Wo man die finnische Seele mit Händen greifen kann
Janne Hanninen kneift die Augen zusammen und starrt über die glitzernde Wasserfläche. Er runzelt die Stirn. „Was ist bloß los heute?“, brummt er und zeigt auf ein winziges Boot, das kaum sichtbar in der Ferne von links nach rechts fährt. „Ungewöhnlich viel Verkehr“, sagt der Fischer, „normalerweise sieht man hier niemanden.“ Er wendet sich dem Eisenrost zu, auf dem er einige Dutzend frisch geangelte Maränen über dem offenen Feuer grillt.
Daneben, in einer großen Metallkanne, blubbert schwarzer Kaffee. „Wir lassen uns davon einfach nicht stören“, sagt Hanninen grinsend und schiebt sich einen der kleinen Fische, auf Finnisch „Muikku“, in den Mund. Kopf, Schwanz und Gräten inklusive.
Eine halbe Stunde sind wir mit dem Motorboot über blaugrün schimmerndes Wasser zur unbewohnten Insel Petri hinübergefahren. Unser Boot ist das einzige, das am Sandstrand liegt. Träge plätschern die Wellen. Erst schweift der Blick, dann die Gedanken. Ein paar Trampelpfade führen zu Schilfzonen, Felsen am Wasser und weiteren Sandstränden. In einer Hütte zwischen den Kiefern lagert Feuerholz für den Grill – gratis natürlich. Auch Campen, Pilze- und Beerensammeln und Angeln darf jeder hier, das finnische Jedermannsrecht erlaubt es.
„Diese Inseln sind wie Sterne“, philosophiert Fischer Hanninen auf der Bootsfahrt zurück zu seinem Hof, „und der See Saimaa ist die Galaxie“. Der Saimaa! Finnlands größtes Seensystem, ein Wassergigant von fast 4400 Quadratkilometern Größe. Ein Labyrinth aus 14.000 Inseln. Mit einer Küstenlinie von sagenhaften 15.000 Kilometern – das sind fast doppelt so viele Küstenkilometer, wie sie Spanien besitzt. Das Wasser ist glasklar. Wer baden geht, braucht keine Dusche danach.
Zwischen den Wasserflächen, Kanälen und stillen Buchten erstrecken sich Granitklippen, Birken- und Kieferwälder, zeitvergessene Orte und viele Tausende „Mökkis“, Holzhäuschen mit Seeblick. In ihren heiligen Hütten verbringen fast alle Finnen ihre Wochenenden und Sommerurlaube, sehen beim Bierchen auf der Holzterrasse dem Sonnenuntergang zu, basteln herum, dösen, kochen am Lagerfeuer, oder besuchen die Hüttensauna, die überall dazugehört.
Tiefenentspannung zwischen Muikkus und Mökkis
Dass die einzelnen Glückszutaten stimmen, bestätigt das Gesamtergebnis: Erst vor wenigen Wochen hat der World Happiness Report der UN Finnland zum achten Mal in Folge bescheinigt, das Land mit den glücklichsten Menschen der Welt zu sein.
In der Tat, im Spannungsfeld zwischen Muikkus und Mökkis führen viele Finnen am Rande Europas ein recht entspanntes, naturverbundenes Leben. Es hilft vielleicht auch, dass hier nur 18 Menschen pro Quadratkilometer leben, statt 230 wie in Deutschland. Die Nähe zur 1350 Kilometer langen Grenze zu Russland spielt für die Finnen im Alltag keine große Rolle, auch wenn die Saimaa-Region teilweise nur einige Dutzend Kilometer von der Grenzlinie entfernt ist.
In den vergangenen Jahren haben auch touristische Hitzeflüchtlinge, die früher in Südeuropa urlaubten, den Wert des finnischen Sommers entdeckt. Sie genießen Julitemperaturen, die nur selten die 28-Grad-Marke erreichen – und die Entspanntheit, die damit einhergeht, wenn man nicht in sizilianischen Gassen verglüht, Waldbrandwarnungen am Handy verfolgt oder beim Klimaanlagenausfall schlaflose Nächte verbringt. Wer den finnischen Dreiklang aus Ruhe, Natur und Freiheit sucht, ist am Saimaa angekommen.
