Ein Aberglaube schützt Deutschlands letzte weiße Rothirsche
Im Herbst röhren sie wieder. Die Brunft der Rothirsche ist ein ganz besonderes Spektakel. Dabei gilt: Wer am lautesten brüllt, ist Platzhirsch und darf die meisten weiblichen Tiere um sich scharren.
Die lautstarke Hirschbrunft ist zugleich die beste Zeit, die normalerweise scheuen Waldtiere zu beobachten, weil sie gerade Wichtigeres im Kopf haben als Wachsamkeit. Liebe macht blind, sozusagen.
Zu den vielversprechendsten Locations für Naturfreunde mit geführten Wanderungen zu den verliebten Rothirschen zählen der Harz, die Eifel, der Darß, die Südheide – und als Spezialität der hessische Reinhardswald.
Unterwegs im Reinhardswald, zwischen dem Gahrenberg und dem Staufenküppel, tauchen sie in der Dämmerung tatsächlich wie Gespenster auf einer Lichtung auf und röhren, was das Zeug hält.
Ein einzigartiger Anblick, mystisch und unheimlich zugleich – und im Reinhardswald gar nicht mal so selten. Denn nach Angaben des zuständigen Forstamtes Reinhardshagen wird die Zahl des weißen Rotwilds im Reinhardswald immerhin auf 50 Exemplare geschätzt, das ist einzigartig in Deutschland.
Nun könnte man meinen, es seien Albinos. Tatsächlich aber sind sie nach Angaben des Gießener Wildbiologischen Instituts die Nachkommen der sogenannten Hubertushirsche, die Ende des 16. Jahrhunderts von Königen und Kurfürsten gern gehalten wurden. Das ergaben genetische Proben aus abgeworfenen Geweihstangen.
„Weißes Edelwild“ in Hessen und Sachsen
Damals war es beim Adel Mode, weiße Hirsche aus Indien zu importieren, mit heimischem Rotwild zu kreuzen und als Prestigetiere zu halten und zu bejagen. Der hessische Landgraf Wilhelm IV. hielt mehrere Rudel in einem Gehege bei der heutigen Sababurg (damals Zapfenburg) im Reinhardswald.
Auch August der Starke hatte ein paar besonders prächtige Exemplare in Sachsen, er hielt das „weiße Edelwild“ in seinen „weißen Hirschgärten“ am Schloss Moritzburg bei Dresden. Bei einem Staatsbesuch im Jahr 1807 erlegte Napoleon allerdings gleich mal nimmersatt alle weißen Hirsche des sächsischen Königs, was als böses Omen galt.
Heute erinnert nur noch der Name des Dresdner Villenviertels „Weißer Hirsch“ an eine 1686 errichtete Schenke namens „Zum Weißen Hirsch“ und an die einstigen herrschaftlichen Jagden rund um Dresden.
Im staatlichen Wildgehege Moritzburg aber ist wieder weißes Rotwild zu sehen: Hirsch Alfred röhrt dort seit 2019 außer Konkurrenz um seine einzige Hirschkuh namens Annalena.
Hessische weiße Hirsche überlebten
Die hessischen Hubertushirsche aber hatten mehr Glück: Mit den Wirren des Dreißigjährigen Krieges büxten einige Tiere aus, verschwanden auf Nimmerwiedersehen im Wald und vermehrten sich munter.
Nach Angaben der Wildbiologen tragen heute bis zu 26 Prozent des normal gefärbten Rotwilds im Reinhardswald das weiße Gen in sich. Deshalb sieht man dort oft rote Hirschkühe mit weißen Kälbern. Wer garantiert solche Tiere nah beobachten möchte, besucht den Tierpark Sababurg im Reinhardswald – dort lebt ein großes Rudel im Gatter.
Schonung „kontraproduktiv“
Nun aber droht den wild lebenden Weißen neuer Verdruss im Reinhardswald: Da dort zu viel Rotwild herumzieht, so ergab eine Zählung aus der Luft, dürfen seit 2021 gemäß einem Erlass der obersten Jagdbehörde im hessischen Umweltministerium wieder anteilig bis zu 15 Prozent weiße Tiere pro Jagdjahr im Reinhardswald erlegt werden. Deren Schonung sei forstlich gesehen „kontraproduktiv“, dennoch soll der Bestand der weißen Hirsche grundsätzlich erhalten bleiben.
Was aber bedeutet das genau? Im Jagdjahr 2025/2026 dürfen demnach laut Abschussplan für die sogenannte Hegegemeinschaft Reinhardswald maximal 124 Rotwild erlegt werden, davon also allerhöchstens 18 Weiße. Bis Mitte September wurden zehn weiße Tiere im Reinhardswald erlegt. Viele Jäger, darüber herrscht Konsens, fühlen sich dabei unbehaglich und „halten sich zurück“, wie es heißt.
Aberglaube schützt die Hirsche
Denn ein seit Jahrhunderten überlieferter Aberglaube besagt: Wer einen weißen Hirsch erlegt, dem droht großes Unglück. Bekanntlich lief es für Napoleon nach seiner sächsischen Weißen Hirschjagd alsbald nicht mehr so richtig rund.
Und wer möchte schon sein Schicksal herausfordern? Umgekehrt gilt: Der Anblick eines weißen Rothirschs bringt Glück. So schützen Aberglaube und Tourismus die letzten Weißen aus dem Reinhardswald.
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