Claus Lindner (SPD) tritt aus seinem Büro in Duisburg und zeigt auf eine Betonfläche. Lindner ist Mitglied der SPD-Fraktion in der Bezirksvertretung Hamborn und Koordinator für den Stadtteil Marxloh. „Das hier“, sagt er, „ist die Bühne der Begegnung.“ Ein Name wie aus einem Katalog. In Wahrheit: ein graues Podest, eine Stufe erhöht. Kein Mensch sitzt hier oder unterhält sich. Nur ein Junge zieht auf seinem Tretroller enge Kreise.

Dabei soll hier eigentlich viel Begegnung stattfinden. Marxloh, bisher einer der ärmsten Stadtteile der Republik, gilt als Modell – als sogenannte „Arrival City“, also als Ankunftsort für Menschen aus aller Welt, die hier neu anfangen können sollen. Integration, Teilhabe, Begegnung. So steht es in Konzeptpapieren und Projektplänen. Vor Ort aber ist vieles schwerfälliger als geplant. Die Bühne bleibt leer. Das Versprechen hängt in der Luft.

Marxloh solle ein Beispiel sein, sagt Claus Lindner. Ein Labor für das, was in deutschen Städten gelingen könnte – wenn man Migration nicht nur verwaltet, sondern gestaltet. Der britisch-kanadische Journalist Doug Saunders hat den Begriff „Arrival City“ geprägt – nicht als Planungsinstrument, sondern als Beobachtung. Er meinte Viertel, die von unten wachsen: chaotisch, prekär, aber mit Potenzial. Orte, an denen Menschen ankommen, sich vernetzen und irgendwann weiterziehen, wenn sie ein Stück weit angekommen sind.

Diese Städte planten das alles nicht – sie holten allenfalls später nach, was schon passiert war. In Duisburg ist es andersherum: Die Stadt will den Wandel gestalten, strukturieren, kontrollieren. Eine „Arrival City“ nach Drehbuch. Die Frage ist nur: Funktioniert das?

Bevor vor Ort begonnen wurde, hat sich die Verwaltung zwei Jahre lang intern sortiert: Zielbäume, Monitoring und Workshops. Seit Januar 2025 läuft die sogenannte Rollout-Phase. Ankommen soll hier nicht nur die neu zugezogene Bevölkerung – sondern auch die kommunale Verwaltung.

50 Millionen Euro fließen in Marxloh und den Nachbarstadtteil Alt-Hamborn: neue Grundschulzentren, Verkehrskonzepte, Bürgerbeteiligung, der Campus Marxloh. Seit 2023 habe die Verwaltung begonnen, den Stadtteil gezielt neu zu strukturieren. Vieles sei auf seine Initiative zurückzuführen, sagt Lindner – auch wenn er betont: „Ich habe vieles angestoßen, aber es ist immer Teamwork.“ Die Verwaltung in Duisburg-Marxloh spricht von „ressortübergreifender Steuerung“, von „resilienten Bildungslandschaften“.

Ein Rundgang durch Marxloh

Wer mit Claus Lindner über die Hagedornstraße in Marxloh geht, hört andere Sätze. „Herr Lindner! Sie müssen was tun! Die Ratten kommen abends in ganzen Armeen!“ Eine Frau ruft vom vierten Stock. Unten bleibt Lindner stehen, nickt freundlich, verspricht, sich zu kümmern. Die Mülltonnen seien ein Problem. Viele Kinder brächten den Müll runter, aber könnten die Tonnen gar nicht richtig schließen. Die Stadt habe mittlerweile eine eigene Müll-Taskforce aufgestellt: die Mitarbeiter mit Leuchtwesten, Müllzangen und Strafandrohung aus dem Bußgeldkatalog.

Eine ältere Frau im Erdgeschoss will ihren Namen nicht nennen. Früher, sagt sie, sei hier jeder rausgegangen und habe den Gehweg gekehrt. Heute stapelten sich Müllsäcke an den Ecken, manchmal werde Sperrmüll einfach abgekippt. Dass es zuletzt etwas sauberer geworden sei, liege wohl an den Kontrollen. Wer Claus Lindner sei, wisse sie. „Der bemüht sich wenigstens. Aber es ist halt viel auf einmal.“

Lindner erinnert sich an die Jahre nach 2013 – den Beginn der Zuwanderung aus Südosteuropa. In der Hagedornstraße wurde Wohnraum damals pro Matratze vermietet, viel zu viele Menschen lebten auf engstem Raum. Frauen rutschten in die Prostitution, ganze Häuser standen unter der Kontrolle von Clans. „Unzumutbare Zustände“, sagt Lindner rückblickend. Anders als bei der späteren Flüchtlingskrise 2015 fehlten damals strukturierte Integrationsangebote – es gab kein städtisches System, das bei Unterkunft, Sprachkursen oder Alltagsfragen unterstützte. Heute sei vieles besser, sagt er. Aber besser heißt hier: weniger schlimm. Nicht gut.

An der Ecke steht die Herbert-Grillo-Gesamtschule. Sie gilt als Ort der Hoffnung: aufwendig saniert, neue Sporthalle, barrierefrei, energetisch modernisiert. Vier Millionen Euro Bundesmittel flossen laut „WAZ“ in das Modellprojekt. Denn für ein funktionierendes „Arrival-City“-Konzept braucht es in den ärmsten Vierteln die besten Schulen – eigentlich.

