Die Auffahrt ist von herrschaftlicher Wucht. In schnurgerader Linie zieht sich eine asphaltierte, von Linden und Buchen gesäumte Straße acht Kilometer weit durch idyllisch-englische Szenerie. In der Ferne grüne Hügel, Hecken, blühendes Heidekraut, ein See. Grasende Schafe und herumstolzierende Fasanen, deren Federkleid kupfrig in der Herbstsonne glänzt.

Hier schmückt ein mittelalterlich anmutendes Torhaus die Landschaft, dort eine Pyramide, ein Obelisk, ein Lustpavillon mit Säulen; weit hinten, aschgrau, steht ein Mausoleum. Und am Ende dieses „Avenue“ genannten Zugangswegs steht ein Einfamilienhaus. Da wohnen die Eheleute Howard.

Zugegeben: in einem ungewöhnlichen Heim von enormen Dimensionen. Die nach Süden ausgerichtete Prachtfassade misst um die hundert Meter. Die gewaltige vergoldete Kuppel ist noch aus fünf Kilometern Entfernung mit bloßem Auge zu sehen. Und es dürfte wenige Besucher dieser Gegend in der Grafschaft North Yorkshire geben, die bei dem Anblick nicht einen subtilen Déjà-vu-Moment erleben: Augenblick, das kennt man doch irgendwoher?

Korrekt. Denn viele, die ab und zu einen Film streamen oder im Kino sitzen, sind diesem geschichtsträchtigen Anwesen, Castle Howard, schon einmal begegnet, wahrscheinlich mehrfach. Es ist ein steinerner Filmstar. 2020 beispielsweise legte die pseudohistorische Netflix-Serie „Bridgerton“ los, ein Welterfolg mit Castle Howard als Kulisse.

Schon früher, 1975, setzte Kultregisseur Stanley Kubrick das Schloss in seinem Oscar-prämierten Streifen „Barry Lyndon“ in Szene, und im Film „Garfield 2“ stellt es Carlyle Castle dar. Castle Howard ist ein weltberühmter Leinwand-Star, den man auch als normaler Mensch besuchen kann. Das Prachtschloss, etwa eine halbe Autostunde nordöstlich von York gelegen, ist nach aufwendiger Renovierung seit diesem Jahr wieder für die Öffentlichkeit zugänglich.

Illustre Lebensläufe

Die Historie des Palasts setzt um das Jahr 1700 ein, die der namensgebenden Familie deutlich früher. Nicholas Howard, Jahrgang 1952, ist Oberhaupt einer nachrangigen Seitenlinie eines höchstadligen Clans, der im Inselreich Geschichte schrieb. Die Howards stellten im 16. Jahrhundert gleich zwei Königinnen Englands, Anne Boleyn und Catherine Howard. Beide waren Nichten von Thomas Howard, des dritten Herzogs von Norfolk; beide waren nacheinander verheiratet mit Heinrich VIII.; beide machte der Tudor-König, unschöner Abschluss des illustren Lebenslaufs, einen Kopf kürzer.

Die Idee für ein neues Anwesen in Yorkshire kam wiederum Charles Howard, dem Earl of Carlisle Nummer drei, im Jahr 1699. Zum Architekten bestellte er einen gewissen John Vanbrugh, eine schillernde Figur der Londoner Theaterwelt. Über den ist festzuhalten, dass er zwar ein kreativer Typ war, bis dahin aber noch überhaupt nichts gebaut hatte – weder ein Haus noch eine Hütte geschweige denn ein Riesenschloss. Ein Dilettant also.

Aber Carlisle wusste, was er wollte. Er hatte, für junge Erben blauen Blutes damals Teil des Bildungsprogramms, eine Grand Tour nach Italien absolviert und war dort auf den Geschmack gekommen. Es sollte etwas „Italienisches“ werden, stilistisch auf der Höhe der Zeit, schmuckreich: barock.

Erstaunlicherweise wurde Vanbrughs Design, später ergänzt von Mitstreitern wie Nicholas Hawksmoor, ein Erfolg und ein Jahrhundert-Bauwerk – nicht zuletzt in dem Sinne, dass es mehr als hundert Jahre dauerte, bis das Großgebäude einigermaßen fertig war. Als Zeitpunkt der Vollendung gilt 1811, als die etwa fünfzig Meter messende Long Gallery mit Innenleben gefüllt wurde. Die imposante Halle ist seit Frühjahr wieder als Gemäldegalerie zugänglich.

