Elf Wochen lang blockierte Israel jegliche Hilfslieferungen in den Gaza-Streifen. Seit vergangenem Dienstag dürfen nun wieder täglich 100 Lastwagen den Grenzübergang Kerem Schalom passieren. Viel zu wenig, wie Bushra Khaledi von der Hilfsorganisation Oxfam erklärt. Während der jüngsten Waffenruhe waren es noch bis zu 600 Lkw pro Tag.

Khaledi findet kaum Worte, um die verzweifelte Lage der Menschen in der kriegszerstörten Enklave der Palästinenser zu beschreiben. Es fehle an allem: sauberem Trinkwasser, sicheren Unterkünften, medizinischer Versorgung – vor allem an Lebensmitteln. „Eltern kochen sogar Gras für ihre Kinder“, sagt Khaledi WELT. Das sei keine Krise, sondern ein Kollaps sämtlicher Versorgungssysteme.

Die 37-Jährige lebt mit ihrer Familie im Westjordanland, ihr Mann stammt aus Gaza-Stadt, sie steht in engem Kontakt mit Verwandten dort vor Ort. Es gebe alarmierende Berichte, dass Menschen an Hunger und den gesundheitlichen Folgen sterben, sagt sie. Nach UN-Angaben mussten allein in diesem Jahr schon mehr als 9000 Kinder wegen akuter Unter- und Mangelernährung behandelt werden.

Israels Regierung begründet ihr Vorgehen damit, dass die Hamas Teile der Hilfslieferungen klaut, ihre Kämpfer versorgt und sie zu überteuerten Preisen an die Zivilbevölkerung verkauft. Ahmed Fouad Alkhatib, amerikanisch-palästinensischer Analyst von der Denkfabrik Atlantic Council mit guten Kontakten in den Gaza-Streifen, bestätigt den Vorwurf: Hamas habe während des Waffenstillstandes die „Hälfte der Hilfsgüter“ gestohlen. Hilfsorganisationen bestreiten das Ausmaß.

Auch israelische Ex-Militärs, die Opposition und Hunderttausende Demonstranten kritisieren die Kriegsführung offen und bezweifeln, dass so sie Kriegsziele erreicht werden könnten. Die Führung der Terrororganisation weigert sich, die Waffen niederzulegen. Sie halten noch mindestens 23 Geiseln lebende Geiseln gefangen.

Dass Israels Regierung überhaupt einlenkte und wieder Hilfsgüter in den Gaza-Streifen lässt, begründete Israels Premierminister Benjamin Netanjahu mit „praktischen und diplomatischen Gründen“: Israels „engste Freunde in der Welt“, darunter US-Politiker, könnten „Bilder von Massenhungersnöten nicht ertragen“, so Netanjahu in einer Videobotschaft. Netanjahus teils rechtsextreme Koalitionspartner wiederum kritisieren, dass nun Hilfsgüter geliefert werden. Am Wochenende kündigte Israels Militärführung laut Medienberichten an, die Offensive weiter zu intensivieren – und weiter an einem System zu arbeiten, Hilfsgütern so zu liefern, dass Hamas keinen Zugriff hat.

Im Gespräch mit WELT sagt Omar Abd Rabou, ein Bewohner Gazas und Journalist, dass sich die Versorgungssituation in den vergangenen Wochen stark verschlechtert habe. Die wenigen vorhandenen Lebensmittel seien unerschwinglich geworden. Die Preise hätten sich im Vergleich zum Vorkriegsniveau vervielfacht. Seine Schilderungen decken sich mit anderen Quellen.

So koste ein Kilogramm Zucker oder Mehl heute 30 Dollar, vor dem Hamas-Terrorangriff am 7. Oktober und dem darauffolgenden Beginn des Krieges nur einen. Auch ein Kilogramm Reis habe früher einen Dollar gekostet, heute seien es 20 Dollar. Die Fischerei an der Küste ist nur sehr begrenzt erlaubt. Ein Fischgericht war früher für zehn Dollar zu haben, heute koste es 100 Dollar – was sich in den wenigen noch arbeitenden Restaurants ohnehin kaum jemand leisten könne. Abd Rabou sagt, dass er sich von einer Mahlzeit am Tag ernähre.

„Selbst Zigaretten kosten 20 bis 30 Dollar, eine Schachtel bis zu 500 Dollar“, sagt der 30-jährige Palästinenser. „Viele rauchen, um den Druck des Krieges auszuhalten. Mittlerweile greifen manche sogar zu lokal hergestellten Alternativen: einer Kräutermischung mit Chemikalien, die weitere gesundheitliche Probleme verursacht.“

Auch täglich Hundert Lkw mit Lebensmitteln und Treibstoff dürften die dramatische Not im Gaza-Streifen kaum lindern. Dabei sind ausreichend Waren vorhanden, wenn sie nur verteilt würden. Nach UN-Angaben standen bereits vor der Aufhebung der israelischen Blockade mehr als 116.000 Tonnen Nahrungsmittelhilfe in den Hilfskorridoren bereit – genug, um eine Million Menschen bis zu vier Monate lang zu versorgen. Hilfsorganisationen werfen Israel daher vor, Hunger als Waffe einzusetzen.

