Tallinn, Narva und Tartu – Eine Reise in eine dramatische Vergangenheit
Estland überrascht. Obwohl geografisch überschaubar (gerade mal so groß wie Niedersachsen), dünn besiedelt (knapp 1,4 Millionen Einwohner) und bis 1991 von der Sowjetunion geschluckt, ist die Ostsee-Republik heute eines der modernsten Länder Europas, wirtschaftlich prosperierend, durchdigitalisiert, EU- und Nato-Mitglied, selbstbewusst nach Westen und zu den nordischen Nachbarn ausgerichtet.
Das baltische Volk hat die Düsternis der Besatzungszeit mit Bravour überwunden, trotz der russischen Minderheit, die ein knappes Viertel der Bevölkerung ausmacht. Besonders intensiv nähert man sich diesem spannenden Land bei einer Reise durch die drei größten Städte: Tallinn, Narva und Tartu.
Tallinn: Zwischen Geschichte und Lebenslust
Der erste Eindruck: Wie überschaubar ist diese Hauptstadt mit knapp einer halben Million Einwohnern. Und wie begrünt, wie gelassen, wie harmonisch!
Im Rücken die Hochhäuser, Shopping-Malls und Glasfassadentürme der Neustadt, die von IT-Gegenwart und Zukunft künden, dahinter Straßenzüge mit einem 30er-Jahre-Modernismus aus der Zeit der ersten estnischen Unabhängigkeit zwischen den Weltkriegen. Und dann sind wir auch schon in der Altstadt, die seit 1997 offiziell zum Unesco-Weltkulturerbe zählt.
Eine mittelalterliche, gut erhaltene Stadtmauer und dahinter verwunschene Kopfsteinpflastergassen, flankiert von Designerläden für explizit estnische Mode zu moderaten Preisen. Dazu kleine Boutiquen und lauschige Orte wie jenes seit 1864 existierende „Maiasmokk-Café“ mit seinem viktorianischen Interieur. Peinlicher Touristen-Tineff ist zum Glück kaum im Angebot. Und auch die Zeit, als Tallinn notorisches Ziel von finnischen und britischen Flatrate-Säufern war, ist längst passé, dem Euro sei Dank.
Mitunter lugt unter den pastellfarbenen Hausfassaden noch ein Rest Gotik aus der Zeit der Dänenherrschaft hervor. Stärker noch haben deutsche Kaufleute und ihr Schwertbrüder-Orden das in Unter- und Oberstadt geteilte Zentrum architektonisch geprägt und damit zum hanseatischen Charme Tallinns, das damals Reval hieß, beigetragen.
Doch trotz der idyllisch gewundenen, auf- und absteigenden Gässchen und der puren Schönheit der seit 1991 fast komplett restaurierten Altstadt mit ihren ornamentierten Gildehäusern, Brunnen und Kirchen: Keine Sekunde kommt der Gedanke auf, man wandele hier durch ein puppenhaftes Freilichtmuseum.
In Tallinn ist das Gestern keine bloße Kulisse, hier sind Vergangenheit und Gegenwart eng miteinander verknüpft. So etwa am Rand des Rathausplatzes, wo sich innerhalb einer durchgehenden Häuserfront auch die russische Botschaft befindet. Sämtliche Fenster sind verhängt, doch die Sperrgitter vor dem Eingang zieren Anti-Putin-Plakate, Illustrationen, Spottverse, Mahnungen und Fotografien aus der überfallenen Ukraine.
Und kaum jemand, der hier achtlos vorbeiliefe. Im Gegenteil. Die Menschen bleiben stehen, kommen miteinander ins Gespräch. Was dem Reisenden übrigens besonders einfach gemacht wird, da die meisten Esten ein perfektes Englisch sprechen.
1940 hatte sich die Sowjetunion im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes die drei baltischen Staaten einverleibt und erst 1991 nach deren friedlichem Aufbegehren in die Unabhängigkeit ziehen lassen. Während der Stalin-Zeit wurden Tausende Esten erschossen und Zehntausende in Viehwaggons nach Sibirien deportiert, um dem Land das Rückgrat zu brechen (was allem Staatsterror zum Trotz nicht gelang).