Am 9. November 1940 jedoch, der Bau wurde kriegsbedingt als Mädchenschule genutzt, die Katastrophe: Feuer! Mehr als 20 Räume, die zentrale Kuppel und unwiederbringliche Kunstwerke – darunter viele Stadtansichten des venezianischen Meisters Canaletto – wurden ein Opfer der Flammen. „Noch heute ist ein Flügel des Hauses zerstört“, sagt Kurator Matthew Wood. Nach dem Brand „konnte sich niemand vorstellen, dass das Haus jemals wieder bewohnt sein würde“. Die Howards, vertraut mit den Unbilden der Zeitläufte, bauten jedoch wieder auf.

Kunstwerke feinster Provenienz

1952 öffnete der Palast seine Pforten für zahlende Besucher, 1962 war die Kuppel erneuert. Wobei die Wiederinstandsetzung bis heute nicht vollendet ist. Den immer noch vom Brand vor 85 Jahren verwüsteten Südosttrakt bekommen Touristen bislang nicht zu sehen, man hat ihn unauffällig abgeriegelt. Zu bestaunen gibt es in den öffentlich zugänglichen Palastflügeln dafür Kunstwerke und Mobiliar feinster Provenienz, Porzellan und Antikes erster Güte, motivisch schwerpunktmäßig mit italienisch-römischem Einschlag.

Allerdings hat erst eine andere, zeitgenössischere Kunstform Castle Howard weltbekannt gemacht. Der Ruhm setzte 1981 mit der Verfilmung des Romans „Wiedersehen mit Brideshead“ von Evelyn Waugh ein, mit dem jungen Jeremy Irons in einer der Hauptrollen.

„Die Geschichte von Castle Howard und die Geschichte von ‚Brideshead‘ sind eng miteinander verknüpft“, sagt Wood. „In den 1980er-Jahren strömten die Leute geradezu hierher.“ Und heute strömen sie noch immer. All die Filme haben dafür gesorgt, dass inzwischen um die 280.000 Besucher im Jahr kommen, wie Ammie Jones sagt, eine von insgesamt rund 200 Beschäftigten auf dem Anwesen.

Ein besonderer Charme des Hauses liegt jedoch abseits der Kinokarriere. Das Schloss ist einerseits zwar ein öffentlich zugängliches Museum. Andererseits dient es weiterhin als Heim von Nicholas und Victoria Howard. (Deren Kinder George, Jahrgang 1985, und Blanche, Jahrgang 1994, sind aus dem Haus, kommen aber, wie man hört, öfter zu Besuch.)

Die Howards logieren noch immer

Die Familie logiert sommers im abseitig gelegenen Ostflügel, im Winter allerdings, wenn der Palast für Besucher geschlossen bleibt, im Gesamtensemble. Heißt: Die prächtigen, mit Brokat, Seide und Intarsien geschmückten Himmelbetten, die Touristen in den diversen hochherrschaftlichen Schlafgemächern bestaunen können, werden nicht nur regelmäßig von normalen Menschenfingern angefasst – in ihnen wird sogar geschlafen!

Das sorgt für eine anmutige Lebendigkeit anstelle des erstarrten Muffs manch musealen Prestigebaus. Wenn ein Kunstwerk erst einmal zum reinen Ausstellungsobjekt degradiert wird, wie es sinngemäß der englische Schriftsteller Bruce Chatwin einmal formulierte, dann stirbt es. Nicht so hier. „Das Haus lebt“, sagt Wood.

Einziger Wermutstropfen: Ein Besuch auf Castle Howard ist nicht ganz billig. Ein Familienticket (vier Personen, Schloss und Park) schlägt bei Onlinebuchung mit gut 80 Euro zu Buche, ein Einzelticket kostet um 30 Euro. Eine preiswertere Alternative für alle, die weniger Geld in der Reisekasse haben: die Gärten inklusive Stallungen von Castle Howard mit ihrem ebenfalls imposanten, 1782 vollendeten Innenhof, der an und für sich schon die Größe eines kleineren Landadelssitzes hat.

