiner Mutter und hat sie dann angerufen. Meine Mutter ist, glaube ich, dreimal nicht drangegangen. Dann hat er es nochmal probiert. Anschließend hat meine Mutter mich angerufen und gesagt, dass ich ihn zurückrufen soll", hatte Wamser erzählt.

Die 21-Jährige, die seit dem 1. Juli bei Bayer Leverkusen unter Vertrag steht und bislang für Eintracht Frankfurt spielte, hat vor dem Turnier gerade einmal zwei Länderspiele absolviert. Und auch wenn sie flexibel einsetzbar ist, ist sie eher im Mittelfeld zu Hause. Nun aber muss sie ran - drittes Länderspiel, erstmals EM. "Sie ist extrem gut ins Spiel gekommen. Die Nervosität hat man ihr überhaupt nicht angemerkt. Es war für sie keine einfache Situation, sie musste von Null auf Hundert da sein, ohne großes Aufwärmen", so Innenverteidigerin Minge über ihre neue Nebenspielerin. Freigang beschreibt ihre ehemalige Frankfurter Teamkollegin als "unfassbares Energiebündel". Und erklärt: "Die Außenverteidigerposition spielt sie ja noch gar nicht so lange, aber auf magische Weise verbinden sich auf dieser Position all ihre Stärken. Sie macht nach vorne Dampf, gewinnt eins gegen eins nach hinten, ist unfassbar schnell. Dadurch, dass sie lange Stürmerin war, hat sie das Auge nach vorne."

Und Wamser kann tatsächlich direkt den ersten Assist verbuchen. Sie ist es, die den Ball erobert und ihn der einlaufenden Brand zuliefert. Die künftige Lyon-Spielerin zieht den Ball von der Strafraumgrenze mit dem linken Fuß ins lange Eck (52.). Auch das 2:0 durch Lea Schüller leitet sie ein, indem sie an der Eckfahne eine Polin aussteigen lässt und den Ball zu Brand weiterleitet, die die einlaufende Schüller bedient (66.).

Wück sieht sich bestätigt: "Ich glaube, jetzt hat der Letzte gesehen, dass sie zu Recht bei uns ist", sagt er nach der Partie. Er habe einhundert Prozent Vertrauen in Carlotta. Womöglich bleibt ihm und dem Team in den kommenden Spielen gegen Dänemark (Dienstag, 18 Uhr/ARD und im ntv.de-Liveticker) und Schweden (12. Juli, 21 Uhr/ZDF und im ntv.de-Liveticker) auch gar nichts anderes übrig. Denn die Tränen von Gwinn verheißen nichts Gutes.

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