So wie Elmar Bernhardt. Der Nachrichtentechniker ist vor 22 Jahren aus Franken hierher ausgewandert. Er sitzt am Hafenkiosk im Städtchen Savonlinna mitten in der Seenplatte bei einem Eis und sieht den historischen Ausflugsdampfern zu, die von hier aus zu Rundfahrten starten. Alles sei viel entspannter als in Deutschland, sagt der 47-Jährige.
„In Finnland sind die Menschen nicht so sehr getrieben von Regeln, Konventionen und Vorschriften. Sie nehmen sich Zeit, das zu machen, was das Leben ausmacht.“ Bernhardt gefällt das sehr. Im Sommer fährt er mit Boot und Familie zu menschenleeren Badebuchten am See, im Winter gleitet er mit den Schlittschuhen stundenlang über die gefrorenen Weiten. Manchmal angelt er am Morgen vor der Arbeit den Fisch fürs Abendessen.
Der letzte Stau? Vor vier Jahren
„Der letzte Stau, den ich hier erlebt habe, war vor vier Jahren. Es war wohl ein Unfall. Gesamtwartezeit: fünf Minuten!“ Klar, Alkohol und manche Lebensmittel sind etwas teurer, aber Mökkis kann man ab 100.000 Euro kaufen, ein gut ausgestattetes 200-Quadratmeter-Haus mit Sauna und Seeblick gibt es ab 150.000 Euro. Die berüchtigten Mücken, die Finnlands Image beeinträchtigen? „Nicht hier“, sagt Bernhardt, „die sind weiter oben in Lappland eine Plage. Am Saimaa gibt es nur alle paar Jahrzehnte mal Sommer, in denen die Viecher richtig nerven.“
Die menschlichen Bewohner des Landes seien trotz ihres verschlossenen, wortkargen Rufs „prima Leute – rücksichtsvoll, entspannt, zurückhaltend“, schwärmt Bernhardt. „Sie schauen erst einmal, machen sich ein Bild und gehen erst dann auf Menschen zu – alles ist ein wenig langsamer.“
Nach Corona, so der fränkische Finne, kursierte hier in Witz, der besagte, dass sich die Finnen nun wieder umzustellen hätten: „Während der Pandemie gab es einen Sicherheitsabstand von zwei Metern. Doch nun seien wieder 3,50 Meter üblich, wie früher.“
Savonlinna ist das urbane Zentrum der Saimaa-Seenplatte. Soweit man bei 37.000 Einwohnern von Urbanität sprechen kann. Das gemütliche Landstädtchen bietet einen lebhaften Hafen, pittoreske Gassen und jede Menge Restaurants. Hier muss man unbedingt ein Lörtsy probieren: Die Teigtaschen gibt es herzhaft mit Hackfleisch gefüllt oder süß mit Äpfeln. Oder Piroggen. Oder Fischpastete.
Und natürlich Muikkus, die kleinen Fischchen, die in jeder Form angeboten werden. Im Ort bestimmt die besterhaltene Festung Nordeuropas das Bild, die Burg Olavinlinna aus dem Jahr 1475. Im Burghof finden jeden Juli seit 1912 die Opernfestspiele statt, Finnlands wichtigste Kulturveranstaltung.
Schräges hat in Finnland guten Nährboden
Ein paar Wochen danach kommen dann 10.000 Ruderer zum größten Ruderrennen des Landes an den See, knapp 60 Kilometer weit geht es in traditionellen Holzbooten über die Seenplatte. Der örtliche Totengräber Marko Ruuskanen hat hier im Ort lokale Berühmtheit erlangt. Der Hobbykünstler hat mehr als 100 individuell gestaltete, teils verrückt geformte Vogelhäuser im Stadtgebiet an Bäumen angebracht. Eine Karte führt auf unterhaltsame Weise von einem Haus zum nächsten.
