Die zweite Hälfte von Vladimir Nabokovs klassischem Roman „Lolita“ spielt hauptsächlich in Motels. Das Ungeheuer, das im Zentrum des Buches steht – ein Professor für französische Literatur namens Humbert Humbert – hat gerade eben unverschämtes Glück gehabt: Die Mutter von Dolores Hase, dem zwölfjährigen Mädchen, nach dem ihn gelüstet, ist von einem Auto totgefahren worden.

Nun zieht er mit Dolores, die er „Lolita“ nennt, kreuz und quer durch die USA und gibt sich als ihr Beschützer aus. Nachts kommen die beiden in „sauberen, ordentlichen, sicheren Schlupfwinkeln“ unter, bei denen es sich, wie Humbert Humbert notiert, um „ideale Orte für den Schlaf, den Streit, die Versöhnung“ und „unersättliche gesetzwidrige Liebe“ handelt. Die Vokabel „Liebe“ dürfen wir uns hier in Anführungszeichen denken.

Nabokov, der nicht Auto fahren konnte, hat sich von seiner Ehefrau zwecks Tatortbesichtigung von Motel zu Motel herumkutschieren lassen. In „Lolita“ hielt er fest, was er auf diesen Erkundungsfahrten sah: Steinhäuschen unter gewaltigen Bäumen, Bauten aus Ziegel oder Lehmstein, Höfe aus Stuck in schattigen Kunstlandschaften.

Der Schriftsteller listet auf, wie die Etablissements hießen: „U-Beam-Courts“, „Skyline Courts“, „Park Plaza Courts“, „Green Acres“. Er notiert, wer sie führte: unter den Männern gescheiterte Geschäftsleute, pensionierte Lehrer und resozialisierte Strafgefangene, unter den Frauen falsche Ladys und „Varianten des Typs Bordellbetreiberin“.

Nabokov setzte dem Motel mit seinem 1955 erschienenen Roman ein literarisches Denkmal. Diese andere Art von Hotel, bei der die Zimmer direkt vom Parkplatz und nicht über eine Lobby zugänglich sind, ist so besonders, dass man meinen könnte, es habe sie in Amerika schon seit Erfindung des Automobils gegeben.

Aber nein, das Motel war, als Nabokov sein bekanntestes Werk veröffentlichte, erst 30 Jahre alt. Diesen Monat wird die Institution 100: Am 12. Dezember 1925 eröffneten die Gebrüder Arthur und Alfred Heineman – zwei Architekten, die ursprünglich aus Chicago stammten – die erste Unterkunft für müde Autofahrer in dem Städtchen San Luis Obispo, auf halber Wegstrecke zwischen San Francisco und Los Angeles. Sie nannten die Anlage „The Milestone Mo-Tel“. Der Legende nach kam die Bezeichnung zustande, weil die zwei Worte „Motor Hotel“ nicht auf das Schild gepasst hatten.

Geräusche aus dem Nachbarzimmer

Wenn man Nabokovs Roman liest, liegt der Eindruck nahe, die Amerikaner hätten eher ungern in Motels übernachtet. „Wir zahlten zehn für zwei Einzelbetten“, klagt Humbert Humbert, „draußen vor der Tür ohne Fliegengitter standen die Fliegen an und kletterten erfolgreich herein, die Asche unserer Vorgänger hielt sich immer noch in den Aschenbechern auf, ein Frauenhaar lag auf dem Kopfkissen, man hörte, wie der Nachbar seinen Mantel in den Schrank hängte, die Kleiderbügel waren, um dem Diebstahl vorzubeugen, auf geniale Weise mit Drahtspulen an ihren Stangen fixiert, und als krönende Beleidigung handelte es sich bei den Bildern über den beiden Einzelbetten um identische Zwillinge.“

Aber weit gefehlt! Das Motel war beliebt – und eine Erfolgsgeschichte. Es bot Komfort und sogar Duschen zum kleinen Preis. Bereits vier Jahre nach der Motel-Erfindung wurde 1929 das erste „Alamo Plaza“ in Texas eröffnet. Daraus wurde die erste der Motel-Ketten, die sich rasch über die USA ausbreiteten. Als im selben Jahr die Weltwirtschaftskrise begann, war das für die amerikanischen Motels ein ökonomischer Vorteil: Tausende Autofahrer schwärmten mit ihren Wagen aus, um nach Arbeit zu suchen, und unterwegs brauchten sie ja eine Übernachtungsmöglichkeit.

Bevor es Motels gab, blieb Autofahrern oft nichts anderes übrig als zu zelten. Die „Wigwam Villages“ waren eine Hotelkette, die in den 30er-Jahren mit ihrer Architektur auf diese Geschichte anspielte: Ihre Häuser waren große Tipi-Zelte aus Beton.

Eine Gruppe von Autofahrern profitierte nicht von dem neuen Trend: die schwarzen Amerikaner. Restaurants, Tankstellen, Motels in den Südstaaten – aber nicht nur dort – weigerten sich, Gäste zu bedienen, die auch nur ein bisschen dunkelhäutig waren. In ganz Amerika gab es „sundown towns“, in denen schwarze Autofahrer ihr Leben riskierten, wenn sie nach Sonnenuntergang auf den Straßen erwischt wurden. Viele Schwarze packten Benzinkanister, mehrere Mahlzeiten und eine tragbare Toilette ein, ehe sie sich auf die Reise machten.

1936 wurde in New York die erste Ausgabe des „Negro Motorist Green-Book“ gedruckt, das danach jährlich erschien – bis 1966. In diesem grünen Handbuch war penibel aufgelistet, welche Motels und Autowerkstätten infrage kamen, wo man als Schwarzer bedient und nicht angepöbelt wurde.

