Das da oben muss ein Seeadler sein. Mit lässigen Flügelschlägen zieht er seine Kreise und gleitet dann weiter. Die Spitzen der breiten Flügel sehen aus wie Finger, die Schwanzfedern schimmern weiß. Zwei Beobachter sitzen am Rande des Kliffs in Lebbin (polnisch: Lubin) oberhalb des Stettiner Haffs. Sie richten ihre Ferngläser ins fahle Blau des Mittagshimmels und verfolgen den imposanten Greifvogel, der bald Richtung Wald verschwindet.

Auf dem Wasser verraten weiße Wellenkrönchen und die holprige Fahrt eines Motorbootes, dass eine frische Brise weht. Am Kliff nicken rote Mohnblüten im Wind. Das Dorf Lebbin ragt ins Stettiner Haff und liegt auf Polens größter Ostseeinsel Wollin (Wolin).

Mit versteckten Badebuchten, 35 sandigen Kilometern am offenen Meer, Traditionsseebädern und stillen Dörfern im Hinterland, mit uralten Buchen und Eichen in den Nationalparkwäldern sowie mit Seen aus der Eiszeit kann die Insel jede Menge Ostseeschätze vorweisen.

Per Stadtfähre sowie durch einen Autotunnel ist Wollin verbunden mit Swinemünde (Swinoujscie) auf der Schwesterinsel Usedom, deren Ostzipfel polnisch ist, der Großteil gehört zu Deutschland. Berlin liegt nur knapp zweieinhalb Autostunden entfernt – und doch kennen und bereisen nur wenige Deutsche Wollin. Was schade ist, denn das Eiland bietet viel intakte Natur, einen rauen Charme – und damit eine andere Atmosphäre als viele deutsche Ostseeinseln. Kreisende Seeadler sind nur eine Überraschung von vielen.

Der Kaffeeberg wurde zum Gora Kawcza

Kontraste prägen das Eiland in der polnischen Region Westpommern, das im Laufe seiner wechselvollen Geschichte zu Schwedisch-Pommern, Preußen und dem Deutschen Reich gehörte. Den größten Bruch gab es 1945, als Wollin nach dem Zweiten Weltkrieg Polen zugeschlagen wurde.

Die deutschen Bewohner wurden vertrieben und durch neu angesiedelte Polen ersetzt, die Orte erhielten neue Namen. So wurde aus dem Kaffeeberg mit seiner imposanten Steilküste der Gora Kawcza. Bei polnischen Urlaubern ist er nun ein ebenso beliebtes Ausflugsziel wie damals bei deutschen Feriengästen.

Das gilt auch für das Seebad Misdroy (Miedzyzdroje), wo im 19. Jahrhundert der spätere deutsche Kaiser Friedrich III. seine Sommerfrische verbrachte. Heute ist es Polens drittwichtigstes Ostseebad.

Am östlichen Ende liegen Fischerboote im Sand. Wie eh und je ziehen Seilwinden sie auf den Strand – Naturhäfen gibt es an Wollins Ostseeküste kaum. Frisch gefangener Fisch landet direkt in den Küchen der Restaurants. Eines davon heißt wie das Boot am Strand, „Miz-31“. Hering, Sprotten, Scholle werden auf typisch polnische Weise serviert: auf großen und vollen Tellern.

Die Badewanne Berlins

An den Wänden im „Miz-31“ hängen Fotos von Misdroy um 1900: Strandkörbe im Sand, eleganter als die von heute. Damals war Misdroy eines der bedeutendsten Seebäder Deutschlands. Nach dem Vorbild der englischen Badekurorte entstand 1793 im mecklenburgischen Heiligendamm das erste deutsche Ostseebad. Pommern zog in den 1820er- und 1830er-Jahren nach, aus Usedoms und Wollins Fischerdörfern entwickelten sich mondäne Seebäder, der Volksmund nannte sie „die Badewanne Berlins“.

Während Usedom viele Bauten im historischen Bäderstil bewahrt hat, dominieren in Misdroy heute moderne Hotelhochhäuser an der Promenade. Von den Balkons reicht der Blick weit übers Meer. Sonnenaufgang und Sonnenuntergang tauchen Strand und Häuser in goldfarbenes Licht. Im weißen Sand stehen vereinzelte Strandkörbe; in der Mehrheit sind es Badehandtücher, Windschutzzelte, Liegestühle, Bars, Tanzbühnen und Surfbuden, die Misdroys Strand zum Wimmelbild machen.

Auf der Promenade bieten mehrere Buden Gofry mit diversen 20 Toppings an. Diese frisch gebackenen Waffeln sollte man probieren, sie sind der Sommersnack an jedem polnischen Strand, besonders beliebt sind Gofry mit Nutella und Banane oder mit Kirschkompott und aufgetürmter Schlagsahne.

