Zur Selbstfindung reisen? Wie das geht, erklärt der Globetrotter
Er reist seit Jahrzehnten um die Welt, hat gut eine Million Kilometer zurückgelegt, ist seit 2015 mit seinem alten rot-weißen VW-Bulli unterwegs, der sein Markenzeichen ist: Peter Gebhard, Reisefotograf und Buchautor, ist noch immer besessen vom Reisen, sucht unerzählte Geschichten und ungewöhnliche Perspektiven. Vor dem Start seiner neuen Live-Tournee „360° Deutschland“ und dem Erscheinen seines gleichnamigen Buchs haben wir ihn zu Herausforderungen, Gefahren und dem Reiz des Ungewissen befragt.
WELT: Was war Ihre erste große Reiseerfahrung?
Peter Gebhard: Mit 16 war ich das erste Mal allein auf einer Interrail-Tour durch Nordskandinavien unterwegs, mit 17 habe ich zusammen mit drei Freunden die erste große Wandertour durch die Wildnis von Lappland unternommen. Wir hatten bloß eine einfache Trage, ein löchriges Stoffzelt, Bundeswehr-Schlafsäcke und Proviant dabei, waren aber zu 100 Prozent für alles selbst verantwortlich. Wir mussten die Route bestimmen, Flussüberquerungen zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle planen und unser Essen sinnvoll rationieren.
WELT: Und das hat Ihre Leidenschaft für das Unterwegssein angestachelt?
Gebhard: Heute sehe ich die wochenlangen Rucksacktouren als beste Art der Selbstfindung: Wer bin ich, wo bin ich stark, wo schwach? Reisen ist die Suche nach dem richtigen Weg durchs Leben. Schwierigkeiten, Stille und Einsamkeit haben mich auf mich selbst zurückgeworfen. Das ist eine wichtige Erfahrung. Und die wilde, menschenleere Landschaft faszinierte mich so sehr, dass ich in den folgenden Sommern immer wieder mit dem Rucksack durch Lappland zog.
WELT: Was ist denn so besonders an Leere und Stille auf Reisen?
Gebhard: In der Stille spüren wir positive und negative Energien viel deutlicher. Als ich 1984 in der Nähe des Death Valleys in einer Kakteenwüste im Auto abseits der Hauptstraße schlief, wachte ich plötzlich mitten in der Nacht mit einem komischen, unguten Gefühl auf. Im ersten Moment war nichts zu bemerken, aber dann bog plötzlich ein Auto genau in meinen Feldweg ein und stoppte zehn Meter von mir entfernt. Die aufgeblendeten Scheinwerfer waren genau auf meinen Wagen gerichtet. Drei Männer stiegen aus und postierten sich vor ihrem Auto. Ich lag in Schockstarre im Schlafsack und fühlte mich wie in einem düsteren David-Lynch-Film. Dann pinkelten die Typen bloß, stiegen ein und rauschten davon. Seitdem weiß ich, dass wir weitaus mehr Sensoren haben, als uns bewusst ist. Sie werden nur durch den Zivilisationslärm übertönt.
WELT: Da würde mir auch das Herz in die Hose rutschen. Gab es andere brenzlige Situationen auf Reisen?
Gebhard: Ein anderes Mal wurde ich zusammen mit einem Bekannten von drei Jugendlichen am helllichten Tag in Panama-Stadt mit Messer und Machete überfallen. Zum Glück haben wir nur ein paar Schrammen davongetragen – und Wut, aber keine richtige Angst. Bedrohlicher war Amazonien. Wir wollten von Manaus nach Porto Velho fahren. Hundert Kilometer hinter Manaus verwandelte sich die Straße in eine löchrige Piste. Angeblich sollten Ausbesserungsarbeiten auf der Piste stattfinden, doch es waren weder Menschen noch Baumaschinen zu sehen. Wir kamen nur mühsam voran. Am späten Nachmittag hatten wir gerade 60 Kilometer geschafft und die Piste bestand nur noch aus Schlamm, in dem wir uns auf einmal festfuhren. Wir hatten zwar noch genug Benzin, aber kaum noch Wasser. Es fing an zu dämmern und es war immer noch glutheiß. Zum ersten Mal in meinem Leben spürte ich Panik. Würden wir den 60-Kilometer-Fußmarsch zurück zum Dschungeldorf am Rio Igapo-Acu, wo wir die Nacht zuvor verbracht hatten, überleben? Keine Chance bei der Hitze. Also schaufelten wir wie verrückt, und nach einer Stunde gelang es uns, den Wagen aus dem Schlammloch zu befreien.