Viele Esten kehrten nicht zurück. In einem klassizistischen Eckhaus in der Pikk-Straße, das bis 1991 das örtliche Hauptquartier des KGB beherbergte, erinnert inzwischen ein detailgetreu eingerichtetes Kellermuseum an die damaligen Torturen. Der freundliche junge Mann an der Kasse empfiehlt nachdrücklich auch einen Besuch des Museums der Deportationen. Ein guter Tipp.
Das – in seiner transparenten Holz-und-Glas-Architektur skandinavisch anmutende – Haus ist den Schicksalen der Verschleppten gewidmet, weist aber trotz aller multimedial dokumentierten Schrecknisse (darunter auch der Massenmord an den estnischen Juden während der deutschen Besatzungszeit 1941–44) durchaus hoffnungsvoll in Gegenwart und Zukunft. In einem der weiträumigen Säle können Besucher auf Touchscreens etwa die Frage beantworten, was für sie persönlich Freiheit bedeutet.
Ganz sicher bedeutet es, neben dem Wunsch nach politischer Selbstbestimmung, auch Lebenslust und Genuss, was im heutigen Tallinn an vielen Ecken zelebriert wird: etwa in den Bars, Clubs und Kunstgalerien des zum avantgardistischen Hotspot gewordenen ehemaligen Industrie-Areals Telliskivi. Oder an der neu gestalteten Reidi-tee-Promenade direkt am Meer. Oder in schicken, keineswegs überteuerten Restaurants wie dem „Voivoi“, das maritim-nordische Haute Cuisine ohne Schnörkel bietet.
Unbedingt probieren: mit baltischem Lammfleisch gefüllte Teigtaschen, in Butter geschwenkt, oder Grillsaibling mit Erbsencreme, mit noch mehr hausgemachter Butter zubereitet.
Narwa: EU-Außenposten mit Blick nach Russland
Zwar gibt es in Estland auch Bolt, um problemlos Fahrzeuge aller Art zu mieten, aber die Zugfahrt von Tallinn ins rund 230 Kilometer entfernte Narwa ist ein Vergnügen, das man sich nicht entgehen lassen sollte – hyper-pünktliche Abfahrt und Ankunft, drei entspannte Stunden geht es an der Küste entlang durchs Grüne.
Narwa, die zu mehr als 80 Prozent von Russischsprachigen bewohnte 54.000-Einwohner-Stadt, liegt geografisch näher an Sankt Petersburg als an Tallinn, die Grenze zu Russland verläuft entlang des Narwa-Flusses gleich östlich des Stadtzentrums. Wobei vom früheren barocken Zentrum kaum etwas übrig ist, 1944 beim Vormarsch der Roten Armee wurde es fast vollständig zerschossen.
Immerhin haben die in den 50er-Jahren hochgezogenen Neubauten, nach dem damaligen Parteichef „Chruschtschowkas“ genannt, neue Fassadenfarbe bekommen. Russisch hört man an jeder Ecke und in vielen Geschäften, allerdings sieht man kyrillische Schriftzeichen nur selten, etwa auf privaten Werbeschildern. Für offizielle Beschriftungen und Straßenschilder wird ausschließlich Estnisch (mit lateinischen Buchstaben) verwendet.
Sehenswürdigkeiten muss man suchen: Die größte in Narwa ist die Kreenholm-Manufaktur – im 19. Jahrhundert von Bremer Kaufleuten gegründet, im zaristischen Russland eine der größten Baumwollspinnereien der Welt, zu Sowjetzeiten eine der wichtigsten Textilproduktionsstätten im roten Riesenreich.
Ein Hauch von Manchester weht durch dieses geschichtsträchtige Industriegelände aus gigantischen Ziegelsteingebäuden und ineinander übergehenden Höfen mit Fensterfronten, in denen sich der Himmel spiegelt. In den Fabrikhallen kreisen Vögel, und das Geräusch der eigenen Schritte hallt wider – dort, wo einst Zehntausende Webstühle surrten und noch bis 2012 (unter schwedischem Management) gearbeitet wurde.