In Misdroys Souvenirläden gibt es Reiseandenken vom Fingerhut über Bernsteinschmuck bis zum Plüsch-Seeadler. An der fast 400 Meter langen Seebrücke, in den 1990er-Jahren neu gebaut, legen Dampfer an und ab, die zwischen Usedom und Wollin hin und her schippern.

Misdroy ist so etwas wie Wollins Partyzone, deutlich ruhiger geht es in den Badeorten Heidebrink (Miedzywodzie) und Neuendorf (Wiselka) zu – sie liegen in den Wäldern hinter der Küstenlinie. Unter Kiefern, Eichen und Buchen bieten Hotels, Ferienhäuschen und Campingplätze Ferienunterkünfte im Grünen.

Von dort aus sind es 300 bis 400 Meter zum Strand, viele Urlauber gehen hier barfuß auf den sandigen Waldwegen. Am Übergang vom Wald zum Strand stehen einzelne Kiefern bis in die Dünen, wo silbergrauer Strandhafer im Wind schaukelt.

Umstrittene Öl- und Gasförderung

Ein beliebtes Spazierziel ist der Aussichtspunkt Gosan, die höchste Stelle an Wollins Steilküste nahe Misdroy. Vor der Holzbrüstung der Klippe liegt 95 Meter tiefer die dunkelblaue Ostsee. Noch ist das Meerespanorama von hier aus betrachtet intakt. Es droht aber durch Bohrplattformen verschandelt zu werden – erst Ende Juli 2025 wurden vor Wollin große Öl- und Gasvorkommen entdeckt.

Während die polnische Seite eine Förderung befürwortet, warnen deutsche Umweltschützer und Politiker vor negativen Folgen für Natur, Wasser und den Tourismus an der gesamten Pommerschen Bucht. Ob es tatsächlich zur Ausbeutung des Ölfelds kommt, hängt von weiteren Probebohrungen ab; eine Förderung dürfte frühestens in drei bis vier Jahren realistisch sein.

Garantiert bohrturmfreie Aussichten bieten sich dagegen bei Wanderungen im Wolliner Hinterland, wo die Eiszeit kleine Seen hinterlassen hat. Unterwegs pfeifen Vögel, Weißdorn blüht in windschiefer Pracht, Blumen quellen über Gartenzäune in kleinen Dörfern wie Kolzow (Kolczewo), wo der Hahn auch mittags kräht.

Ein Netz von überwiegend gut markierten Wanderwegen führt durch die unterschiedlichen Landschaften der Insel. So kann man von Misdroy an der Ostseeküste bis nach Neuendorf (Wiselka) am Rande des 1960 gegründeten Insel-Nationalparks spazieren, dessen Logo ein Seeadler ziert. Oder den Waldwanderweg nach Lebbin einschlagen, eine von vielen schönen Touren quer durch den Nationalpark. Wollins Seeadler finden hier ein ideales Brutgebiet – die starken alten Bäume tragen die schweren Nester der Raubvögel problemlos, und das flache Haffwasser ermöglicht den Raubvögeln den schnellen Griff nach Fischen.

Zwischen Misdroy und Lebbin, auf halber Strecke am Steilhang des Buchenwalds, fallen unvermittelt riesige Betonstufen zwischen den Bäumen ins Auge. Sie sind ein Überbleibsel aus dem Zweiten Weltkrieg: Reste einer Abschussrampe der geheimen deutschen sogenannten Vergeltungswaffe V3. Sie gehören heute zu einem privaten Bunkermuseum, in dessen Kiosk Patronenschlüsselanhänger (laut Betreiber der Verkaufsschlager) und Gasmasken als Souvenir feilgeboten werden.

Wollin per Fahrrad

Der Rest des Wanderwegs ist frei von gruseligen Relikten aus der Vergangenheit. Am Stettiner Haff kurz vor Lebbin trifft man südlich der Hafenmole von Kalkofen (Wapnica) auf eine ruhige, kleine Badebucht: Dort kann man in Hängematten schaukeln, in den Himmel schauen und hoffen, dass sich ein Seeadler zeigt. Eine Garantie für eine Sichtung gibt es nicht, die Chancen stehen aber gut.

Am Ziel, in Lebbin, wartet dann der beste Aussichtspunkt der Insel: ein Café direkt am Kliff mit Veranda, Wiesen zum Hinsetzen und Blick über die vielen kleinen Inseln im Haff. Dass dieser Ort schon früh Menschen angezogen hat, zeigen Funde von bronzezeitlichen und mittelalterlichen Schutzbauten auf dem Kliff. Eine kleine Freilichtausstellung informiert über das Castellum Lubinum, mit Info-Tafeln auch auf Deutsch.