Generell hat Schräges in Finnland einen guten Nährboden: Es gibt Wettkämpfe im Frauentragen und Luftgitarrespielen, im Schlammfußball und im Handyweitwurf. Symptomatisch auch die „Entspannungstechnik“ des Kalsarikännit. Der Begriff beschreibt das spezielle finnische Glücksgefühl, das sich einstellt, wenn man sich allein zu Hause nur mit Unterwäsche bekleidet betrinkt.
Am besten lernt man die unberührte Landschaft natürlich aus eigener Kraft kennen. Der Punkaharju ist ein Hügelrücken, der sich sieben Kilometer lang zwischen zwei Seen hinzieht. Teils ist die Kiesmoräne nur fünf Meter breit, teils bis zu 25 Meter hoch. Die hier verlaufende Straße haben die Finnen zur schönsten Straße ihres Landes gewählt. Einige herrliche Wander- und Radwege führen durch die Traumlandschaft zwischen Wasser, Wald und Fels.
Bei Paddeltouren im Mietkajak entlang der endlosen Ufer des Puruvesi-Sees entdeckt man Badebuchten, abgelegene Inseln, magischen Sonnenglanz. Wer im Linnansaari-Nationalpark unterwegs ist, trifft mit viel Glück sogar auf eine der seltenen Saimaa-Ringelrobben, die vor der Einführung des Euro die Rückseite der Fünf-Finnmark-Münze geziert haben. Auch wenn der Bestand sich seit 1985 auf heute rund 500 Exemplare verfünffacht hat, ist es immer noch ein besonderes Ereignis, die perfekt getarnten Tiere beobachten zu können.
Wir haben Glück: Eine Robbe liegt in den letzten Sonnenstrahlen des Tages auf einer Klippe. Klar, dass wir ganz ruhig verharren, auf dem spiegelglatten Wasser treiben und nicht nur Hunderte Fotos schießen, sondern auch in jeder Faser des Körpers die Magie der Saimaa-Stille spüren, die über dieser magischen Landschaft liegt.
In der Nacht dann das stillste Feuerwerk des Nordens: Polarlichter! Zufällig entdeckt, als wir mal kurz, schon im Bett liegend, um halb ein Uhr morgens aus dem Ferienhausfenster sehen. Rote, grüne, violette, blaue Schlieren ziehen am Himmelszelt entlang. Also heißt es: Schnell wieder anziehen, gleich runter an den See laufen, auf den Steg legen und nach oben schauen – und ergriffen staunen, mit offenem Mund in der klaren Nacht.
Für Physiker sind Polarlichter ein Leuchten, das entsteht, wenn elektrisch geladene Teilchen des Sonnenwinds auf Sauerstoff- und Stickstoffatome in der Erdatmosphäre treffen. Für Finnen sind sie das „Fuchsfeuer“, ein Feuer am Firmament, entfacht von einem Fuchs, der mit dem Schwanz über die Schneewehen peitscht, sodass die Funken sprühen.
Für uns Besucher sind sie ein Himmelsspektakel, für das wir uns liebend gern einen Schnupfen einfangen, weil wir uns in der Nachtkälte auf dem Brettersteg im Nirgendwo nicht losreißen können von dem einzigartigen Schauspiel.
Neben den fast 188.000 Seen Finnlands bestimmen die endlosen Wälder das Image der Nation. Kein europäisches Land verfügt prozentual über einen größeren Waldanteil. Eine Pflichtstation ist deshalb das hervorragende Forstmuseum Lustonnahe Savonlinna.
Vom modernen Harvester über historische Waldmärchen bis hin zu waldinspirierten Möbelstücken oder Tipps für die Ernährung mit Waldfrüchten – hier bleibt keine Wald- und Baum-Frage offen. Kinder finden zahlreiche Stationen, an denen das Wissen lebendig vermittelt wird.
