Ein Hauch schwäbischer Renaissance – Wo Frankreich ein deutsches Gesicht trägt
Das soll Frankreich sein? Kaum zu glauben. Eher fühlt man sich hier wie in Schwaben! Die Rede ist von der ostfranzösischen Franche-Comté, gelegen zwischen den Vogesen und dem Juragebirge, durchzogen vom gemächlich dahinziehenden Fluss Doubs. Eine Gegend, die erst spät französisch wurde.
Vor allem Montbéliard und sein Umland, aber auch Besançon, heute die Hauptstadt der Region, sind Teil der sogenannten Reichsromania. Das waren linksrheinische, romanischsprachige Gebiete, die zum Herrschaftsbereich des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation gehörten, das 1806 im Zuge der Neuordnung Europas durch Napoleon aufgelöst wurde.
Die Region ist selbst vielen Franzosen nicht so recht vertraut. Aber das dürfte sich bald ändern. Denn sie putzt sich gegenwärtig mächtig heraus, macht mehr denn je in Tourismus. Und siehe da: Ein ungewöhnliches, keinem der üblichen Klischees entsprechendes Frankreich kann man hier entdecken – ein ruhiges, beschauliches, das tief vom Protestantismus und von deutschen Einflüssen geprägt ist.
Deutsche Einflüsse im Osten Frankreichs
Beginnen wir mit Montbéliard. Landwirtschaftlich interessierten Menschen fallen zu diesem Namen glückliche Kühe ein. In der Tat: Die rot-weiß gescheckten Montbéliards, deren Milch viel Fett und Protein enthält und für den weltbekannten Comté-Käse genutzt wird, sind wahrscheinlich die bekanntesten Lebewesen weit und breit.
Franzosen wissen außerdem, dass vor den Toren dieser Stadt Peugeot seine Hauptfabrikation besaß. Wer die Stadt vom Bahnhof aus betritt, erblickt sofort ein fantasievolles Jugendstilgebäude mit smaragdgrüner Kuppel und Löwenemblem, das einst als Showroom diente.
Peugeot steht für das Industriezeitalter. Vor allem in den französischen Wohlstandsjahren zwischen 1950 und 1980 waren hier 40.000 Arbeiter beschäftigt; heute sind es noch 7000. Das gut bestückte Peugeot-Museum inszeniert die Geschichte der Marke als Industriesaga – hier wurden schließlich nicht nur Autos, sondern auch Sägeblätter und Kaffeemühlen produziert.
Das Stadtmarketing setzt allerdings auf eine andere Epoche. Sie wird repräsentiert durch ein Bauwerk, das noch spektakulärer wirkt als der alte Peugeot-Showroom: das wuchtige Schloss auf einem Felssporn, das ebenfalls sofort ins Auge fällt, wenn man den Ort betritt, in dem heute etwa 25.000 Menschen leben.
Der festungsartige Bau zeigt an, welcher Zeitraum die Stadt vor allem prägte: die Renaissance. Es war ein deutscher Architekt, der in diesem Stil hier baute und als Stadtplaner um 1600 ein ganzes neues Viertel anlegte – Heinrich Schickhardt. Er stammte aus Herrenberg bei Tübingen und verlieh als enger Vertrauter seines Landesherrn Herzog Friedrich von Württemberg der Franche-Comté ihr heute noch sichtbares schwäbisches Gesicht.
Denn die Grafschaft Mömpelgard, wie sie damals hieß, gehörte seit 1397 vier Jahrhunderte lang durch Heirat des württembergischen Landesherrn mit Henriette von Mömpelgard zu Württemberg. Kein Wunder, dass hier 1950 die erste deutsch-französische Städtepartnerschaft geschmiedet und Montbéliard mit Ludwigsburg verbunden wurde.
Schwäbische Renaissance dank deutschem Stadtplaner
Doch zurück zu Heinrich Schickhardt. Das Tourismusbüro Montbéliard hat eine Route auf seinen Spuren angelegt, die eine exzellente Möglichkeit darstellt, die kleine Stadt zu erkunden. Wer dafür die angegebenen anderthalb Stunden einplant, hat zumindest von außen alles gesehen, was wichtig ist. Angefangen beim herzoglichen Schloss, das bis 2028 geschlossen ist, weil sein Museumsparcours mit viel neuem szenografischem Material versehen wird.
Aber seine äußere Gestalt ist ohnehin interessanter als das Innere: In den unteren Geschossen zeigt es sich mit seinen Buckelquadern noch mittelalterlich, in den oberen Stockwerken sieht man Schickhardts Handschrift. Seine großen Fenster stehen für eine Wohnkultur, die das Mittelalter nicht kannte. Das charakteristischste Gebäude ist hier das Kavaliershaus mit seinem mit Ornamenten verzierten Volutengiebel, das im Moment ebenfalls renoviert wird. Kenner fühlen sich an das Alte Rathaus von Esslingen erinnert – schwäbische Renaissance halt!