Per Rad lässt sich Wollin ebenfalls erkunden. Immer wieder tun sich unterwegs malerische Blicke auf: auf endlose Alleen, auf Bauminseln, die ihren Platz in sanft gewellten Getreidefeldern behaupten, auf Milchkühe auf fetten Weiden.

Perfekt sind die Radrouten allerdings nicht: Viele bestehen aus rissigen Betonplatten, die beim Radfahren Handgelenke und Hintern ordentlich durchschütteln. In den Dörfern wirkt manches unaufgeräumt und ungeschönt, mit viel grauem Putz aus sozialistischer Zeit. Anders als Usedom ist Wollin noch nicht flächendeckend renoviert und aufgemöbelt.

Weit in die Vergangenheit führt ein Abstecher ins Freilichtmuseum Centrum Slowian i Wikingow vor den Toren der Stadt Wollin, die der Insel ihren Namen gab – ein nachgebautes Wikingerdorf kurz vor der Brücke, die Wollins Süden mit dem Festland verbindet. Es versetzt Besucher ins zehnte Jahrhundert, also in jene Zeit, bevor Pommern deutsch besiedelt wurde.

Vineta, das Ostsee-Atlantis

In strohgedeckten Holzhütten stellt ein engagiertes Museumsteam das Leben von Slawen und Wikingern nach, die mit Waren handelten und dafür ein Netzwerk im Ostseeraum bildeten. Museumsführer Wojciech Ciesielski trägt Rauschebart und Ledergürtel um sein Leinenhemd, er spricht stolz von Erfolg und Größe der damaligen Siedlung: „Im frühen Mittelalter lebten hier bis zu 10.000 Menschen.“

Das Dorf wurde auf Grundlage von Ausgrabungen rekonstruiert – möglicherweise befand sich hier das Handelszentrum Jomsburg oder sogar das legendäre Vineta, die reiche Stadt, die als Ostsee-Atlantis untergegangen sein soll. Alljährlich im August findet auf dem Museumsgelände ein großes Wikingerfestival statt, mit mittelalterlichen Speisen, heidnischen Ritualen und historischen Handwerksvorführungen, bei denen Besucher Schmieden, Böttchern und Bernsteinschleifern über die Schulter schauen und sich selbst im Bogenschießen oder Münzschlagen versuchen können.

Wer das Dorf außerhalb des Festivals besucht, erlebt es ohne Rummel. Man kann in Ruhe Fladenbrot backen, mit Federkielen schreiben lernen, nordischen Schmuck herstellen. In einer der reetgedeckten Hütten sitzen dann Kinder und Erwachsene am Tisch und schlagen mit dem Hammer auf Punzier-Eisen, um Lederarmbänder mit Mustern zu verzieren – Blumen und Blätter sind beliebt, aber am populärsten ist das größte Raubtier der Insel: der Seeadler.

Tipps und Informationen:

Wie kommt man hin? Mit dem Auto dauert die Fahrt von Berlin über Stettin nach Misdroy rund 2,5 Stunden. Mit der Bahn ist die Anreise mit viel Umsteigen verbunden – man fährt bis Züssow/Vorpommern, steigt in die Usedomer Bäderbahn bis Swinemünde, weiter per Bus oder mit der polnischen Bahn nach Misdroy.

Wo wohnt man gut? „Marena Wellness & Spa“, mitten im Wald in Heidebrink, mit Restaurant, Pool, Sauna, Doppelzimmer/Frühstück ab umgerechnet 93 Euro (marenaspa.pl/de). „Zakatek Mala“ in Kolzow bietet moderne Holzferienhäuser direkt am Zolwinskie-See, mit eigenem Steg und Grillplatz, Apartment mit Küche ab 140 Euro/Tag (buchbar über Booking.com; zakatekmala.pl).

Reisen mit Veranstalter: Bei Wikinger Reisen ist zum Beispiel die geführte Sieben-Tage-Wanderreise „Klippen und Strände auf der Insel Wollin“ buchbar, ab 1285 Euro pro Person inklusive Bustransfer ab Berlin, Hotel, Halbpension, Reiseleitung, Eintritte (wikinger-reisen.de). Veranstalter Pommernradler bietet geführte Radtouren an, etwa ab Usedom die Schiffs- und Rad-Tagesreise „Große Insel-Wollin-Tour“, ab 48 Euro pro Person, auch individuelle Trips mit Reiseleitung buchbar (der-pommernradler.de).

Weitere Infos: polen.travel

Die Teilnahme an der Reise wurde unterstützt von Polnischen Fremdenverkehrsamt und Wikinger Reisen. Unsere Standards der Transparenz und journalistischen Unabhängigkeit finden Sie unter go2.as/unabhaengigkeit.

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