Finnland ohne Wald ist wie ein Bär ohne Fell
Der tolle Holzbau des Museums beherbergt auch das wissenschaftliche Zentrum für Waldkultur. Forscher wie Reetta Karhunkorva untersuchen hier den Wald als Existenzgrundlage und Basis für die Kultur Finnlands. „1950 hingen noch fast 90 Prozent der finnischen Exporte am Wald und seinen Produkten“, sagt die Forscherin, „heute sind es weniger als 20 Prozent. Der Wald ist unsere Nationallandschaft. Bewegen wir uns in ihm, erwachen religiöse Gefühle. Er ist wie eine Kirche.“
Die unterschiedlichen Aspekte des Waldes bieten Stoff für Vorträge, geführte Wanderungen und sehr spezielle Ausstellungen: So widmet sich eine Sonderschau der besonderen Beziehung finnischer Heavy-Metal-Bands zum Mythos Wald. „Finnland ohne Wald“, sagt Karhunkorva, „das wäre wie ein Bär ohne Fell.“
Einen guten Eindruck von der Allmacht der Natur bekommt man auch auf der abgelegenen Schaffarm Putkisalo nahe dem Linnansari-Nationalpark. Hier bewirtschaften Susanna und Mikael Nuutinen ihre 600 Hektar Wald, Wiesen und Felder.
Das alte Herrenhaus der Farm stammt aus dem Jahr 1818. Hier wird abends im großen Speisesaal schon mal groß aufgetischt von Köchen aus der Umgebung, die ihren Lammbraten oder Lachs mit selbst gesammelten Beeren und Pilzen verfeinern.
Tipps und Informationen:
Wie kommt man hin? Der Saimaa liegt etwa vier Autostunden von Helsinki entfernt. Finnair und Lufthansa fliegen direkt in die finnische Hauptstadt. Weiter per Mietwagen oder Zug in das Saimaa-Gebiet. Nonstop nach Savonlinna gehen im Sommer Charterflüge von Discover Airlines ab Frankfurt (andersweg.reisen/finnland/savonlinna-flug).
Wo kann man buchen? Andersweg Reisen bietet Rundreisen um den Saimaa, eine Woche in der Blockhütte am See kostet 1400 Euro pro Person inkl. Flug und Mietwagen (andersweg.reisen). Eine 15-tägige Wander- und Natur-Gruppentour hat Wikinger Reisen ab 3295 Euro im Programm (wikinger-reisen.de).
Wo wohnt man gut? „Nature Hotel & Spa Resort Järvisydän“ in Rantasalmi, Ferienanlage mit unterschiedlichsten Unterkünften von einfach bis luxuriös, das Hotel existiert seit 1658! Großes Spa, direkt am See gelegen, Mieträder und Kajaks vorhanden, ab 200 Euro pro Nacht, jarvisydan.com. „Naaranlahti“ nahe Punkaharju, 13 Ferienhäuser und 14 Apartments am See, Familienbetrieb in dritter Generation mit Landwirtschaft und Fischerei, ab 120 Euro pro Nacht, naaranlahti.com. „Kanava Resort“ in Oravi, bestens ausgestattete, moderne Ferienhäuser, alle mit eigener Sauna und Seeblick ab 200 Euro pro Nacht, kanavaresort.fi. „Schaffarm Putkisalo“ am Linnansari-Nationalpark, mehrere rustikale Ferienhäuser ab 1100 Euro pro Woche, putkisalo.fi.
Weitere Infos: visitfinland.com; visitsaimaa.fi
Die Teilnahme an der Reise wurde unterstützt von Visit Finland, Visit Savonlinna und Destination Travel Experts Zonista. Unsere Standards der Transparenz und journalistischen Unabhängigkeit finden Sie unter go2.as/unabhaengigkeit
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