Die Finalspiele der Nations League stehen an. Das DFB-Team tritt mit einem arg gerupften Aufgebot an - und ist trotzdem überraschend selbstbewusst. Schließlich geht es eigentlich ja um die WM 2026.

Eigentlich hätte sich Bundestrainer Julian Nagelsmann die Angelegenheit ganz einfach machen können. Es braucht keine große Kreativität, die Ausreden muss er nicht suchen: Schließlich vermisst er zahlreiche Säulen, die seit dem vergangenen Sommer die deutsche Fußball-Nationalmannschaft getragen haben: Kai Havertz, Jamal Musiala, Antonio Rüdiger, Angelo Stiller, Nico Schlotterbeck, Tim Kleindienst und Angelo Stiller. Dazu kommen noch die Ausfälle von Jonathan Burkardt, Nadiem Amiri und Yann Aurel Bisseck. Und trotzdem: Nagelsmann ruft vor dem Auftakt ins Finalturnier der Nations League gegen Portugal (21 Uhr/ZDF, DAZN und im ntv.de-Liveticker) die "Titelchen"-Mission aus.

Der Bundestrainer hätte sich hinter einem "Mal schauen, wie es wird" verstecken können. Oder hinter einem "Wir treten gegen Europas Spitze an, da kann alles passieren". Doch als Nagelsmann vergangene Woche in Herzogenaurach von einer Schülerzeitung gefragt wurde, welchen Titel er am liebsten gewinnen würde, sagte er: "Am liebsten alle." Als er das näher ausführte, sprach er natürlich über die Champions League, den WM-Pokal - und eben den Anfang mit der Nationenliga. Ausgerechnet die Trophäe, die selbst Fachleute auf einem Foto nicht erkennen würden.

In Nagelsmanns Logik ist der Wettbewerb der nächste notwendige Schritt zur Weltmeisterschaft 2026 in den USA, Mexiko und Kanada - egal, wie vermeintlich klein dieser Titel ist. Das DFB-Team beheimatet derzeit eine ganze Spielergeneration, die nicht weiß, wie es sich anfühlt, mit der Nationalelf erfolgreich zu sein. Selbst Kapitän Joshua Kimmich sagte am Wochenende, er habe im DFB-Team "viele Tiefen und Höhen" erlebt, die Reihenfolge war mutmaßlich kein Zufall. Doch das ändert sich gerade. "Das Selbstverständnis ist sehr gewachsen", sagte Nagelsmann. "Aber Selbstverständnis und Selbstvertrauen sind beides zwei sehr fragile Elemente, die man immer wieder pflegen und an denen man immer wieder arbeiten muss."

"Ganzes Land geht davon aus, dass wir dieses Turnier gewinnen"

So viel zur Theorie. In der Praxis macht sich der Lernprozess bemerkbar. "Das ganze Land geht davon aus, dass wir dieses Turnier gewinnen", sagte etwa Niclas Füllkrug. Man wolle die Fans "entertainen und mit einem guten Gefühl nach Hause schicken". Nur: Ebenjener Füllkrug hat gleichzeitig auch ein Seuchenjahr hinter sich. Dem DFB-Team fehlte er wegen gleich zweier Verletzungen in den vergangenen neun Monaten. Und auch jetzt ist seine Nominierung etwas überraschend. Für West Ham kommt er in den nur 18 Spielen, die er absolvieren konnte, auf drei Treffer.

Doch Füllkrug ist nicht alleine mit diesem neuen Selbstbewusstsein. Für Marc-André ter Stegen endet nun endlich eine lange Leidenszeit. Erstmals seit dem Confed Cup 2017 darf er wieder das DFB-Tor bei einem Turnier hüten. Über Jahre war er die grummelige Nummer zwei hinter Manuel Neuer, der es irgendwie immer schaffte, rechtzeitig zu Welt- und Europameisterschaft wieder fit zu werden. Doch ter Stegen hat zwar das eine Tor eingenommen, aber das andere, das beim FC Barcelona, droht er zu verlieren.

