Wenn Pavla Doležalová über den Wenzelsplatz schlendert, ist die Architektin in ihrem Element: „Ich mag das Haus der Adam-Apotheke, weil die Fassade eine Symbiose aus mehreren Baustilen darstellt, mit Jugendstil, Kubismus und Modernismus.“ Das fünfstöckige Haus trägt die Hausnummer 8 und steht direkt neben dem funktionalistischen Bata-Gebäude des berühmten Schuhherstellers (Nr. 6) – „ein schöner Kontrast!“

Gar nicht gefällt ihr dagegen das Duplex-Haus (Nr. 21): „Zu brutalistisch, da fehlt jeglicher ästhetischer Wert“, sagt die Spezialistin, die zu den führenden Baumeistern in der tschechischen Hauptstadt zählt, über den schmucklosen Glaskasten, auf dessen Dach das „Duplex“ residiert, Prags bekanntester Club (Nr. 21) mit zwei Bühnen und fünf Bars.

Václavské Náměstí, der Wenzelsplatz, ist 750 Meter lang und 60 Meter breit, er gilt vielen Tschechen als Salon der Republik, denn er symbolisiert die wechselhafte Geschichte des Landes wie kein anderer Ort. Ein Spaziergang ist wie ein Gang durch ein lebendiges, riesiges Architekturmuseum.

Unbefleckt ist sein Image nicht: „Er ist kein Bilderbuchplatz, es gibt Ecken und Kanten, Bratwurstbuden und Casinos, Lokale und Hotels, Geschäfte über Geschäfte. Schulklassen gehen auf Exkursion und Schlepper nachts auf Kundenfang, um für zwielichtige Spelunken in den Seitenstraßen zu werben“, sagt Olga Trčková von der DSC Gallery, die vom Wenzelsplatz wegzog, „weil die Dealer meine Skulpturen auf dem Platz als ihr Revier ansahen. Aber es ist besser geworden in letzter Zeit.“

Für Schlepper und Dealer kein Platz mehr

Sie setzt auf die laufende Umgestaltung des Platzes – Doppel-Baumreihen auf beiden Seiten und der Mittelteil als Fußgängerzone sollen dem Wenzelsplatz noch in diesem Jahr den Charakter eines eleganten Boulevards geben. „Dann wird für Schlepper und Dealer hoffentlich kein Platz mehr sein“, sagt die Galeristin.

Architektin Doležalová liebt am Wenzelsplatz, dessen Gebäude zumeist im 19. und frühen 20. Jahrhundert erbaut wurden, „das Gefühl, als schlendere man durch ein Lehrbuch der europäischen Baukunst.“ Dominiert wird der Platz vom 1818 gegründeten Nationalmuseum an der Südseite, einem mächtigen Neorenaissance-Gebäude, das gut 20 Millionen Ausstellungsobjekte beherbergt.

Davor reitet der Namensgeber des Platzes stolz auf einem Pferd: Das bronzene Reiterstandbild von 1913 zeigt den ersten christlichen Märtyrer Böhmens, den heiligen Wenzel, nach dem der Platz 1848 benannt wurde. Rechts und links von der Symbolfigur gibt es Richtung Norden Neobarock (Nr. 19), Neoklassizismus (Nr. 58), Eklektizismus (Nr. 18), Bürgerhäuser wie das Haus zur Goldenen Gans (Nr. 7), aber auch Zweckbauten wie das verglaste Haus Diamant (Nr. 3) und den jüngsten Neubau, das futuristische Flow Building (Nr. 47) von 2021.

Am auffälligsten sind jedoch die wunderbaren Jugendstil-Gebäude, die den Platz säumen, beispielsweise der Krone-Palast (Nr. 1) mit markantem Eckturm, der eine mächtige Krone trägt. Oder der Palast Lucerna (Nr. 38) mit der gleichnamigen Passage, in der man die besten Chlebíčky der Stadt bekommt (das sind üppig belegte Brotschnitten, an sieben Tagen pro Woche frisch zubereitet im „Ovocný Svetozor“).