Philippe Lazzarini vom UN-Palästinenserhilfswerk UNRWA schrieb auf der Onlineplattform X: „Die Rettung von Menschenleben muss Vorrang vor militärischen und politischen Agenden haben. Die Menschen in Gaza können nicht länger warten.“ Ungewöhnlich scharf äußerte sich der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein: „Die Palästinenser auszuhungern und die humanitäre Lage vorsätzlich dramatisch zu verschlimmern, hat nichts mit der Sicherung des Existenzrechts Israels zu tun“, sagte Klein der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“.

Dass im Gaza-Streifen schon länger eine Hungersnot droht, haben auch die israelischen Beamten der für Hilfslieferungen zuständigen Behörde Cogat gewusst, berichtete die „New York Times“ Mitte Mai. Demzufolge habe die Behörde unter Ausschluss der Öffentlichkeit das israelische Kabinett und das Militär informiert.

Einem Bericht der „Times of Israel“ zufolge sei die jetzt auf internationalen Druck erfolgte Erlaubnis von Hilfslieferungen nur eine „vorübergehende Maßnahme“, bis der geplante neue Verteilungsmechanismus für Hilfsgüter installiert ist. Eine neu gegründete Gaza Humanitarian Foundation (GHF) soll künftig die Hilfspakete an private US-Firmen liefern, die sie dann ohne lokale Vermittler nur an bestimmten Orten an die Bevölkerung verteilen.

Auf diese Weise soll verhindert werden, dass die Hamas Hilfslieferungen abfängt, ihre Kämpfer damit versorgt oder sie zu überhöhten Preisen verkauft. Hilfsorganisationen wie Oxfam bestreiten das Ausmaß der Kaperung und verweisen darauf, dass sie ihre Hilfslieferungen elektronisch verfolgen können, um möglichst sicherzustellen, dass sie den richtigen Empfänger erreichen.

Bis Ende Mai soll die neue Stiftung damit beginnen, Hilfe für 1,2 der mehr als zwei Millionen Menschen in Gaza bereitzustellen. Aber die Gaza Humanitarian Foundation, deren Arbeit durch die israelische Armee abgesichert werden soll, stößt bereits vor Inkrafttreten auf Kritik. Laut den UN würde das neue System den Zugang zu Hilfslieferungen erschweren. Zudem fürchten Kritiker, dass mit der Festlegung der Ausgabe-Stellen die humanitäre Hilfe instrumentalisiert werde, um die Bevölkerung des Gaza-Streifens an Punkten zu sammeln und sie letztlich zum Verlassen des Gazastreifens in Drittländer zu zwingen.

Israels Premier Netanjahu macht jedenfalls keinen Hehl daraus, dass er den Vorschlag des US-Präsidenten Donald Trump zur „Umsiedlung“ der Gaza-Palästinenser in die Tat umsetzen möchte. Laut israelischen Medien hoffen Regierungsvertreter, dass andere Länder die Bevölkerung Gazas aufnehmen, um die Diskrepanz zwischen den Kapazitäten des neuen Systems und der tatsächlichen Bevölkerungszahl zu reduzieren.

Alle in Gaza sind erschöpft

Nach fast 20 Monaten Krieg ist die Bevölkerung in Gaza erschöpft. Mohammed Saleh, Direktor des Al-Awda Krankenhauses im Norden des Gaza-Streifens, warnt, dass die andauernde Belastung die Menschen anfällig für Krankheiten macht. Sein Krankenhaus sei bereits 18 Mal unter Beschuss geraten, Mitarbeiter seien getötet oder verhaftet worden. Die Versorgung von Patienten, so berichtete er während einer Online-Pressekonferenz mehrerer Hilfsorganisationen, werde immer schwieriger – weil es an Material und Medikamenten fehle. Israel verweist stets darauf, dass die Hamas in Krankenhäusern Unterschlupf suche.

So dramatisch die Versorgungslage insgesamt ist, geht zumindest nach Ansicht von Abd Rabou die größte Bedrohung weiterhin vom unmittelbaren Kriegsgeschehen aus. „Du bist immer indirekter Todesgefahr ausgesetzt“, sagt er. „Du kannst nie komplett sicher sein, ob sich ein Hamas-Kämpfer in deiner Nähe aufhält oder sich ein Tunnel unter dir befindet. Werden diese von der israelischen Armee ins Visier genommen, bist du in Gefahr, mit ihnen zu sterben.“

Aktuell hält sich Abd Rabou in Nuseirat im mittleren Gaza-Streifen auf. Einen Evakuierungsbefehl während der jetzigen Offensive hält er für wahrscheinlich. Er sagt, wenn die Anweisung komme, werde er in die Sicherheitszone in Rafah gehen. „Danach will ich den Gaza-Streifen verlassen. Irgendwohin, wo man mehr Sicherheit, mehr Zukunft hat“, sagt Abd Rabou. „Irgendwo, wo man sich für Frieden zwischen den Palästinensern und den Israelis einsetzen kann.“

Amin Al Magrebi ist Volontär an der Axel Springer Academy. Für WELT schreibt er unter anderem über Syrien und den Nahost-Konflikt.

Claudia Ehrenstein ist Redakteurin im Ressort Außenpolitik. Für WELT berichtet sie seit mehr als 20 Jahren über politische Themen, zuletzt mit dem Schwerpunkt Entwicklungspolitik.

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