Es ist der Wind, der die Geschichte von Orkney prägt – im wahren Sinne des Wortes. In einer Unwetternacht des Winters 1850 fegte ein Orkan über die Bay of Skaill an der rauen Westküste der Hauptinsel Mainland, trug Dünengras und Ufersand ab, wühlte Erdreich und Untergrund auf. Gewaltige Ruinen kamen zum Vorschein: eine längst aus dem Gedächtnis der Menschheit getilgte Siedlung, auf der Landkarte heute Skara Brae genannt.

Dieses Dorf aus der Jungsteinzeit, „Schottlands Pompeji“, ist ein rundes Jahrtausend älter als der weltberühmte Steinkreis von Stonehenge im Süden Englands, wurde etwa 20 Generationen vor den großen Pyramiden von Giseh erbaut. Windige Naturgewalt setzte die Inselgruppe im hohen Norden damals auf die touristische Weltkarte: als Pilgerort für Geschichtskundler.

Das ist noch heute so, aber der Archipel am Übergang von der Nordsee in den Atlantik – 70 Inseln, davon 20 durchgehend bewohnt von 23.000 Schotten – ist inzwischen vor allem als Naturparadies für wandernde und radelnde Outdoor-Fans bekannt und als herb-kühle Alternative zu Südeuropa.

Orkney teilt den Breitengrad mit Oslo, Sankt Petersburg und dem fernöstlichen Kamtschatka. In grasgrüner, baumfreier Landschaft leben deutlich mehr Schafe und Kühe als Zweibeiner. „Orkney ist eine einzige riesige Farm“, wie Mark Rowe, Verfasser des besten erhältlichen Reiseführers, es ausdrückt. Das macht die Inselgruppe mit ihren 1000 Küstenkilometern zu einem idealen Rückzugsraum für Eskapisten, für des Großstadttrubels müde Zeitgenossen.

Mehr Lebensqualität als im übrigen Königreich

Dass ausgerechnet hier, im abgelegenen Nordzipfel Schottlands, die Lebensqualität alles in allem besser ist als irgendwo sonst im Vereinigten Königreich, wie das britische Finanzinstitut Halifax vor ein paar Jahren ermittelt hat, passt ins Bild.

In – nicht auf – Orkney spielt die Musik auf dem Mainland, der bei Weitem größten Insel in der geografischen Mitte. Als „Festland“ gilt den Insulanern, die sich Orkadier nennen, wiederum Schottland – an der schmalsten Meeresenge gerade einmal 16 Kilometer südlich gelegen. Ein Drittel der Gesamtbevölkerung wohnt im Hauptort Kirkwall mit seiner aus dem zwölften Jahrhundert stammenden, aus rötlichem Sandstein erbauten St. Magnus-Kirche, der nördlichsten aller Kathedralen Großbritanniens.

Eine halbe Autostunde gen Westen liegt wiederum das idyllische Stromness, die zweitgrößte Siedlung – heute kaum mehr als ein hübsch anzuschauendes Hafennest, in vergangenen Jahrhunderten indes ein geschäftiger Ausgangspunkt für die Hudson’s Bay Company in Nordamerika und für Walfänger, die bis in den Pazifik segelten, auf die andere Seite der Welt. Das war’s dann aber schon mit „urbanen“ Siedlungen, Orkney ist ganz überwiegend ländlich und leer.

Die Geschichte dieses Archipels ist ebenso tiefgründig wie bedeutsam für das Weltgeschehen. Ungefähr von 500 bis 900 lebten hier, wie in weiten Teilen Schottlands, die Pikten, die im neunten Jahrhundert nach und nach von aus Skandinavien einfallenden Wikingern verdrängt wurden.

Fünf Jahrhunderte hindurch gehörte die Inselgruppe dann zu Norwegen, ab 1472 war sie schließlich schottisch – Schottland wurde wiederum 1707 Teil Großbritanniens. Die beiden interessantesten, den meisten Mitteleuropäern unbekannten Aspekte der Historie spielten sich allerdings deutlich davor und danach ab, in der Frühgeschichte der Menschheit und im 20. Jahrhundert.

5000 Jahre alte Bauten

Zum einen ist Orkney eine der größten archäologischen Ausgrabungsstätten in Europa, die jungsteinzeitlichen Funde wurden 1999 Teil des Unesco-Weltkulturerbes. Viele Bauten sind mehr als fünf Jahrtausende alt, neben dem eingangs erwähnten Skara Brae auch die erst Anfang des 21. Jahrhunderts wiederentdeckte Siedlung Ness of Brodgar. Die 27 Monolithen des im Durchmesser 104 Meter messenden Ring of Brodgar, die Standing Stones of Stenness sowie zig Hünengräber ragen hier buchstäblich seit Ur-Zeiten gen Himmel.