WELT: Was haben Sie daraus gelernt?
Gebhard: Reisen schärft die Sensoren für das Leben – im Guten wie im Schlechten. Je früher man mit solchen Erfahrungen konfrontiert wird, desto schneller entwickelt man intuitiv einen Plan B in einer schwierigen Situation. Also nicht an der roten Ampel verzweifeln, weil sie nicht auf Grün schaltet, sondern einfach mal nach einem Weg links und rechts schauen. Das habe ich vor allem in Lateinamerika gelernt. Am Ende entsteht so oft etwas gänzlich Neues, manchmal sogar etwas unerwartet Schönes.
WELT: Was reizt Sie an der Unvorhersehbarkeit?
Gebhard: Reisen mit offenem Ausgang sind häufig mit Entbehrungen und Enttäuschungen verbunden. Aber genau darin liegt für mich der Reiz. Was bringt es mir, mich in einer komfortablen Bubble zu bewegen, etwa ein Pauschalurlaub im Ferienclub? Das ist für mich gleichförmig und langweilig. ‚Unser Problem ist der Mangel an Mangel‘, hat ein Verkaufsleiter aus Sachsen mal bei einem meiner Vorträge zu mir gesagt. Und das trifft es: Der Schlüssel zum Glück liegt im Verzicht, nicht in Dauerkonsum und permanenter Ablenkung. Das habe ich schon bei meiner allerersten Backpacking-Tour in Lappland begriffen. Nach einem langen, harten Wandertag durch die Berge, der von Regengüssen und Mückenschwärmen geprägt war, hatte ich abends endlich das Zelt aufgestellt, den Gaskocher installiert, 20 Minuten später gab es eine warme Tütennudelsuppe und hinterher im Schlafsack noch eine halbe Tafel Schokolade – man musste ja alles vernünftig einteilen. Das war entbehrungsvoll, aber trotzdem der Himmel auf Erden für mich.
WELT: Blickt man im Alter anders auf frühe Reiseerfahrungen?
Gebhard: Früher dachte ich, dass die Entschleunigung beim Trampen als Teenager meinem Reisebudget geschuldet war. Erst im Nachhinein verstehe ich, dass die langsame Art der Fortbewegung meinen Blick geschärft und geschult hat. „Schildkröten können dir mehr über den Weg erzählen als Hasen“ lautet ein altes chinesisches Sprichwort. Je älter ich werde, desto besser verstehe ich die Bedeutung.
WELT: Welche Rolle spielt Geld beim Reisen, welche Luxus?
Gebhard: Geld ist grundsätzlich wichtig, aber Luxus verhindert ein tiefes Erleben. Wer ständig alles bekommen kann, wird träge und weiß nichts mehr wertzuschätzen. Reiner Verzicht ist allerdings auch keine Lösung – ich versuche deshalb, mit Achtsamkeit eine Balance herzustellen.
WELT: Hat die Wahl ihres Reisemobils, ein alter VW-Bulli, auch etwas mit Achtsamkeit zu tun?