Doch an den Marxloher Schulen, erzählt Lindner, kämen viele Kinder an, ohne ein Wort Deutsch zu sprechen, manche sogar ohne jede Schulbiografie. Lehrkräfte wendeten sich an ihn, um von ihrer Erschöpfung zu berichten. Kaum jemand bewerbe sich noch freiwillig. In der angrenzenden Grundschule an der Henriettenstraße gebe es ganze Jahrgänge ohne ein einziges Kind mit deutscher Herkunft, so Lindner. Wer sich jedoch auf den Stadtteil einlasse, bleibe meist – viele Lehrkräfte blieben über Jahre und würden zu wichtigen Bezugspersonen.

Nach mehreren Fällen von Vandalismus an der Herbert-Grillo-Gesamtschule plant die Stadt nun ein Pilotprojekt zur Videoüberwachung – jedoch nur außerhalb der Schulzeiten. Bevor die Kameras installiert werden können, müssen noch datenschutzrechtliche Fragen geklärt werden. Die Stadt betont, dass technische Überwachung nur als letztes Mittel in Betracht kommt – Vorrang hätten bauliche Maßnahmen wie ein zentraler Zugang zum Schulgelände oder das Verschließen von Außentoiletten.

Neben der Grillo-Schule wächst der Campus Marxloh – ein Bildungs- und Nachbarschaftszentrum für alle. Es soll offen und niedrigschwellig sein, mit mehr als 30 beteiligten Organisationen. So jedenfalls klingt es in der Projektbeschreibung. In der Realität ist der Bau fast dreimal so teuer wie geplant, die Fertigstellung wurde mehrfach verschoben. Aus anfangs veranschlagten elf Millionen Euro wurden inzwischen rund 30 Millionen Euro. Es soll ein wichtiger Ort werden für Marxloh – nur eben noch nicht jetzt.

Viele der Zugewanderten in Marxloh kommen aus Rumänien und Bulgarien. Nicht als Fachkräfte, sondern als Teil einer prekären europäischen Binnenmigration. In offiziellen Statistiken tauchen sie oft als Problemgruppe auf – wegen Müll, wegen fehlender Schulbindung, wegen Sozialleistungsbetrugs. Viele Familien kommen aus Regionen mit kaum funktionierender Verwaltung, weder Eltern noch Kinder sprechen Deutsch. Sie lebten oft zu sechst oder mehr auf 40 Quadratmetern, so Lindner.

Ein paar Querstraßen weiter beginnt das, was in Marxloh als „Wunder“ gilt: die Weseler Straße. Hier reihen sich mehr als 100 Brautmodeläden aneinander, die meisten in türkischer Hand. Es glitzert, es rauscht, es schiebt. Kunden kommen aus den Niederlanden, aus Belgien, aus ganz Nordrhein-Westfalen. Ein Brautkleid für jeden Geschmack – lila, türkis, bestickt, geschlitzt. Dazwischen: Juweliere, Cafés, Handyläden.

Die Stadt feiert die Straße als Symbol geglückter Eigeninitiative. Und tatsächlich: Der Leerstand ist verschwunden, die Mieten steigen. Aber auch hier regt sich Unmut: Die Bürgersteige seien zu eng, die Straße ständig verstopft, die Anwohner genervt, wie die „WAZ“ berichtet. Die Stadt denkt über Parkhäuser an den Enden nach. Einen Zeitplan gibt es nicht.

Eine Straße, zwei Realitäten

Wenige Straßen weiter beginnt das Gegenteil der Weseler Straße: die Wilfriedstraße. Hier steht die alte August-Thyssen-Siedlung – einst Unterkunft für Werksarbeiter, heute Symbol eines Geschäftsmodells, das mit Armut Rendite macht. Eigentümer ist ein Immobilieninvestor aus Hessen, der Wohnungen in ganz Deutschland vermietet. Bewohner erzählen von unzumutbaren Lebensumständen, von Wochen ohne Warmwasser und kaputten Heizungen, die nicht repariert werden. „Die Investoren kaufen billig, stecken keinen Cent rein – und wissen genau, dass die Leute nicht wegkönnen“, sagt Lindner. „Das ist ein Geschäftsmodell, das auf Abhängigkeit basiert. Und auf Kalkül.“

Im vergangenen Jahr zählte die Polizei 141 Fälle von Gewaltkriminalität in Marxloh. Platz fünf im Duisburger Stadtvergleich. Die Aufklärungsquote ist stabil, die Zahl der Tumultlagen rückläufig. Trotzdem: Bei einigen bleibt ein Gefühl mangelnder Sicherheit. Weil es nicht die Statistik ist, die das Bild prägt – sondern der Blick in den Hausflur, der Weg zur Schule, der Müll an der Ecke.

Claus Lindner sagt, man dürfe sich nicht täuschen lassen. „Es ist besser geworden.“ Aber er weiß auch, dass zwischen einem Projekt und einer echten Ankunft ein langer Weg liegt. Die Bühne der Begegnung steht einige Stunden später noch immer leer. Nur der Junge mit dem Roller zieht noch seine Kreise.

Maximilian Heimerzheim ist Volontär im Innenpolitik-Ressort.

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