Zum anderen ist da Scapa Flow, einer der bedeutsamsten Orte der jüngeren Zeitgeschichte, ein Naturhafen im Herzen Orkneys, geografisch eingerahmt vom Mainland und dessen südlichen Nachbarinseln. Mit einer Fläche von gut 100 Quadratkilometern ist das Gewässer groß genug für mehrere Flotten zugleich, was dem zum Ozean ursprünglich in vier Richtungen offenen Schiffsparkplatz zu enormer strategischer Bedeutung verhalf.

Scapa Flow war der wichtigste Marinestützpunkt der Royal Navy im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg – auf dem Höhepunkt mit rund 100.000 stationierten Seeleuten, Soldaten, Militärs aller Art, von denen die meisten in Lyness auf Hoy untergebracht waren, der zweitgrößten Insel des Archipels.

Heute zählt Hoy ein paar Hundert Einwohner und ist vor allem für den Old Man of Hoy berühmt, einen 137 Meter hohen Brandungspfeiler im Meer, bei dem ein bisschen Helgoland-Feeling aufkommt. Wobei die deutsche Lange Anna mit gerade einmal 47 Metern vergleichsweise kurz ist.

Scapa Flow, ein militärhistorischer Großschauplatz, war zugleich, man muss es so formulieren, eine Katastrophenzone mit einer Fülle an Schiffsuntergängen titanischen Ausmaßes. Am 5. Juni 1916 machte sich „HMS Hampshire“, an Bord der damalige britische Kriegsminister Earl Kitchener, von hier aus auf den Weg ins verbündete Russland, traf auf eine Mine, sank in weniger als einer halben Stunde; 737 Seeleute und Passagiere ertranken, darunter Kitchener.

Ein Jahr später explodierte das Munitionsdepot der vor Anker liegenden „HMS Vanguard“ (804 Tote) und ließ einen 400 Tonnen schweren Geschützturm eine Meile weit auf die Insel Flotta fliegen.

Im Januar 1918 erlitten zwei Zerstörer, „HMS Narborough“ und „HMS Opal“, Schiffbruch in einem Schneesturm (179 Tote). Und in der Frühphase des Zweiten Weltkriegs torpedierte das deutsche U-Boot U-47, das sich in Scapa Flow eingeschlichen hatte, „HMS Royal Oak“. Bei dem heimtückischen Angriff kamen 833 Seeleute ums Leben.

Schiffsfriedhof lockt geschichtsinteressierte Sporttaucher

Auch die gesamte kaiserlich-deutsche Hochseeflotte ging hier zugrunde. Nach dem Waffenstillstand gegen Ende des Ersten Weltkriegs waren 74 Schiffe der Deutschen Marine im November 1918 von den Briten nach Scapa Flow eskortiert und dort interniert worden. Als Admiral Ludwig von Reuter im Juni 1919 irrtümlich glaubte, dass es keinen Friedensvertrag geben, seine Flotte also Kriegsbeute der Royal Navy werden würde, befahl er: Selbstversenkung!

Was keineswegs das Ende der Geschichte der einst stolzen wilhelminischen Kriegsflotte war. Ein findiger Altmetallhändler namens Ernest Cox kaufte kurzerhand alle Wracks, nun auf dem Meeresboden ruhend, für einen läppischen Betrag. In den Folgejahren ließ er in einer technischen Meisterleistung Dutzende der Riesenschiffe bergen, verkaufte ihren Stahl, machte ein Vermögen.

Gut ein halbes Dutzend Schiffe liegt aber noch heute auf dem Grund von Scapa Flow. Der Schiffsfriedhof dient nun Sporttauchern als geschichtsträchtiger Abenteuerspielplatz, die sich vom selbst im Hochsommer bitterkalten Wasser nicht abhalten lassen.

Nach der Torpedierung der „Royal Oak“ durch die Deutschen befahl Winston Churchill – 1939 noch nicht Premierminister, sondern First Lord of the Admiralty – den Bau von vier Dämmen zwischen den Inseln am östlichen Ende von Scapa Flow, um feindliche U-Boote künftig aus der Bucht fernzuhalten.

Diese Barrieren wurden von 1940 bis 1944 von rund 1300 italienischen Kriegsgefangenen errichtet, sie verbinden als befahrbare Überbrückungen bis heute die Insel Mainland mit den Nebeninseln Lamb Holm, Burray und South Ronaldsay.

Italienische Verschleppte brachten mediterrane Bellezza

Die italienischen Gefangenen, verschleppt in diese für sie unwirtlich-nordische Gegend, machten sich aber daran, ein bisschen mediterrane Bellezza in ihre Unterkünfte zu bringen: Sie schufen La Bella Cappella Italiana auf Lamb Holm. Unter der Federführung von Domenico Chiocchetti, aus den Dolomiten stammend, schmückten sie zwei hintereinander gestellte Hütten nach allen Regeln der Kunst aus und zogen davor eine Kirchenfassade hoch. Die Italienische Kapelle mutet hier, im hohen Norden, höchst exotisch an.