Gebhard: Mein VW-Bus, Baujahr 1975, war früher der Lastenesel eines Bauern in São Paulo. Nachdem ich ihn 2015 gekauft habe und wir auf einer Europa-Durchquerung in Kroatien liegengeblieben waren, half mir ein Mechaniker namens Erwin aus der Patsche. Deshalb habe ich ihn so getauft. Jetzt ist Erwin mein Lastenesel, weder komfortabel noch schnell noch besonders sicher. Aber er macht mir nicht nur das Reisen bewusster, sondern ist auch Türöffner und Herzensbrecher.
WELT: Inwiefern?
Gebhard: Beim Anblick eines alten VW-Busses hat man einfach das Gefühl, der Bulli besitzt eine Seele, er lächelt dich an. Dazu kommen bei vielen Menschen Erinnerungen an die eigene Kindheit oder Jugend hoch – die Reise mit Sack und Pack an den Gardasee. So entsteht schnell eine wunderbare Ebene für Gespräche.
WELT: Lässt sich so ein Globetrotter-Leben, wie Sie es führen, mit einer Familie vereinbaren?
Gebhard: Es ist nicht leicht. Die Konflikte mit meiner Frau begannen schleichend mit der Geburt der Kinder, obschon wir unsere Familie bewusst gegründet haben. Es entstand eine Schieflage: Die permanente Doppelbelastung meiner Frau habe ich inmitten all meiner Reisen und Produktionen über lange Zeit trotz der deutlichen Signale nicht gespürt. Wir haben gemeinsam mit den Kids tolle Urlaube verbracht, aber die Care-Arbeit blieb fast ganz bei ihr hängen, wodurch unsere Beziehung fast zerbrochen wäre.
WELT: Haben Sie Tipps für die reiselustige Generation Instagram, wie man Reisen und Familie besser unter einen Hut bekommt?
Gebhard: Kleine Kinder haben einen ganz eigenen Blick auf Details, die wir Erwachsene gar nicht mehr wahrnehmen. Für sie beginnt das Abenteuer oft schon gleich um die Ecke. Im Teenageralter werden die Ansprüche größer, aber auch da gibt es Lösungen. Als ich im letzten Herbst mit meiner Tochter in meinem geliebten New York war, wollte sie als Erstes zu den Locations ihrer Lieblingsserien wie „Gossip Girl“ und „Sex and the City“ auf der Upper East Side. Erst war ich ziemlich genervt, aber dann haben wir ein paar Szenen nachgestellt und hatten gemeinsam richtig Spaß. Sie war happy und dann auch offen für meine Favoriten wie das Schlendern durch die jüdisch-orthodoxen Viertel von Williamsburg oder auf dem Boardwalk draußen in Coney Island.
WELT: Welchen Rat geben Sie Menschen, die sich keine Reise ins Unbekannte zutrauen?
Gebhard: Es muss nicht gleich eine Tour mit dem Einbaum auf dem Amazonas sein. Schon bei einer Radtour von Berlin an die Ostseeküste ohne feste Unterkunft kann man Abenteuer erleben. Es ist überraschend, wie schnell man interessante Menschen kennenlernt, wenn man sich öffnet. Auf meiner Deutschland-Umrundung entstanden über 90 Prozent der Kontakte spontan. Also: einfach ins kalte Wasser springen! Erst erschrickt man, aber nach einer Weile belebt es Körper und Geist auf ungeahnte Weise.
Zur Person:
Peter Gebhard, Jahrgang 1959, war schon mit fünf Jahren fasziniert von Landkarten und Atlanten, konnte vor der Einschulung lesen und schreiben und tippte Abenteuergeschichten auf Papas Schreibmaschine. Mit sechs lotste er seine Eltern mit dem Straßenatlas auf den Knien von Kiel zu den Großeltern nach Oberfranken. Er machte das Hobby zum Beruf, durchquerte jahrzehntelang vor allem Amerika und Europa. Zuletzt umrundete er ganz Deutschland mit seinem VW-Bulli. Im Oktober erscheint sein neues Buch „360° Deutschland“, 224 Seiten, 44,90 Euro
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