„Dann ist Tusks Projekt möglicherweise am Ende“
Piotr Buras ist seit 2014 der Leiter des Warschauer Büros der Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR). Zuvor berichtete er unter anderem für die polnische Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“ aus Berlin. Buras gilt als besonders gut vernetzt in der polnischen Hauptstadt und ist einer der renommiertesten Kommentatoren der Politik seines Landes.
WELT: Herr Buras, polnische Medien berichten über Wahlen gerne in Superlativen: Stets sind Urnengänge „die wichtigsten“ in der demokratischen Geschichte Polens, zuletzt die Parlamentswahlen im Oktober 2023. Aktuell sind es die Präsidentschaftswahlen am 18. Mai. Wie wichtig nun sind sie tatsächlich?
Piotr Buras: Was diese Wahlen wichtig macht, ist, dass die politische Wende, die im Oktober 2023 von Ministerpräsident Donald Tusk und seiner Koalition eingeläutet wurde, ohne einen Sieg ihres Kandidaten nicht vorangetrieben werden kann. Aus Sicht von Tusk geht es darum, die Rückkehr zur liberalen Demokratie zu ermöglichen. Das sind keine Phrasen, es steht tatsächlich viel auf dem Spiel. Denn sollte Rafal Trzaskowski, der Kandidat der Tusk-Partei, die Wahl gewinnen, wird Tusk die Möglichkeit haben, endlich seine Agenda umzusetzen. Wenn aber Trzaskowski verliert, dann ist Tusks Projekt möglicherweise am Ende, und zwar nicht nur wegen der dann nötigen Kohabitation von Regierung und Präsident; Trzaskowskis Niederlage würde eine Dynamik in Gang setzen, die sich gegen die Regierung richtet. Die Spannungen in der Koalition nähmen zu, es gäbe Zersetzungseffekte und in deren Folge vielleicht Neuwahlen.
WELT: Sie zeichnen ein wenig stabiles Bild von den politischen Verhältnissen in Polen. In den vergangenen Monaten jedoch wirkte Polen, das außenpolitisch entschlossen auftritt, im Vergleich zu anderen großen europäischen Ländern wie Deutschland oder Frankreich stabil. Wie erklären Sie das?
Buras: Die politische Lage in Polen ist relativ stabil, aber gleichzeitig eben fragil. Das ist auf zwei Faktoren zurückzuführen: Erstens auf die Zusammenarbeit in der Regierungskoalition, die nicht immer gut funktioniert, es gibt sehr viele Spannung. Das ist zu vergleichen mit der gescheiterten Ampel-Regierung in Deutschland. Zweitens rede ich von Fragilität, weil die Regierungsarbeit vom Ausgang der Präsidentschaftswahl abhängig ist. Hinzu kommt, dass die Stimmung in der Gesellschaft negativ ist; es gibt mehr Gegner als Befürworter der Regierungsarbeit von Tusk. Er hat nur niedrige Zustimmungsraten. Viele Wähler der Koalition sind enttäuscht darüber, dass Reformen nicht vorangehen, zum Beispiel mit Blick auf eine Liberalisierung der Abtreibungsgesetzgebung oder die Wohnungsbaupolitik. Das ist eine Gefahr für Trzaskowski: Er wird mit dieser Regierung in Verbindung gebracht. Das Lager der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) nutzt das aus, dessen Kandidat Karol Nawrocki etwa spricht Trzaskowski als „Herrn Vizevorsitzenden der Bürgerplattform“ (PO) an. Vor diesem Hintergrund, bei dem schlechten Ansehen der Regierung, ist es beinahe erstaunlich, wie gut Trzaskowski in Umfragen dasteht.
WELT: Liegt das nicht auch an der Schwäche von PiS-Kandidat Nawrocki? Der immerhin steht in Umfragen schlechter da als seine eigene Partei und wird jetzt auch noch durch einen Immobilienskandal schwer belastet.
Buras: Nawrocki ist definitiv ein schwacher Kandidat. Er ist ein komplett unerfahrener Politiker – was er sogar noch herausstellt, weil er denkt, er könnte so gegen eine angebliche Politikerkaste Stimmen sammeln. Seine Auftritte aber lassen erkennen, dass seine Unerfahrenheit ein Manko ist. Er ist ungeschickt und auf Fragen von Journalisten nicht vorbereitet. Er überzeugt selbst PiS-Wähler nicht unbedingt. Mit 22 bis 25 Prozent liegt er klar hinter der Partei, für die er antritt. Im zweiten Wahlgang müsste er mehr als fünfzig Prozent holen. Er ist dafür in einer schlechten Ausgangsposition. Davon profitiert Trzaskowski. Interessanterweise sind jedoch die Kandidaten der beiden großen Parteien PO und PiS so schwach wie nie. Beide kommen in Umfragen zusammen gerade mal auf etwas mehr als fünfzig Prozent der Stimmen. Das kann bedeuten, dass viele Polen genug von dieser Polarisierung der politischen Szene haben. Wir sehen ganz klar eine stärkere Fragmentierung. Das ist ein gesamteuropäischer Trend, der jetzt auch Polen erreicht. Dieser Umstand ist wichtig, da die beiden Kandidaten der großen Parteien im zweiten Wahlgang weit über ihre Kernwählerschaft hinaus Stimmen gewinnen und sich entsprechend inhaltlich ausrichten müssen.
WELT: Laut der polnischen Verfassung soll der Präsident parteipolitisch neutral sein. Dennoch scheint das Fortbestehen oder zumindest die Funktionsfähigkeit der Regierung von Tusk davon abzuhängen, wer das Rennen macht. Warum?
