„Wir sehen, dass Russland versucht, neue Fronten zu eröffnen“
Carlo Masala ist Professor für Internationale Politik an der Fakultät für Staats- und Sozialwissenschaften der Universität der Bundeswehr München. WELT TV hat den studierten Politikwissenschaftler und Sicherheitsexperten zu der neuen Positionierung des Bundeskanzlers bezüglich deutscher Waffensysteme befragt, WELT dokumentiert hier die wichtigsten Passagen des Gesprächs in redaktioneller Bearbeitung.
WELT: Herr Masala, Sie beschäftigen sich seit Jahren mit dem Krieg in der Ukraine und sind immer wieder unser Gesprächspartner. Nun vollzieht Kanzler Friedrich Merz eine Kehrtwende bezüglich der Beschränkungen deutscher Waffensysteme im Hinblick auf russisches Territorium. Wie ordnen Sie das ein? Ist das tatsächlich eine absolute Überraschung?
Carlo Masala: Nein, das ist keine Überraschung. Aber es ist auch nicht so sensationell, wie es seit gestern durch die Presse geht. Wenn man sich überlegt, welche Reichweiten die bisher gelieferten Waffensysteme haben, liegen diese zwischen 40 und 80 Kilometern. Das bedeutet, dass wir der Ukraine jetzt erlauben, bis zu 80 Kilometer weit in russisches Territorium zu schießen – mit deutschen Waffensystemen. Dies wird jedoch keine entscheidende Veränderung mit sich bringen. Anders sieht es bei den von den USA, Frankreich und Großbritannien gelieferten Systemen aus, die Reichweiten von bis zu 300 Kilometern haben. Da stellt sich die Frage, wie viele dieser Systeme die Ukraine noch besitzt und welche Ziele innerhalb dieser Reichweite überhaupt noch getroffen werden können. Russland hat bereits viele Ziele weit hinter die Frontlinie verlegt, etwa damals, als es um Belgorod ging. Die Frage ist also, wie viele lohnenswerte militärische Ziele auf russischem Gebiet noch vorhanden sind und wie viele Systeme der Ukraine noch zur Verfügung stehen.
WELT: Friedrich Merz hat angedeutet, dass offenbar auch bei den Partnerstaaten die Reichweitenbegrenzung aufgehoben wurde. Ist das in Ihren Augen ein neuer Stand?
Masala: Das wäre in der Tat ein neuer Stand, wenn die Reichweitenbegrenzung aufgehoben wurde. Doch es bleibt unklar, wie viele der reichweitenstärksten Systeme, wie die amerikanischen ATACMS mit bis zu 300 Kilometern Reichweite, die Ukraine überhaupt noch einsetzen kann. Das wissen wir aktuell nicht. Gleiches gilt für die britischen Storm Shadow und die französischen Skalp. Zudem ist fraglich, ob in dieser Reichweite überhaupt noch relevante militärische Ziele vorhanden sind, oder ob Russland diese bereits weiter zurückverlegt hat, in Erwartung einer solchen Entscheidung.
WELT: Bedeutet das nicht, dass Merz womöglich mit dem Gedanken spielt, den deutschen Marschflugkörper Taurus mit 500 Kilometern Reichweite an die Ukraine zu liefern? Dieses Waffensystem wird von der Ukraine bereits seit Jahren gefordert.
Masala: Ja, es ist möglich, dass Merz mit diesem Gedanken spielt oder Russland den Eindruck vermitteln möchte, er könnte den Taurus liefern. Allerdings sehe ich dies nicht als realistisch an. Die Reaktionen aus der SPD und von Parteichef Lars Klingbeil zeigen, dass der Taurus innerhalb der Bundesregierung nicht durchsetzbar ist. Derzeit wird eher diskutiert, wie die Ukraine durch eine mögliche finanzielle Unterstützung unsererseits ihre eigenen Systeme oder deren Produktion verbessern kann. Der Taurus selbst ist innerhalb dieser Koalition meiner Ansicht nach nicht durchsetzbar.
WELT: Nun kommt am morgigen Mittwoch auch Wolodymyr Selenskyj nach Berlin. Erwarten Sie da eine offizielle Erklärung?
Masala: Bei offiziellen Besuchen von Wolodymyr Selenskyj in Berlin werden normalerweise immer auch Hilfszusagen gegeben, im humanitären, aber auch im militärischen Bereich. Da wird sicher etwas kommen, ein neues „Paket“ geschnürt werden. Die Hoffnungen auf eine offizielle Ankündigung zum Taurus würde ich aber dämpfen wollen. Die wird es am Mittwoch wohl nicht geben, auch, weil die Ausbildung ukrainischer Soldaten für den Einsatz erforderlich wäre und die Bundesregierung hier keine öffentlichen Diskussionen führen möchte.
WELT: Der Kreml hat schnell reagiert. Der Sprecher von Präsident Putin, Dmitri Peskow, bezeichnete die Maßnahme gar als „gefährliche Entscheidung“. Wie bewerten Sie diese Reaktion?
Masala: Die russische Regierung brandmarkt grundsätzlich jede Waffenlieferung an die Ukraine als gefährliche Eskalation. Das ist Teil ihrer Abschreckungspolitik, die seit Beginn des Krieges verfolgt wird. Das ist auch der Versuch, auf die europäische Öffentlichkeit einzuwirken, um so dann weitere Waffenlieferungen zu verhindern. Diese Reaktion war also erwartbar.
WELT: Es gibt Berichte, dass die russische „Kriegswirtschaft“ nicht mehr voll leistungsfähig sei und Russland zunehmend von Verbündeten abhängig sei. Wie schätzen Sie die Lage ein?
Masala: Hier haben wir alle nur begrenzte Einblicke. Viele Beobachter hatten ja auch 2023 nicht erwartet, dass Russland sein System so rasch und radikal auf eine Kriegswirtschaft umstellen kann. Natürlich wird das Material Russlands mit der Zeit immer weniger werden. Berichte, die meiner Meinung nach auch seriös sind, gehen aber davon aus, dass dies nicht im Jahr 2025 der Fall sein wird und Russland womöglich sogar noch das Potenzial hat, ins Jahr 2026 reinzugehen. Wir sehen ja auch, dass Russland aktuell versucht, neue Fronten zu eröffnen und einen Vorstoß zu unternehmen, etwa in der Region um Sumi und Kharkiv herum. Die Verhandlungen werden zudem verzögert. Ein baldiger Zusammenbruch der russischen Kriegswirtschaft ist daher nicht zu erwarten.
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