Die unablässige Relativierung, wenn es um Schwulenhass unter Muslimen geht
Im vergangenen Jahr konnte ich einen Workshop für Pädagogen zum Thema „Aktuelle Herausforderungen der Einwanderungsgesellschaft an Berliner Schulen“ journalistisch begleiten. Da ich mich schon lange mit religiös motivierten Konflikten und islamisch begründeten Unterdrückungsverhältnissen unter Jugendlichen beschäftigte, war höchstens die Dichte an Vorfällen für mich überraschend, über die die Lehrer an Schulen mit mehrheitlich konservativen Muslimen unter den Schülern berichteten.
Sie erzählten von Schülern, die geschlechtergetrennte und konfessionsgebundene Gebetsräume fordern, während des Unterrichts Gebetszeiten einhalten wollen und sich während des Ramadan schlechter konzentrieren können, weil sie schon im jungen Alter auf Essen und Trinken verzichten. Von liberalen Muslimen, die von konservativ bis fundamentalistisch gesinnten Muslimen gedrängt werden, sich „islamkonform“ zu verhalten, etwa zu fasten, zu beten und sich zu verschleiern. Sie erzählten von einer Schmiererei, bei der ein Mädchen in den Toilettenräumen „Der Islam wird siegen“ geschrieben und Symbole anderer Religionen durchgestrichen hat.
Von Schülerinnen, die nach den Ferien plötzlich ein Kopftuch oder eine Ganzkörperbedeckung tragen; von Schülern, die erst zum Islam konvertieren und die religiösen Regeln dann immer strenger befolgen. Sie berichteten von Jugendlichen, die sich als Prediger inszenieren, Mitschüler im Unterricht auf Arabisch zur Ordnung rufen – und solche abwerten, von denen sie behaupten, schwul zu sein. Und sie erzählten von schwulen und bisexuellen Kollegen, die vor den Schülern ungeoutet bleiben, weil sie wissen, dass sie von vielen nicht akzeptiert oder gar gemobbt werden würden.
All das berichteten sie mit der gebotenen Differenzierung. Sie erzählten, dass es an Schulen in anderen Stadtteilen Probleme mit rechtsextremer Ideologie gibt und Schwulenfeindlichkeit auch unter nicht-muslimischen Schülern verbreitet ist. Sie berichteten davon, dass es in erster Linie ebenfalls Schüler aus muslimischen Familien sind, die von ihren islamistisch gesinnten Mitschülern bedrängt und beleidigt werden. Sie berichteten, dass regelmäßig auch muslimische Schüler Opfer von Diskriminierung werden. Und sie berichteten, dass es an ihren Schulen selbstverständlich auch viele Muslime gibt, die gar nicht auffallen – oder lediglich als besonders gute und aufmerksame Schüler.
Dann meldete sich eine junge Lehrerin zu Wort. „In meinem Kopf gehen alle Alarmglocken an“, sagte sie – und meinte damit nicht das beschriebene Verhalten der Schüler, sondern die Schilderungen ihrer Kollegen. „Ich habe ein krasses Problem mit dem Wording“, sagte sie. Und begann zu relativieren. „Gab es denn ein Gespräch mit dem Mädchen?“, fragte sie zu einer Schilderung über eine Grundschülerin, die im Schlamm auf einem Spielzeug-Schweinchen herumtrat, weil Schweine haram seien, also nach islamischem Recht verboten. „Es ist normal, dass Kinder Wutanfälle haben.“ Und wenn junge Mädchen entschieden, sich zu verschleiern oder zu konvertieren, sei das kein Problem, es gelte schließlich Religionsfreiheit – als ob das immer eine freie und selbstbestimmte Entscheidung wäre und Druck aus dem sozialen Umfeld keine Rolle spiele.