Auch das ehemalige Collegium Illustre der Universitätsstadt Tübingen, also die Ritterakademie, die heute als Wilhelmsstift den katholischen Theologen gewidmet ist, hat in Montbéliard Pate gestanden für ein Bauwerk. Umbauten im Laufe der Jahrhunderte haben dieses Collège Universitaire allerdings bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Auch viele andere Schickhardt-Bauten wurden überformt.
Rühmliche Ausnahme: Der Temple Saint-Martin, wie man auf Französisch protestantische Kirchen nennt. Diese Martinskirche hält der Vorsitzende der Historischen Gesellschaft von Montbéliard, André Bouvard, für das Hauptwerk Schickhardts. Es wirkt wie ein steingewordenes Stück Italien von 1604. Wenige Jahre zuvor hatte sich der Architekt mit seinem Herzog die neuesten baulichen Entwicklungen vor allem in Trient und Rom angeschaut und in Montbéliard eindrucksvoll umgesetzt.
Ohnehin sei der Mann dauernd auf Achse gewesen, betont der Stadthistoriker, der sofort ins Schwärmen gerät, wenn er von Schickhardt spricht: „Schickhardt war ja so penibel! Er führte über alles Buch. Dadurch wissen wir, dass er mindestens 30 Mal zwischen Montbéliard und Stuttgart, wo sein Chef residierte, hin und her pendelte.“
Schickhardt, den man vor Ort auch liebevoll den Leonardo Schwabens nennt, weil er auch Maschinen baute, unternahm seine Dienstreisen hoch zu Ross, ergänzt Bouvard, „er wurde durch die vielen Aufträge seines Herzogs steinreich. Wir verdanken ihm auch eine flotte Beschreibung seiner Italienreise“.
Grandezza trifft Schmucklosigkeit
Eine gewisse Grandezza ist dem symmetrisch gegliederten, üppig mit Pilastern und Giebeln versehenen Gotteshaus Saint-Martin tatsächlich nicht abzusprechen. Aber es sieht eben auch ein bisschen wie aus dem Baukasten aus. Und innen ist es nicht nur von protestantischer Schlichtheit, sondern auch von calvinistischer Schmucklosigkeit geprägt: keine Bilder, keine Statuen, nichts, was das Auge von der reinen Lehre ablenken könnte – abgesehen von den Wandzeichnungen, die etwas fantasielos die Außenwand der Kirche reproduzieren.
Umso schöner, wenn man, den Tempel umrundend, noch mehr exquisite Architektur erblickt, die der Place Saint-Martin ihr nobles Gepräge gibt, unter anderem das schon ins Klassizistische hinüberspielende Rathaus, ebenfalls von einem berühmten Architekten stammend, der viel in Württemberg gebaut hat, allerdings 150 Jahre später: Philippe de la Guepière. Er ist der Schöpfer des Neuen Schlosses von Stuttgart, der Solitude sowie des Schlosses Monrepos bei Ludwigsburg.
Dass hier überall Autos stehen dürfen, verweist auf eine weniger erfreuliche Seite der protestantischen Prägung dieser Region. Es siegt das Praktische über das Schöne!
Gut 80 Kilometer weiter südwestlich, in Besançon, ist man da entschieden weiter. Fast das gesamte historische Zentrum ist vom Autoverkehr befreit. Vielleicht weil die Stadt nicht wie Montbéliard erst 1793, sondern schon 1678 unter Ludwig XIV. an Frankreich fiel? Jedenfalls bietet sich Besançon geradezu majestätisch dar.
Mit dem Quai Vauban entlang des Doubs hat es eine wohlproportionierte Blockbebauung geschaffen, die es ohne Weiteres mit der Pariser Place des Vosges aufnehmen kann, auch wenn ihr die roten Ziegelsteine fehlen. Am Doubs dominiert, wie in der Altstadt überhaupt, ein heller Kalkstein, der bei abendlicher Beleuchtung wie mattes Silber mit einem Stich ins Blaue schimmert.
Rechtwinklig ist die Stadt angelegt, sodass man sich leicht zurechtfindet. Die Grande Rue durchzieht das Zentrum, hier liegen die meisten offiziellen Gebäude, überwiegend aus dem 17. und 18. Jahrhundert, an manchen von ihnen prangt noch der alte Reichsadler.
Doppel-Auszeichnung von der Unesco
Die Stadt wurde von der Unesco gleich doppelt ausgezeichnet: Ihre Zitadelle, die der berühmte französische Festungsbaumeister Vauban anlegte, ist Weltkulturerbe, und die Kunst der Uhrmacherei zählt zum immateriellen Kulturerbe der Menschheit, das die Region von hier bis hinüber in die Schweiz umfasst.
Von dieser „Horlogerie“ her rührt auch Besançons großer Reichtum in jener Zeit. Er führte zu einem ausgeprägten Bürgersinn, und so entstand hier das älteste Museum Frankreichs – anders als der Pariser Louvre von vornherein als Musée des Beaux Arts gedacht.