Hier sieht man bereits eine ganze Menge an historischer Pracht und kann im „Courtyard Café“ zum Afternoon Tea in standesgemäßer Perfektion einkehren – mit Scones aus der Schlossküche, fetter Clotted Cream und Erdbeermarmelade aus Yorkshire. In die Tasse kommt natürlich original Yorkshire Tea aus dem nahe gelegenen Harrogate, ein kräftiger Blend – und inzwischen die meistgetrunkene Teesorte Großbritanniens.

Tipps zu Castle Howard:

Anreise: Vom Londoner Bahnhof King’s Cross in unter zwei Stunden mit dem Zug nach York, von dort mit dem Auto in etwa 30 Minuten nach Castle Howard. Alternativ kann man von Deutschland aus nach Leeds, Manchester oder Newcastle fliegen und von dort mit Bahn oder Auto weiterreisen.

Unterkunft: „Middletons Hotel“ in Yorks Altstadt mit kleinen, stilvoll-urigen Zimmern, Doppelzimmer ab umgerechnet 111 Euro (middletonsyork.co.uk). „Sandburn Hall“, etwa 15 Autominuten von Castle Howard entfernt in Flaxton bei York, Doppelzimmer ab 180 Euro (sandburnhall.co.uk).

Infos: Der Eintritt (Schloss und Park) kostet für Erwachsene 28 bis 30 Euro pro Person, Kinder zahlen die Hälfte, Tickets für den Park sind für umgerechnet 17 Euro zu haben. Im Winterhalbjahr ist das Anwesen geschlossen (castlehoward.co.uk).

Allgemeine Tipps: visitbritain.com

Weitere Paläste, die Filmkarriere gemacht haben

Blenheim Palace: Blenheim Palace bei Woodstock in Oxfordshire, etwa 20 Autominuten außerhalb der Universitätsstadt Oxford gelegen, entstand fast zeitgleich mit Castle Howard, ebenfalls unter baumeisterlicher Federführung von John Vanbrugh. Den Palast ließ Queen Anne nach der Battle of Blenheim im Spanischen Erbfolgekrieg (im deutschen Sprachraum als Schlacht von Höchstädt bekannt, 1704) für ihren siegreichen Feldherrn John Churchill errichten, den ersten Duke of Marlborough. 1874 kam hier Winston Churchill auf die Welt, einer der Nachfahren des Herzogs und langjähriger britischer Premierminister.

2024 zählte Blenheim Palace fast eine Million Besucher, was neben der historischen Bedeutung und Schönheit von Palast und Park auch an den vielen Filmszenen liegt, die hier gedreht wurden. Im Schloss schlugen zum Beispiel James Bond („Spectre“, 2015), Cinderella (2015), Harry Potter („Der Orden des Phönix“, 2007) sowie US-Weltstar Tom Cruise („Mission: Impossible – Rogue Nation“, 2015) auf (blenheimpalace.com).

Chatsworth House: Chatsworth House in der Grafschaft Derbyshire ist der Stammsitz der Herzöge von Devonshire und der Cavendishs, entfernten Verwandten der Howards.

Das Anwesen, eines der bekanntesten Herrenhäuser Englands, zählt 175 Räume, Bibliothek und Skulpturengalerie; es lockt pro Jahr gut 600.000 Besucher an. Unter anderem diente es in der Verfilmung des Jane-Austen-Klassikers „Stolz und Vorurteil“ (2005) und in „Die Herzogin“ (2008) als Kulisse (chatsworth.org).

Highclere Castle: Highclere Castle in der südenglischen Grafschaft Hampshire, ein Anwesen aus der viktorianischen Ära im Stil der Neo-Renaissance, ist vor allem dank der Erfolgsserie „Downton Abbey“ weltberühmt, die 2010 mit der ersten Staffel an den Start ging. Die „Downton Abbey“-Kinofilme wurden hier ebenfalls gedreht. Auf Bildschirm und Leinwand dient das Gebäude mit seinem prägnanten Turm als Wohnstätte des Earls of Grantham und der Crawleys; in der wirklichen Welt hat hier das Adelsgeschlecht der Carnarvons seinen Sitz.

Das Anwesen steht Besuchern in den Sommermonaten und an einzelnen Tagen im Herbst und Winter offen – dann schlagen hier täglich mehr als tausend Schaulustige auf. Zu ausgewählten Terminen werden auch Touren zu Filmkulissen angeboten (highclerecastle.co.uk).

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