Sie ist heutzutage eines der touristischen Highlights der Inselgruppe, Pflichtprogramm für Zehntausende Kreuzfahrer, die im Laufe eines Jahres in Kirkwall anlegen. „Für Orkney ist die Kapelle ein Symbol des Friedens“, sagt der ortsansässige Journalist Dave Flanagan, „eine Art kulturelle Verbindung“ gen Süden, in eine wärmere, lieblichere Welt.

Nach 1957 wurde der Marinestützpunkt Scapa Flow fast vollständig demontiert. Das 2023 nach Umbau neu eröffnete Scapa Flow Museum in Lyness, eine halbe Fährstunde von Mainland entfernt, erzählt und bewahrt dessen Geschichte eindrücklich, ganz ohne Eintrittsgebühr.

Auf dem benachbarten Flotta wiederum steht heute zwar ein Ölterminal, wo seit 1977 britisches Nordseeöl angelandet wird. Doch der einstige Marinehafen Scapa Flow, früher ein Kosmos aus Stahl, Kohle, Diesel, Sprengstoff, Schweiß, ist nun wieder ein Naturidyll, in dem sich Robben, Orcas oder gar Pottwale tummeln, dank der Churchill-Barrieren mühelos mit Auto oder Rad zu umrunden.

Über Wasser sind die Inseln ein Paradies für Vögel – gut 30 Arten sind am Himmel unterwegs, vom Papageientaucher über Wanderfalken bis zu Eissturmvögeln, die wiederum eine besondere Touristenspezies anlocken: Vogelliebhaber, die mit Stativ und Kamera überall in Orkney anzutreffen sind.

Die zwischen Meeresbuchten und flachen Wiesenhügeln changierende Landschaft der Inseln ist insbesondere für E-Bike-Fahrer famos. Denn es kann in Orkney, siehe oben, heftigst wehen, gern auch mal ohne Vorwarnung, und bei Gegenwind in Sturmstärke ist unter Freizeitradlern nichts so willkommen wie Akku-Power.

Selbst bei Sturm geht das Leben weiter

„Von Herbst bis ungefähr Februar haben wir Stürme mit Windgeschwindigkeiten von 90, 100 Meilen die Stunde“, sagt Flanagan. „Dann sind die Schulen dicht, die Fähren fahren nicht. Aber das Leben geht weiter.“ Der Inselrekord in Sachen Wind wurde am 31. Januar 1953 mit 200 Kilometern pro Stunde gemessen. Manch Windrad wurde schon von einem Sturm mitgenommen.

Das Beste an Orkney sind indes die Orkadier mit ihrer grundsoliden Art. Okay, man weilt hier in abgelegenster Provinz, eine gewisse Schrulligkeit ist dem ein oder anderen Insulaner nicht abzusprechen. Aber die geradlinige Mentalität ist Labsal für gestresste Mitteleuropäer. Man grüßt allseits, selbstverständlich auch Fremde, ist hart im Nehmen, zuverlässig, pragmatisch – No-Nonsense eben.

Einer von dieser kernigen Sorte ist John Scott, der im Bed & Breakfast „Mill of Eyrland“, einer alten Wassermühle, überall mit anpackt. Er bezeichnet sich selbstironisch als „vertrottelt“, als er das Wi-Fi in seinem Gasthaus partout nicht zum Laufen bekommt – was an diesem Ende der Welt in altem Gemäuer allerdings vorkommen kann. „Tja, das ist Mist“, sagt Scott trocken, „aber wir sind hier eben noch etwas steinzeitlich“.

Tipps und Informationen:

Wie kommt man hin? Die meisten Besucher setzen mit Auto und Fähre vom schottischen „Festland“ über (Scrabster–Stromness, 90 Minuten). Für Urlauber aus Mitteleuropa dürfte das zu aufwendig sein, die Anreise per Flugzeug praktischer. Die schottische Fluggesellschaft Loganair fliegt ab Edinburgh, Glasgow und Aberdeen nach Kirkwall (loganair.co.uk).

Wie kommt man rum? Mietwagen kosten in der Hochsaison etwa 300 bis 500 Euro die Woche. Flüge zwischen einzelnen Inseln bietet Loganair an, so von Westray nach Papa Westray – der mit einer Flugzeit von weniger als zwei Minuten kürzeste Linienflug der Welt. E-Bikes kann man bei Daniel Hourston (etourorkney.com) oder bei Cycle Orkney (cycleorkney.com), beide in Kirkwall, buchen (ab 25 Euro am Tag). Praktisch für Inselhopping sind die zahlreichen Fährverbindungen (orkneyferries.co.uk). Fahrräder und E-Bikes werden grundsätzlich kostenfrei mitgenommen.

Wo wohnt man gut? Am schönsten in einem der vielen charmanten Bed & Breakfasts. Morag Robertsons „Mill of Eyrland“ ist eine Wassermühle aus dem 19. Jahrhundert mit fünf Gästezimmern, ab 48 Euro pro Person (millofeyrland.com). Hoch elegant ist „Graemeshall House“ in St. Mary’s, Doppelzimmer ab 190 Euro (graemeshall-house.co.uk).

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