Das gesamte, an Vergänglichkeit gemahnende und gerade deshalb hochinteressante Areal ist derart weitläufig, dass sich Besucher vorab anmelden müssen – es gibt geführte Touren auf Englisch, Estnisch und Russisch (zu buchen unter narvamuuseum.ee).
Sehenswert und aufschlussreich ist auch die Narwa-Promenade, die sich nördlich am estnischen Ufer anschließt. Der Blick geht über den breiten Fluss nach Osten zur wuchtigen Festung Iwangorod, im 15. Jahrhundert erbaut. Das russische Grenzareal davor ist menschenleer.
Auch die Flussbrücke, die noch aus kommunistischer Ära den höhnisch klingenden Namen „Druschba“ (Freundschaft) trägt, ist nahezu verwaist; Grenzverkehr findet statt, aber nur zu Fuß. Das hier ist die äußerste Außengrenze von EU und Nato. Falls Russlands Staatschef Putin nach der Ukraine das westliche Bündnis direkt testen, durch Nadelstiche mürbe machen oder gar angreifen will, dann hier, in der russischsten Stadt der EU – so die Vermutung vieler Experten.
Und wie würden im Falle eines Einmarschs die ethnischen Russen auf estnischer Seite reagieren, die ja immerhin seit 1991 in den Genuss einer Demokratie gekommen sind? „Ganz sicher nicht mit Jubel“, glaubt Stadtführer Denis und nimmt einen tiefen Zug von seiner Zigarette, mit geradezu trotziger Gelassenheit.
Der junge Mann ist selbst ethnischer Russe, will aus guten Gründen seinen Nachnamen nicht in der Zeitung lesen, und kennt die Gestimmtheit „seiner Leute“, die sich „gewiss nicht“ nach Putins Reich verzehren, ziemlich genau. Und er weist auf etwas nicht ganz Unwichtiges hin: Das vor einigen Jahren ins Werk gesetzte EU-Projekt einer länderübergreifenden Ufer-Promenade „ist allein auf estnischer Seite Realität geworden, während drüben das Geld versickert sein muss“.
Tatsächlich sind am Westufer der Narwa Familien mit Kindern unterwegs, man sieht Skater und Angler unterhalb der mittelalterlichen, im 13. Jahrhundert von Dänen erbauten Hermannsfeste. Bis Anfang 2022 hatte im Innenhof noch eine Lenin-Statue überwintert, dann verschwand dieses Relikt aus Sowjetzeiten.
Seit 2020 beherbergen die historischen Mauern das Stadtmuseum von Narwa, kinder- und behindertengerecht auf mehreren Etagen, das multimedial die estnische Geschichte darstellt als Teil jenes Europas, das sich erinnert, statt zu töten.
Tartu: Die Sowjet-Tristesse ist überwunden
Die Busfahrt von Narwa in die 180 Kilometer südlich gelegene zweitgrößte Stadt des Landes dauert knapp zweieinhalb Stunden. Entlang des Peipus-Sees, in dessen Mitte die Grenze zu Russland verläuft, verläuft die Route, die via Bildschirm auf der Rückseite des Vordersitzes nachzuverfolgen ist. Wer will, kann im Internet-Paradies Estland hier auch BBC, einheimisches oder finnisches Fernsehen schauen.
Tartu hat knapp 100.000 Einwohner und war 2024 Europäische Kulturhauptstadt. Zu Recht – der Charme der alten Hansestadt (die im Mittelalter unter dem deutschen Namen Dorpat bekannt war), die heutzutage von vielen Studenten bevölkert wird, erschließt sich beim Flanieren sogleich.
Parks, grüne Hügel und baumreiche Straßen prägen das Bild ebenso wie die typischen, seit 1991 vor dem Verfall geretteten Holzhäuser. Deren Besonderheit sind ihre individuell gestalteten, vielfarbigen Türen, die einst das Einkommen ihrer Besitzer symbolisierten. Weitere Höhepunkte: Boheme-Cafés und alternative Buchläden.