Weiteres Highlight in der Nr. 38 ist das Denkmal eines kopfüber hängenden Pferds – eine Persiflage auf das Reiterstandbild des heiligen Wenzel von Skandalkünstler David Černý. In der Lucerna-Passage sitzt Wenzel auf dem Bauch des Tiers, dessen Zunge heraushängt: „Es symbolisiert den Zustand des ganzen Landes“, sagt der Bildhauer und Provokateur.

Die schönste aller Jugendstilfassaden hat allerdings das altehrwürdige „Grand Hotel Europa“ (Nr. 25), das von Architektin Doležalová mit viel Fingerspitzengefühl vor wenigen Monaten umgestaltet wurde. Es ist nun Teil der prestigeträchtigen W-Lifestyle-Marke von Marriott, der größten Hotelgruppe der Welt.

Nur auf's Kroko-Leder wurde verzichtet

161 Zimmer bietet das Prager Haus. Es liegt mittig auf der Sonnenseite des Wenzelsplatzes. Die Fassade wurde so detailgetreu wie möglich renoviert, sie sieht wieder so aus wie 1905, als das Hotel von Neorenaissance-Dekor auf Jugendstil getrimmt wurde. „Nur das goldene ‚W‘ direkt unter den drei goldenen Damen, die auf dem Dach des Hauses symbolträchtig eine Weltkugel tragen, gab es einst nicht“, sagt Doležalová.

Innen wurde so viel wie möglich rekonstruiert. „Ich war manchmal zweimal pro Woche beim Amt für Denkmalschutz“, erklärt die Architektin, „70 Prozent aller Jugendstilelemente im Haus sind original! Wir haben sogar die Tische im ‚Grand Café‘ so gestellt, wie sie früher standen.“ Die Sitzbezüge der Stühle dort waren aus Krokodilleder – „das wurde natürlich nicht übernommen“.

Doležalová zeigt auf das linke Eck im Café, direkt am schon damals versenkbaren, knapp zehn Quadratmeter großen Frontfenster zum Wenzelsplatz: „Dort saß immer Václav Havel“, der es vom Oppositionellen im Kommunismus zum ersten frei gewählten Präsidenten Tschechiens gebracht hatte. Franz Kafka hielt seine einzige öffentliche Lesung dagegen im Spiegelsaal des Hotels.

Die umfassende Renovierung war auch deshalb notwendig, weil im Sozialismus kein sonderlicher Wert auf bürgerlichen Lifestyle gelegt worden war, das Hotel wurde jahrzehntelang heruntergewirtschaftet. Immerhin diente es 1996 als Filmkulisse für den Action-Klassiker „Mission: Impossible“. Nun ist es wachgeküsst. Holzvertäfelungen, Marmor und Spiegel, unterschiedlichste Lüster- und Lampentypen, die herrliche Empore: Man kommt aus dem Staunen nicht heraus.

Václav Havels berühmte Worte

Am schönsten sind die Zimmer mit Balkon zum Wenzelsplatz, von wo man direkt gegenüber auf das Melantrich-Haus (Nr. 36) schaut. Von dort rief Václav Havel 1989 seine berühmt gewordenen Worte: „Die Wahrheit und die Liebe siegen über Lüge und Hass!“

Hunderttausende Demonstranten hatten sich damals auf dem Platz versammelt, sie waren mit Havel einig über die überfällige Umgestaltung der ČSSR. Die Samtene Revolution schlug schließlich das kommunistische Regime. Die Köpfe der gewaltfreien Bewegung hießen Václav Havel und Alexander Dubček. Und Havel wurde vom Melantrich-Haus-Balkon praktisch direkt auf die Burg, den traditionellen Sitz des Staatspräsidenten, gejubelt. Die Leute wollten den Dichter und Philosophen im höchsten Amt des Staates. Als Havel 2011 starb, trauerten Zehntausende um ihn auf Prags größtem Platz.