Dieses Schatzhaus zeigt nicht nur die Großmeister der französischen Malerei vom Barock bis in die Moderne, mit einem Schwerpunkt auf dem großen Realisten Gustave Courbet. Es verfügt auch über eine große archäologische Abteilung. Hier kann man ganze Bodenmosaiken bestaunen, denn vor den Ottonen waren schon die Römer und Merowinger hier. Doch am schönsten kommt die antike Vorgeschichte der Stadt am Square Castan zur Geltung, dort wo die Grande Rue zur Kathedrale sowie zur dahinterliegenden Zitadelle ansteigt.
Man spürt sofort, dass dies einst ein heiliger Ort gewesen ist. Noch heute, wo von der vermuteten Kultstätte der Römer beziehungsweise von der Basilika aus der Merowingerzeit nichts mehr übrig ist, entfaltet der von riesigen Bäumen überschattete Platz seine Magie. Hohe korinthische Säulen bilden ein Halbrund, das den Platz zur Straße hin abschirmt. Kleinere Architekturfragmente stehen über das abschüssige Terrain verstreut, das an seinem tiefsten Punkt zu einem uralten Brunnen führt.
Kann es Zufall sein, dass schräg gegenüber dieser Stätte jener Mann geboren wurde, der schon zu Lebzeiten den Franzosen als ihr bedeutendster Dichter galt? Sein Geburtshaus beherbergt ein Museum, das mit geschickt ausgewählten Exponaten über sein verzweigtes Werk informiert.
Es handelt sich um Victor Hugo, den Schöpfer des epochalen Romans „Les Misérables“, der auch in seiner Musicalfassung um die Welt ging. Als er hier 1802 zur Welt kam, hatte man die alte Kultstätte am Square Castan noch nicht ausgegraben, aber als Kraftfeld mag sie durchaus Einfluss auf das spätere Universalgenie gehabt haben.
Jedenfalls hätte Hugo selbst das so gesehen. Denn er war nicht nur ein Anwalt der Armen, er hatte auch eine mystische Ader. Und eine archäologische dazu. Zwar grub er keine römischen Hinterlassenschaften aus, dafür das französische Mittelalter. Was ist sein literarisches Debüt, „Notre Dame de Paris“ („Der Glöckner von Notre Dame“) anderes als eine Rehabilitierung jener fernen Zeit?
Eintauchen in die Geschichte wie Victor Hugo, ohne die Gegenwart aus den Augen zu verlieren, das kann man in Montbéliard und Besançon wunderbar. Beide Städte stehen auf je eigene Weise für den Kampf der Katholiken gegen die Protestanten. Trotzdem zeigte sich das katholische Frankreich offen für die kulturellen Einflüsse aus dem protestantischen Deutschland. Besonders, wenn sie aus Schwaben kamen.
Tipps und Informationen:
Wie kommt man hin? Man fliegt entweder bis Basel-Mulhouse und fährt vom Flughafen mit dem Bus auf der französischen Seite bis zum Bahnhof Saint-Louis, von wo Nahverkehrszüge nach Montbéliard und Besançon verkehren. Oder man nimmt von Frankfurt/Main den Hochgeschwindigkeitszug TGV, der ohne Umsteigen bis Besançon fährt. Autofahrer nehmen ab Basel die Autobahn A36 in die Franche-Comté.
Was sollte man anschauen? Montbéliard: Stadtrundgang auf den Spuren Heinrich Schickhardts, Martinskirche und Schloss der Herzöge von Württemberg, Infos unter paysdemontbeliard-tourisme.com. Automuseum L‘Aventure Peugeot, Eintritt zwölf Euro, montags geschlossen (laventure-association.com/en).
Besançon: Museum der Schönen Künste, Eintritt 8,60 Euro, geöffnet täglich außer dienstags; Square Castan und seine römischen Überreste (besancon-tourisme.com/de). Geburtshaus von Victor Hugo in der Grande Rue 140, geöffnet täglich außer dienstags, Eintritt 3,20 Euro (maisonvictorhugo.besancon.fr/en).
Wo wohnt man gut? „Hotel de la Balance“ in Montbéliard, Doppelzimmer ab 68 Euro, charmantes Boutiquehotel mit Frühstücksraum in einem Ballsaal aus dem 19. Jahrhundert, in dem ältesten Gasthaus der Stadt logierte schon der russische Komponist Peter Tschaikowsky, der französische Marschall Jean de Lattre de Tassigny nutzte das Haus 1944 als Hauptquartier (hotellabalance.de). „Hotel Le Sauvage“ in Besançon, entrücktes Ambiente in einem ehemaligen Kloster am Fuß der Zitadelle, Doppelzimmer ab 135 Euro (lesauvage-besancon.fr). „Logis Hôtel & Spa Victor Hugo“ im Zentrum von Besançon, Vier-Sterne-Haus mit größerem Wellnessbereich, Doppelzimmer ab 95 Euro (logishotels.com/de).
Weitere Infos: bourgognefranchecomte.com; paysdemontbeliard-tourisme.com, france.fr/de
Die Teilnahme an der Reise wurde unterstützt von Bourgogne-Franche-Comté Tourisme und vom Pays de Montbéliard Tourisme. Unsere Standards der Transparenz und journalistischen Unabhängigkeit finden Sie unter go2.as/unabhaengigkeit
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