Wo früher der Eiserne Vorhang stand, radeln heute gestresste Großstädter
Reetgedeckte Fachwerkhäuser am blauen Band der Elbe. Wälder, Moore, rare Pflanzen und Wildtiere. Idyllische Biohöfe, offene Ateliers. Niedersachsens Wendland südöstlich von Hamburg, das lange als „Zonenrandgebiet“ in die DDR hineinragte, ist bis heute Balsam für gestresste Großstädter, ein Refugium für Künstler und Naturfans.
Die Region entspricht etwa dem Landkreis Lüchow-Dannenberg – der am dünnsten besiedelte der alten Bundesländer. Bekannt wurde sie durch die Anti-Atomkraft-Bewegung, die 1980 die „Republik freies Wendland“ bei Gorleben ausrief. Benannt ist sie nach den früheren slawischen Bewohnern. Die Wenden hinterließen Dorfnamen wie Meuchefitz, Satemin und Lensian. So heißen die typischen Rundlinge, fast 100 gibt es hier: Fachwerkhöfe rings um einen Platz.
Rad- und Wanderwege führen zu ihnen, vorbei an Findlingen, Hünengräbern, durch Heidelandschaften, Auwälder, die Hügel der Clenzer Schweiz und entlang der Elbe. Der Kanuverleih in Neu-Darchau bietet geführte Bibertouren an. Ab Hitzacker schippert ein Sofafloß auf dem Fluss herum.
In den Fachwerkstädtchen verführen Cafés zum Bleiben, es gibt kleine Läden und Galerien. Der Amtsturm in Lüchow, ein Schloss-Überbleibsel, bietet herrliche Ausblicke. Neben Natur und Kultur bietet das Wendland auch noch reichlich Anschauung zur deutschen Teilung – und ist damit eines der spannendsten innerdeutschen Reiseziele.
Wandern auf Wolfspuren
Das Wendland ist eine der wenigen Regionen, in der Wanderungen mit offiziellem Wolfsberater buchbar sind, öffentlich und kostenfrei. Mit Kenny Kenner vom Bio-Hotel „Kenners Landlust“ in Dübbekold geht es durch das Revier des Göhrde-Rudels.
Nicht um Wölfe zu sehen; die sind kamerascheu. Sondern um Insider-Wissen zu erlangen – Kenner erforscht die Wolfsfamilie ehrenamtlich seit Jahren. Und um Spuren zu lesen: Pfotenabdrücke oder Häufchen mit eindeutigem Duft. Wem das zu wild ist, findet in der Urlaubsregion Wendland-Elbe auch Kräutertouren.
Neu-Alt-Niedersachsen nördlich der Elbe
Eine der besten Radrunden Deutschlands verbindet das Wendland mit Amt Neuhaus auf der anderen Seite der Elbe – das einzige Gebiet der Ex-DDR, das nach der Wende von einem neuen zu einem alten Bundesland „rübermachte“. 1993 wechselte die Gemeinde Amt Neuhaus per Staatsvertrag von Mecklenburg-Vorpommern nach Niedersachsen.
Grund für die skurrile Rückgliederung war Neuhaus’ historische Zugehörigkeit zum Königreich und Land Hannover. Nimmt man in Hitzacker die Personenfähre über die Elbe, führt der Radweg am Deich durch die ehemalige DDR-Sperrzone nach Konau.
Das historische Marschhufendorf niedersächsischer Bauart beherbergt Ausstellungen zur Grenzgeschichte und ein Archezentrum. Es informiert über alte und gefährdete Haustierrassen, die im Wendland und im Amt Neuhaus erhalten werden.
Unbedingt probieren: Wurst vom Auerochsen! Das Ur-Rind stammt von den Weiden eines Biohofs in Dellien, der auch Auerochsen-Sharing oder -Leasing anbietet. Von Darchau geht es mit der dortigen Fähre wieder ins Wendland nach Neu-Darchau und über bewaldete Elbhöhen zurück nach Hitzacker.
Radwege am ehemaligen Eisernen Vorhang
Kaum ein Landstrich in den alten Bundesländern ist so von der Deutschen Teilung geprägt wie das Wendland. Stellt man es sich als Dreieck vor, grenzten etwa zwei der drei Seiten an die DDR – mit Todesstreifen, Zäunen, Flutlichtern, Türmen, bewaffneten Grenzern. Wachboote patrouillierten auf der Elbe, die Ost und West teilte. Heute verbinden wieder Fähren beide Ufer, vereint im Unesco-Biosphärenreservat Flusslandschaft Elbe.
Rad- und Wanderwege kreuzen den ehemaligen Eisernen Vorhang. Sie zählen zu den schönsten in Deutschland. Denn was für die Menschen großes Leid bedeutete, war für die Natur ein Glücksfall. Über Jahrzehnte konnte sie sich ungestört entwickeln.
Aus der tödlichen Grenze wurde das Grüne Band, das erste gesamtdeutsche Naturschutzprojekt. Routen wie der Vier-Länder-Grenzradweg oder der Wendland-Rundweg führen durch ein Mosaik von Landschaften, während Museen und Denkmäler an die Teilung von damals erinnern.
Weinberg mit Elbblick
Genau 99 Rebstöcke gedeihen auf dem Weinberg in Hitzacker, dem ältesten in Norddeutschland. Schon 1521 wuchsen hier Trauben. Die Schnapszahl 99 umgeht die strengen Regeln für kommerziellen Weinanbau (der ab 100 Reben gilt). Tatsächlich sind die paar Flaschen „Hidesaker Weinbergströpfchen“ nicht verkäuflich. Der Weißwein lässt sich aber kosten – beim Weinfest jeden Herbst.
Die Lese besorgten der Sage nach einst die Weinbergzwerge. Besucher begegnen ihnen in Gestalt von über 40 Bronzewichten überall in der Stadt Hitzacker. Bei der Zwergenrallye gilt es, sie zu finden. Ganzjährig lohnt sich der Aufstieg über 64 Stufen auf den Berg: Der Blick auf Hitzackers Altstadtinsel, umarmt von Elbe und Jeetzel, ist wunderschön.
Das Zitat
„Kleine Stadt mit großem Charme“
Claus von Amsberg, Prinz der Niederlande (1926–2002), adelte mit diesen Worten seine Geburtsstadt Hitzacker. Prinzessin Beatrix, seine Witwe und bis zu ihrer Abdankung 2013 Königin der Niederlande, trug sich gleich zweimal in das Goldene Buch der Stadt ein: 1965, als sie mit Claus dessen Mutter besuchte, und 2014 zur Eröffnung der Prinz-Claus-Promenade entlang der Hochwasserschutzmauer. Bis heute besuchen ihre Landsleute das hübsche Städtchen an der Elbe, dessen berühmtester Sohn die Herzen der Niederländer eroberte.
Skurriles, Rekordverdächtiges, Typisches: Weitere Teile unserer Länderkunde-Serie finden Sie hier.
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