Rambhan Jadhav legt jeden Werktag rund 35 Kilometer mit dem Fahrrad zurück und transportiert dabei 50 Lunchboxen – volle Gefäße hin, leere zurück. Er verlässt sein Haus gegen sechs Uhr morgens und kehrt meist erst nach 20 Uhr zurück. Der 35-jährige Rambhan ist einer von 5000 Dabbawalas in Mumbai. Ein echter Männer-Job, wenngleich in den letzten Jahren auch vereinzelt ein paar Frauen in die Domäne vorgedrungen sind.

Das Hindi-Wort Dabba steht für eine mehrteilige Lunchbox, einem deutschen Henkelmann vergleichbar; Wala bedeutet berufstätige Person. Am Weltkulturerbe Victoria Station, Mumbais Hauptbahnhof, sieht man ihn und seine Kollegen wochentags an jedem Vormittag: Meist ganz in Weiß gekleidete Männer mit ihren typischen weißen Gandhi-Hütchen, die auf Fahrrädern, Karren oder Stellagen Dutzende von runden Metallbüchsen zum Bahnhof transportieren oder sie für den Weitertransport auf den Gehwegen sortieren.

Die Dabbawalas entwickelten und beherrschen ein von Logistikexperten viel beachtetes Vertriebssystem, das es so nur in Mumbai gibt. Sie liefern täglich gut 200.000 Lunchboxen mit hausgemachtem Essen in die Büros der Stadt.

Eine Box besteht aus drei bis fünf übereinander gesteckten runden Edelstahldosen, in denen Suppen, Reis, Currys und vielleicht auch ein Nachtisch wärmeisoliert verpackt sind, häufig noch mit einem Stoffüberzieher versehen. Rambhan sagt: „Indische Hausfrauen können durch uns ihre Männer oder Kinder mit Hausmanns- oder von der Religion vorgeschriebener Kost versorgen, obwohl die häufig weit weg von zu Hause in den Büros von Mumbai arbeiten.“

Allein Mumbai hat eine Nord-Süd-Ausdehnung von knapp 40 Kilometern und ist gut 600 Quadratkilometer groß. Viele Berufstätige arbeiten zwar in der Stadt, wohnen aber außerhalb, zuweilen Dutzende Kilometer entfernt, und werden dennoch ganz individuell von zu Hause aus versorgt. Würden sie ihr Mittagessen gleich in der Frühe selbst mitnehmen, wäre es längst kalt. Der Preis für die wochentägliche Zustellung und Abholung der Lunchbox wird nach Distanz berechnet und liegt bei durchschnittlich zehn Euro pro Monat.

Niemand weiß die genaue Einwohnerzahl Mumbais

Mumbai ist ein Gebilde, in dem verschiedene Welten ihren Platz finden. Die Stadt ist ein Potpourri aus Ethnien und Klassen, aus Lifestyle und Elend. „Der Zustrom von Menschen machte aus Mumbai die multikulturellste Stadt Indiens, in der ebenso viel Englisch gesprochen wird wie Hindi, Marathi oder Gujarati“, sagt Prakash Bapat, der als Dozent an der Universität von Mumbai zuletzt 37 Studenten als Reiseleiter für deutsche Touristen in Indien ausbildete.

„Mumbai war auch immer innovativ: Problem, Analyse, Lösung. Vielleicht gibt es deshalb nur in meiner Stadt die Dabbawalas“, mutmaßt Bapat. Die Henkelmänner sind in Mumbai geachtet, sie gehören quasi zum immateriellen Kulturerbe der Metropole. Niemand weiß die genaue Einwohnerzahl, sie dürfte deutlich über 20 Millionen liegen.

Dabbawalas gibt es in Mumbai schon seit 1890, als es noch Bombay hieß und Teil der britischen Kolonie Indien war. Ihr System dürfte einer der ältesten Lieferdienste der Welt sein. Während der Coronazeit brach das Geschäft fast völlig zusammen, hat sich mittlerweile aber wieder erholt.

„Für die meisten ist es günstiger, für eine Dabba-Zustellung zu bezahlen, als täglich in der Kantine oder im Restaurant essen zu gehen. Schmackhafter ist es auf jeden Fall!

Die Nachfrage nach Dabbawalas wird nie aufhören“, sagt Rambhan. Positiv ist auch, dass jeder Lieferant automatisch Mitglied in Mumbais Dabbawala Association ist, die die Gesundheitsvorsorge für die Familie und für die Bildung der Kinder garantiert sowie 5000 Rupien pro Woche als Lohn bezahlt. Das sind umgerechnet auf den Monat ungefähr 220 Euro.