In der vergangenen Woche ist ein lesenswerter Text in der „Süddeutschen Zeitung“ erschienen, der eine kleine – und dringend notwendige – Debatte über muslimisch geprägten Schwulenhass an Schulen ausgelöst hat. Die Diskussion lief ziemlich ähnlich wie bei der Fortbildung, an der ich vor einem Jahr teilnehmen konnte. Der „SZ“-Kollege Thorsten Schmitz berichtete in seiner Reportage eindrücklich von einem erschreckenden Fall des schwulen Lehrers Oziel Inácio-Stech, der von streng muslimischen und offensichtlich von ihren Eltern indoktrinierten Grundschülern an einer Schule in Berlin-Moabit so lange gemobbt wurde, bis er sich wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung dauerhaft krankmelden musste.
Sein Coming-out, das in einer pluralistischen, liberalen und demokratischen Gesellschaft eine Selbstverständlichkeit sein sollte, wurde ihm zum Verhängnis. Erst wurde der Lehrer beleidigt, dann bedroht. Von Kindern. Kinder, die von einer „Familienschande“ sprechen. Vom Islam, der „hier der Chef“ sei – und „siegen“ werde, wie auch das im Workshop thematisierte Mädchen und seine Toilettenschmiererei. Es sind Kinder, denen offensichtlich von ihren Eltern beigebracht wird, dass Homosexualität verschabscheuenswert sei; dass Jungen mehr wert seien als Mädchen und Männer mehr als Frauen. Kinder, denen bereits im Grundschulalter religiöse Regeln aufgezwungen werden und denen damit ein gleichberechtigtes Lernen verwehrt wird. Besonders krass an dem Fall, den die „SZ“ schilderte: Die Schulleitung und die Schulaufsicht stellten sich nicht schützend vor den Betroffenen.
Zwei Reaktionen waren leider exemplarisch. Die religionspolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Lamya Kaddor, erklärte es für „besonders beunruhigend, wie reflexartig in solchen Fällen muslimische Schüler*innen zum Hauptproblem erklärt werden, als wäre Queerfeindlichkeit ein exklusives ‚Problem der anderen‘“. Die Journalistin Gilda Sahebi wollte im Text der „Süddeutschen“ gar ein Zeichen dafür erkennen, „wie offensichtlich und unverblümt viele deutsche Medien das journalistische Handwerk zugunsten dem Nacherzählen von Machtnarrativen unterordnen“. Der Text verbreite „autoritäre Erzählungen“, er bestehe „in erster Linie aus Projektionen der Autors“.
Selbstverständlich ist Homosexuellenfeindlichkeit kein exklusives „Problem der anderen“, das weiß auch jeder Betroffene. Auch ich kann mich als bisexueller Mann noch zu gut daran erinnern, wie „schwul“, „Schwuchtel“ und „Mädchen“ an meinem bayerischen Gymnasium mit kaum muslimischen Schülern in den 2000er-Jahren als Beleidigungen genutzt wurden und Lehrer wegschauten; wie ein lesbisches Pärchen in der Jahrgangsstufe verächtlich gemacht wurde, wie meine Biologie-Lehrerin Homosexualität einfach ausblendete; wie Schüler gemobbt wurden, die sich nicht einem engen Geschlechterkorsett konform verhielten.
Es hatte einen Grund, warum sich die meisten meiner nicht-heterosexuellen Mitschüler erst nach dem Abitur outeten: Weil vorher ein akzeptierendes Umfeld fehlte. Noch immer ist ein Coming-out oft mit Leid verbunden, noch immer sind Depressionen und Suizidalität unter gleichgeschlechtlich liebenden Jugendlichen deutlich weiter verbreitet als unter Heteros.
Aber in diesem Fall, um den es jetzt geht, ist ein relevanter Teil der muslimischen Schüler das „Hauptproblem“. Wie auch in vielen anderen Fällen in Berlin und anderen Großstädten. Es ist nämlich mitnichten ein Einzelfall. Den bedrohten Lehrern und Schülern hilft es keineswegs, dies zu relativieren. Wer ein Problem nicht einmal benennen will, schützt nicht die Opfer, sondern die Täter.
Politikredakteur Frederik Schindler berichtet für WELT über die AfD, Islamismus, Antisemitismus und Justiz-Themen. Im September erscheint im Herder-Verlag sein Buch über den AfD-Politiker Björn Höcke. Zweiwöchentlich erscheint seine Kolumne „Gegenrede“.
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