1941 trat Amerika in den Zweiten Weltkrieg ein, danach war Benzin rationiert, Urlaubsfahrten mussten entfallen. Das führte dazu, dass nach 1945 die Reisetätigkeit in den USA förmlich explodierte. Die Amerikaner tankten ihre Karren voll und gaben Gas. Damals entstand die Motel-Anmutung, die wir heute noch kennen: viel Neon, drei- oder vierstöckige Bettenburgen im nüchternen Stil, U-förmig um Parkplätze herumgebaut.

Sit-ins gegen Rassendiskriminierung

1952 wurde in Memphis, Tennessee, das erste „Holiday Inn“ eröffnet – besonderes Kennzeichen: blinkender roter Fünfzackstern über dem Firmenlogo. Eine Übernachtung kostete dort vier Dollar, was einem heutigen Gegenwert von 42 Euro entspricht. Zwei Jahre später kam ein berühmtes Motel für Schwarze hinzu, das „A. G. Gaston“ in Birmingham, Alabama. Martin Luther King traf sich dort mit anderen Anführern der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, um Demonstrationen und Sit-ins zu organisieren.

Zehn Jahre später führte dies dazu, dass Rassendiskriminierung in den Staaten verboten wurde. Das galt auch für Motels. Leider war die Geschichte des Rassismus in den USA damit nicht vorüber: 1968 wurde Martin Luther King im „Lorraine Motel“ in Memphis erschossen.

Heute befindet sich dort das Museum der schwarzen Bürgerrechtsbewegung. Mitte der 60er-Jahre erreichte die Motel-Begeisterung mit 61.000 Häusern ihren historischen Höchststand, schreibt Mark Okrant, Tourismusforscher an der Plymouth State University in New Hampshire.

Und nun müssen wir über eine der berühmtesten Filmszenen sprechen, die in einem Motel spielen: Wasser von oben, eine nackte Frau seift sich ein. Mehr Wasser. Hinter dem Duschvorhang erscheint eine schemenhafte Gestalt. Hysterische Musik, Wegreißen des Duschvorhangs. Ein Messer sticht auf die Frau ein. Eine krampfende Hand an der weißen Kachel. Blut (in Wahrheit war es Tinte) strömt in einen Abfluss in Nahaufnahme.

Das Ganze spielt im „Bates Motel“, das es gar nicht gibt. Trotzdem sorgte Alfred Hitchcock mit der Duschszene in „Psycho“ (1960) dafür, dass eine ganze Generation von Amerikanern, wenn sie im Motel übernachteten, erst einmal nachschaute, ob sich niemand im Badezimmer versteckt hatte.

Allerdings war nicht „Psycho“ schuld daran, dass Motels seit den 70er-Jahren allmählich verschwanden. Es lag hauptsächlich am Flugzeug. Nach 1945 wurde Fliegen in den USA lächerlich billig, zugleich breiteten sich Autovermieter aus. Niemand musste mehr Tausende Kilometer mit dem eigenen Wagen zurücklegen.

Hinzu kam, dass nach dem Zweiten Weltkrieg die Interstate Highways gebaut wurden, die US-Version der Autobahnen. 1984 wurde die berühmte Route 66, die von Chicago bis nach Santa Monica in Kalifornien führte, außer Dienst gestellt; kein Mensch brauchte sie mehr. Damit hatten viele alte Motels im Familienbesitz ihre Verkehrsanbindung verloren. 2012 gab es in den Staaten noch 16.000 Motels, das war’s.

Eine Renaissance erlebten Motels während der Covid-Pandemie: Amerikaner setzten sich nun wieder lieber ins Auto als ins Flugzeug und übernachteten in Motels, weil die – anders als Hotels – ihre Treppen draußen haben und man über offene Galerien ins Zimmer gelangt.

Der allerneueste Trend jedoch ist: schick und teuer. Keine Fliegen mehr, keine Frauenhaare auf dem Kopfkissen, keine kalte Asche; stattdessen luxuriöse Zimmer, Spitzengastronomie, Privatstrände. Diese neuen Motels würden zu „hot destinations“, lobt die „New York Times“, bei denen die Gründer des „Milestone Mo-Tels“ vor Neid erblasst wären.

Tipps – drei neue Luxus-Motels in den USA:

„Silver Sands Motel & Beach Bungalows“ in Greenport, auf Long Island direkt am Privatstrand gelegen; die 1957 eröffnete Anlage wurde mit Fingerspitzengefühl aufgemöbelt, ohne auf zeitgemäßen Luxus zu verzichten, Doppelzimmer ab umgerechnet 165 Euro; Hochsaison bis 673 Euro (silversandsmotel.com).

„The Bluebird Spa City Motor Lodge“ in Saratoga Springs – die Stadt im Staat New York ist berühmt für Heilwasser und Thermalquellen; das frisch renovierte, modern gestaltete Motel (von 1982) liegt direkt am Broadway, der angesagtesten Straße in der „Spa City“, Doppelzimmer ab 78 Euro (bluebirdhotels.com/hotels/spa-city).

„Skyview Los Alamos“, 1959 im kalifornischen Los Alamos eröffnet, bietet das liebevoll umgestaltete Motel charmante Zimmer, Pool, gute Gastronomie, weiten Landschaftsblick von der Terrasse und an der Straße ein nostalgisches Neonleuchtschild; Doppelzimmer ab 155 Euro (skyviewlosalamos.com).

Reservierungen sind in allen drei Motels empfohlen, an beliebten Tagen gibt es Wartelisten.

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