Zuverlässigkeit von 99,99 Prozent

Und wie funktioniert das Ganze? Lediglich mit codierten Zahlen und Ziffern sowie Farben gekennzeichnet, wandert jede Lunchbox über viele Kilometer und durch viele Dabbawala-Hände, wird transportiert mit Fahrrad, Karren, Bahn, Bus, aber auch zu Fuß – und kommt stets zur bestellten Zeit an.

Rambhan holt das frisch zubereitete Essen direkt an der Wohnungstür der Absenderinnen oder neuerdings auch bei spezialisierten Großküchen ab, bringt es mit dem Fahrrad zum Zug, wo es in Tragegestellen weitertransportiert und schließlich am Zielbahnhof von einem anderen Dabbawala abgeholt und beim Empfänger im Büro abgeliefert wird. Alles ohne GPS, Lieferschein oder Quittung. Und nachmittags macht jede Lunchbox ihren Weg zurück, sodass sie am nächsten Vormittag frisch gefüllt wieder auf Reisen gehen kann.

Jeder Dabbawala kennt seine Kundschaft persönlich, ob als Abholer oder als Überbringer. Häufig wird die Lunchbox sogar bis zum Schreibtisch des Empfängers gebracht. Ein Lieferdienst, der täglich nur ein paar Rupien kostet und nahezu perfekt funktioniert. Die Harvard-Universität untersuchte das Dabbawala-System ebenso wie Software-Experten, das Magazin „Forbes“ attestierte eine Zuverlässigkeit von 99,99 Prozent.

Rambhan sieht es nüchtern: „Unsere gigantische, chaotische Stadt kann nur funktionieren, wenn sehr viele Menschen sehr viele kleine Dinge tun.“ Prinz Charles ließ sich das System bei einem seiner Besuche, als er noch nicht König war, erklären – und war begeistert.

Vor ein paar Jahren wurden die Metallbüchsen und Dabbawalas im Film „Lunchbox“ sogar zu Bollywood-Stars: Eine mitreißende Tragikomödie, in der es um genau die 0,01 Prozent Fehlerquote geht. Die Lunchbox von Ila erreicht nämlich nicht ihren Mann Rajiv, sondern einen Witwer, der die Fehlsendung nutzt, um via Lunchbox eine romantische Brieffreundschaft zu Ila zu beginnen.

Bleibt die Frage, wo der Fehler lag. Für Rambhan ist so ein Irrläufer völlig unerklärlich. Er deutet auf eine Lunchbox mit dem Code RGL11GA3: „Das R hier steht für den Dabbawala, in diesem Fall für mich. Die nächsten beiden Buchstaben bezeichnen das Abhol-, die folgenden beiden Zahlen das Liefergebiet. Es folgen Codes für Straße, Gebäude, Stockwerk. Ist doch ganz einfach!“ Was er nicht sagt: Diese einfachen Codes gibt es, weil viele Dabbawalas nicht lesen und schreiben konnten und manche es bis heute nicht können.

Als Tourist einen Dabbawala treffen

Inzwischen kann man einen Dabba-Dienst auch online buchen, sogar Werbeflächen auf Dabbawala-Fahrrädern mieten. Und Veranstalter wie Enchanting Travels oder Getyourguide machen es Touristen möglich, einen Dabbawala zu treffen.

Ein Guide fungiert dabei als Übersetzer, da kaum ein Dabbawala Englisch spricht. Interessierte lassen sich den Lieferdienst vor Ort erklären und erzählen vielleicht ihrerseits, dass es früher auch in Deutschland Henkelmänner gab. Dieses System war aber viel schlichter als das indische: Nichts wurde geliefert, man nahm sich die Henkel-Lunchbox morgens selbst mit zur Arbeit.

Weitere Infos:

So bucht man: Wer ohne Veranstalter reist, kann ein Treffen mit einem Dabbawala buchen über getyourguide.de (halbtags, ab 30 Euro). Bei Gästen von Reiseveranstalter Enchanting Travels sind Treffen mit einem Dabbawala möglich und im Gesamtpreis inbegriffen (enchantingtravels.com/de).

Die Teilnahme an der Reise wurde unterstützt von Enchanting Travels. Unsere Standards der Transparenz und journalistischen Unabhängigkeit finden Sie unter go2.as/unabhaengigkeit

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