Bevor der Wenzelsplatz Tschechiens wichtigster Versammlungsort wurde, herrschte dort lange Zeit reges Markttreiben – Pferde wurden begutachtet und verkauft. Doch am 28. Oktober 1918 bekam der alte Marktplatz eine politische Dimension: Die Tschechoslowakische Republik wurde ausgerufen. Der Erste Weltkrieg war gerade zu Ende, Tschechen und Slowaken gründeten einen neuen Staat, in dem rund 3,5 Millionen Deutsche zur Minderheit wurden.

Die Unabhängigkeit währte nicht lange, weil Nazi-Deutschland einmarschierte und „am 15. März 1939, 10.40 Uhr, die Truppen Adolf Hitlers auf dem Wenzelsplatz, im Herzen von Prag, angelangt sind“, wie der Radiosender Prag 2 damals berichtete. Damit war auch das Ende der Tschechoslowakischen Republik besiegelt. Böhmen und Mähren wurden zum deutschen Protektorat, also besetzt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Deutschen vertrieben, die Kommunisten übernahmen die Macht. Oppositionelle Bestrebungen wurden 1968 gewaltsam durch den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts beendet; innerhalb weniger Stunden waren alle wichtigen Plätze des Landes besetzt, auch der ehemalige Rossmarkt von Prag.

Kurze Zeit später verbrannte sich dort aus Protest der Student Jan Palach. Er wurde zur Fackel 1 – in Tschechien ein gängiger Begriff. Einen Monat später starb am selben Platz sein Kommilitone Jan Zajíc, wieder selbst gewählt in Flammen stehend als Fackel 2. Ein Mahnmal nahe der Reiterstatue des Wenzel erinnert an das Geschehen. Noch immer legen viele Prager dort Blumen ab und verweilen respektvoll.

Zum Ende des Wenzelsplatz-Rundgangs geht es zehn Meter unter die Erde: Im Keller des „Hotels Jalta“, einem Gebäude des sozialistischen Realismus der Nachkriegszeit, wurde 1989 ein geheimer Atombunker entdeckt: Er erstreckt sich über zwei Etagen und bot Platz für 150 Personen.

„Wahrscheinlich wurde das ‚Jalta‘-Hotel nur als Tarnung gebaut, um im Notfall unscheinbar als Hauptquartier für die Regierung zu dienen“, sagt David Patak, der als Guide die Anlage zeigt. Er trägt die Uniform eines Unterfeldwebels und führt in eine Zeitreise in den Kalten Krieg. Man sieht Gasmasken, ein rotes Telefon, Waffen, Klinik, Abhöranlage, Verhörraum.

„Der Bunker wurde zwar nie benutzt“, sagt Patak. „Aber ausländische Gäste quartierte die Kommunistische Partei im ‚Jalta‘ ein, weil man sie dort gut abhören konnte.“ Heute ist das „Jalta“ das zweite stilvolle Boutiquehotel am Wenzelsplatz – und Gäste werden, so wird versichert, erfreulicherweise nicht mehr ausspioniert.

Tipps und Informationen

Wie kommt man hin? Prag wird von diversen deutschen Flughäfen nonstop angeflogen, es gibt aber auch gute Zugverbindungen ohne Umsteigen von Berlin, Dresden und München. Zum Wenzelsplatz fahren die Metrolinien A und C, Station Muzeum.

Wo wohnt man gut? „W Prague“, modernes Fünf-Sterne-Hotel mit original Jugendstil im historischen „Grand Hotel Europa“, im Neubau dahinter sind die meisten cool gestalteten Zimmer untergebracht plus Spa mit Pool, Doppelzimmer ab 326 Euro (marriott.com/en-us/hotels/prgwh-w-prague). „Jalta“, Boutiquehotel für Ostalgiker mit Lust auf Plüsch und Applikationen im sozialistisch angehauchten Stil, gehobene Mittelklasse, Doppelzimmer ab 85 Euro (hoteljalta.com).

Weitere Infos: Stadt Prag: prague.eu/de; Auskünfte über Tschechien: visitczechia.com

Die Teilnahme an der Reise wurde unterstützt von Marriott Hotels. Unsere Standards der Transparenz und journalistischen Unabhängigkeit finden Sie unter go2.as/unabhaengigkeit

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