Ter Stegen riss sich im vergangenen September die Patellasehne, kämpfte sich nach der schweren Knieverletzung wieder zurück. Barça-Trainer Hansi Flick setzte ihn jedoch lediglich zweimal ein - und jüngst ploppten in Spanien Gerüchte auf, dass sein Klub einen neuen Keeper sucht. "Das ist eine Situation, die da jetzt entstanden ist", sagte ter Stegen. Bei Barça gebe es immer Konkurrenzsituationen, erklärte er, als sei er davon nicht betroffen. Ob er mit dem Ex-Bundestrainer Flick darüber schon gesprochen hat? Er wüsste nicht, wieso.

Dieses Spiel lässt sich viel länger so weiterspinnen: DFB-Sportdirektor Rudi Völler sagte Nick Woltemade eine "ganz große Karriere" voraus, sollte er nur sein Kopfballspiel verbessern. Das Wechseltheater sei für Florian Wirtz kein Problem, erklärte der Bundestrainer, schließlich sei dieser ja ein Wettkämpfer. Das Vertrags-Hin-und-Her bei Leroy Sané? Mutmaßlich auch egal.

Und das PSG-Trio

Normalerweise sind solche Themen allesamt Unruhefaktoren. Hinzu kommt: Der aktuelle DFB-Kader ist vielleicht der pragmatischste der bisherigen Nagelsmann-Ära. Die Personalnot zwang ihn, von seinem knallharten Leistungsprinzip abzurücken. "Natürlich ist es bitter, dass wir so viele Verletzte haben", erklärte DFB-Kapitän Kimmich. Schob aber auch gleich hinterher: "Die, die jetzt zu Hause sind, helfen uns nicht für die beiden Länderspiele."

Nagelsmann muss nicht nur ein neues Innenverteidiger-Duo suchen. Eigentlich wollte er so langsam damit anfangen, eine Doppelsechs mit Perspektive auf die WM einspielen zu lassen. Doch die beiden aussichtsreichsten Kandidaten für diese wichtige Achse haben immer noch kaum Minuten zusammen. Zu Beginn des Jahres fehlte Aleksandar Pavlović vom FC Bayern mit dem Pfeifferschen Drüsenfieber. Jetzt ist der 21-Jährige zwar zurück, aber sein Gegenstück, Angelo Stiller vom VfB Stuttgart, fehlt mit einer Bänderverletzung. Nagelsmann sagte dazu nur, dass er nie die Illusion gehabt habe, dass immer alle Spieler zur Verfügung stehen würden. Stichwort Selbstverständnis: Die DFB-Elf soll unabhängig von ihrem Personal erfolgreich sein.

Aber da ist ja nicht nur das DFB-Team. Um noch einmal auf die Ausreden zurückzukommen: Im Halbfinale wartet Portugal, das starbesetzt wie eh und je nach Deutschland reist. Mit dabei ist auch das PSG-Trio Vitinha, Joao Neves und Nuno Mendes, das am Wochenende noch Inter Mailand die Teilnahme am Champions-League-Finale verwehrte. "Das war beeindruckend, was sie auf dem Platz veranstaltet haben", sagte ter Stegen. Da ist Cristiano Ronaldo, der mittlerweile 40-Jährige, der immer noch nicht gegen das DFB-Team gewonnen hat. Oder die Offensivkünstler um Bernardo Silva, Bruno Fernandes und Rafael Leao. Viele mögliche Ausreden.

Damit niemand diese suchen muss, hat Nagelsmann die Länderspielphase mit einem Trick eingeläutet. Er habe seinen DFB-Profis erst mal "zu diversen Erfolgen gratuliert, auch um zu zeigen, was wir für eine schlagkräftige Truppe haben" - trotz der Ausfälle. Wenn es nach ihm geht, halten sie nach Sonntagabend einen weiteren Pokal in der Hand.

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