Buras: Die Rolle des Präsidenten im politischen System Polens ist deutlich stärker als die in Deutschland, aber klar schwächer als in Frankreich. Wir haben es mit einer parlamentarischen Demokratie zu tun. Aber der Präsident hat ein Mittel, das er nach Gutdünken einsetzen kann und das ihn ausgesprochen mächtig macht: sein Veto. Damit kann er praktisch jedes Gesetzesvorhaben blockieren. Auch kann er Gesetze zwecks Überprüfung an das Verfassungsgericht delegieren, das heute immer noch weitgehend mit PiS-Getreuen besetzt ist.
WELT: Mit diesen Mitteln verhindert Amtsinhaber Andrzej Duda, der nach zwei Amtszeiten nicht mehr antreten kann, seit Dezember 2023 nahezu alle Reformvorhaben der Tusk-Regierung.
Buras: Genau. Sollte Tzaskowski Präsident werden, wäre das anders. Er würde die Regierungsarbeit unterstützen oder zumindest nicht gezielt behindern.
WELT: Der Präsident teilt sich die Exekutive mit der Regierung. Was kann der Wahlausgang für Polens Nachbarn und Europa bedeuten?
Buras: Die Regierung ist für die Außenpolitik maßgebend. Aber ja, der Präsident spielt eine wichtige Rolle beim Thema Sicherheit und Verteidigung. Er ist der Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Dazu verantwortet er die Besetzung wichtiger Posten in der Armee und ist für die Politik zum Verbündeten USA zuständig. Das könnte sich mit Trzaskowski ändern, er würde vielleicht der Regierung mehr Spielraum hinsichtlich Washington geben. Es gibt einen Bereich, in dem Trzaskowski und Nawrocki sich wesentlich unterscheiden: die Einstellung zur EU. Trzaskowski setzt stärker auf Europa, er ist, wie auch Tusk, davon überzeugt, dass Europa stärker im Bereich Verteidigung sein muss. Sicher, beide schlagen auch europakritische Töne an, in Bezug auf die Migrations- und Klimapolitik. Aber sie gehen doch davon aus – aufgrund der Situation in den USA –, dass Europa mehr Verantwortung übernehmen muss und es dafür mehr Kompetenzen braucht, mehr Koordination in der Zusammenarbeit. Die PiS und Nawrocki sind grundsätzlich europaskeptisch, sie sind misstrauisch gegenüber Polens Partnerländern, vor allem Deutschland, auch Frankreich. Und sie instrumentalisieren das Misstrauen, das es in ihrer Wählerschaft gibt, für ihre innenpolitischen Zwecke. Ein Präsident Nawrocki würde sich davon leiten lassen.
WELT: Viel Aufmerksamkeit haben zuletzt russische Einflusskampagnen auf die Wahlen in Rumänien erregt. Welche Rolle spielen möglicherweise russische Einflusskampagnen auf den polnischen Wahlkampf?
Buras: Es gibt viele Versuche russischer Einflussnahme und Desinformation, jedoch nicht wie vielfach in anderen europäischen Ländern. Russische Positionen sind in Polen zu unpopulär, Russland ist durch fast alle Parteien hinweg unbeliebt. Es gibt einen eindeutig prorussischen Kandidaten, Maciej Maciak. Er ist der schwächste und liegt bei null Prozent. Ukraine-kritische Kampagnen hingegen verfangen teilweise. Diese zielen auf das historisch schwierige polnisch-ukrainische Verhältnis ab, darauf, dass Polen während des Zweiten Weltkriegs Opfer von ukrainischen Nationalisten waren. Ein Kandidat wie Slawomir Mentzen von der rechtsextremen Konfederacja – in Umfragen immerhin auf Platz drei – spielt mit so etwas, aber auch andere machen bei diesen Kampagnen mit, zu Teilen auch PiS-Kandidat Nawrocki. Der hat sogar mit Verweis auf ungelöste historische Fragen die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine infrage gestellt. In Polen ist das ein extremer Ausreißer, denn eigentlich stellen sich alle Parteien hinter dieses Ziel.
WELT: US-Präsident Donald Trump hat sich hinter PiS-Kandidat Nawrocki gestellt. Der hat ihn gerade erst in Washington besucht. Kann er so zulegen?
Buras: Nawrocki und die Partei, für die er antritt, sind Trump ideologisch nah. Nawrocki versucht, die Sonderbeziehung, die Duda zu Trump hatte, zu nutzen, allerdings mit mäßigem Erfolg. Nawrocki war im Weißen Haus, war in Chicago, hat sich mit Vertretern der einflussreichen Polish Americans gezeigt. Auf die Umfragen aber hatte das bislang keine positive Wirkung. Die polnischen Amerikaner stehen nicht überwiegend hinter Nawrocki. Das liegt daran, dass sich die Einstellungen der Polen zu den USA in den vergangenen zwei Monaten massiv geändert haben. Die USA galten stets als wichtigster Verbündeter, Polen hat ein besonderes Verhältnis zu den USA, das Land war sehr beliebt. Doch der Kurs Trumps, die Unsicherheit, die er in das Verhältnis gebracht hat, haben das Vertrauen der Menschen in die USA drastisch sinken lassen. Kürzlich war das noch undenkbar. Trump wurde als Vorteil von Nawrocki gesehen, aber es zeigt sich, dass er genauso eine Belastung sein kann.
Philipp Fritz ist seit 2018 freier Auslandskorrespondent für WELT und WELT AM SONNTAG. Er berichtet vor allem aus Polen, Ungarn, Tschechien, der Slowakei sowie aus den baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland. Schwerpunktmäßig beschäftigt er sich mit rechtsstaatlichen und sicherheitspolitischen Fragen, aber auch mit dem schwierigen deutsch-polnischen Verhältnis.
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