Das Theater im klassizistischen Stil, andere Bauten im 30er-Jahre-Modernismus, der architektonische Anleihen nimmt bei den nordischen Nachbarn und beim Dessauer Bauhaus. Mitunter weisen kleine Plaketten dezent darauf hin, wer hier bis zum sowjetischen Einmarsch 1940 wohnte: Wissenschaftler, Künstler, Politiker.
Wer Glück hatte, konnte damals ins Exil fliehen, viele aber wurden erschossen oder deportiert und nach ihrer Rückkehr aus Sibirien Mitte der 50er-Jahre in staatlich zugewiesene Unterkünfte verfrachtet, die man im sowjetischen Stil zu Kommunalkas gemacht hatte: Mehrere Familien eingepfercht in aufgeteilte Wohnungen mit Gemeinschaftsküchen und geteilten Bädern, jedes Zimmer überbelegt.
Die freundliche Stadtführerin Sigrid Parts, obwohl keineswegs eine alte Frau, kann sich an diese prekäre Wohnsituation während ihrer Kindheit noch genau erinnern – wie auch an viele Kirchen, die zu Sporthallen zweckentfremdet wurden.
Zum Glück sei diese Epoche vorbei, sagt sie, und tatsächlich ist Tartu heute liebevoll restauriert. Nahezu überall erinnern grazile Denkmäler und Skulpturen an die klugen Töchter und Söhne der Stadt, erstrahlen die Gebäude rund um den Domberg in alter Pracht, sind die Kirchen wieder Gotteshäuser – auch wenn in der frühgotischen Johanneskirche mit ihren wunderschönen Terrakottaskulpturen ganz bewusst weiße Flecken und Einschusslöcher im roten Backsteinmauerwerk an die bedrückende Vergangenheit erinnern.
Als Besucher hat man das Gefühl, als ginge bis heute ein permanentes Aufatmen durch die Stadt. Ob im Botanischen Garten, rund um die Universität, in unprätentiösen, aber edlen Restaurants wie dem „Toko“ und dem „Kampus“ oder in den urigen Studentenkneipen entlang der schon im Mittelalter beliebten Rüütli-Straße: Man kann hier denkbar entspannt verweilen, frei durchatmen und den bewegenden Lebensgeschichten der Menschen zuhören. Die stolz darauf sind, dass sie zu Europa gehören und ihre Stadt (wieder) so wunderbar aufgebaut haben.
Jeder hier weiß, wie wertvoll und fragil gerade das ist: Freiheit. Unaufdringlich und auf ungemein sympathische Weise schenkt Estland seinen Besuchern genau diese Lektion.
Tipps und Informationen:
Wie kommt man hin? Nonstop-Flüge nach Tallinn ab Berlin, München oder Frankfurt bieten Air Baltic, Lufthansa und Ryanair. Bahn (elron.ee) und Überlandbusse (tpilet.ee/en) innerhalb Estlands sind schnell und pünktlich.
Wo wohnt man gut? In Tallinn: „Nordic Forum Hotel“ zwischen Neu- und Altstadt, modernes Haus mit Panorama-Swimmingpool, Doppelzimmer ab 119 Euro (nordichotels.eu). In Narwa: „Narva Hotell“ im Zentrum, Drei-Sterne-Haus mit erstklassigem Restaurant „Chagall“, Doppelzimmer ab 51 Euro (narvahotell.ee). In Tartu: „Art Hotel Pallas“, zentral gelegen, avantgardistisch gestaltet, Doppelzimmer ab 90 Euro, (pallas.tartuhotels.ee).
Touren: Thematische Touren durch Tallinn bietet tallinninsight.com (etwa Altstadt oder Sowjeterbe). Sigrid Parts führt Gäste auf Deutsch individuell oder in Gruppen durch Estlands Städte (sigridparts@gmail.com).
Weitere Infos: visitestonia.com/de; visittallinn.ee; visittartu.com/de; visitnarva.ee
Die Teilnahme an der Reise wurde unterstützt von Visit Estonia. Unsere Standards der Transparenz und journalistischen Unabhängigkeit finden Sie unter go2.as/unabhaengigkeit
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke