Als alles vorbei ist, sitzt Nils Gründer im Biergarten, vor sich ein alkoholfreies Weizen. Er wirkt lockerer als sonst, was auch daran liegen könnte, dass er an diesem Tag ein Trikot trägt: WM 1990, auf dem Rücken steht „Matthäus“. Später will er seinen Bruder und ein paar Cousins zum Bolzen treffen. Er hat jetzt wieder Zeit für solche Sachen.

Gründer, ein hochgewachsener Mann von 27 Jahren, war bis vor ein paar Wochen der jüngste Bundestagsabgeordnete der FDP. Dann stürzte seine Partei ab. Mit nur 4,3 Prozent flog sie aus dem Parlament, zum zweiten Mal in ihrer Geschichte. Seitdem versuchen die Liberalen, den endgültigen Untergang zu verhindern.

Auf einem Bundesparteitag will sich der bisherige Fraktionsvorsitzende Christian Dürr an diesem Wochenende zum Parteichef wählen lassen. Doch wenn die Liberalen eine Zukunft haben wollen, sind sie auch auf den Nachwuchs angewiesen, auf Menschen wie Nils Gründer. WELT hat den jungen Politiker in den vergangenen Wochen begleitet: bei seinem Auszug aus dem Bundestag, zu einem Landesparteitag und nach Neumarkt, seine Heimatstadt in der Oberpfalz.

An einem Montag im März, die Erinnerung an den Wahlabend ist noch frisch, eilt Gründer im zweiten Stock des Reichstagsgebäudes in einen Konferenzraum. Rund 35 Schüler sitzen dort auf schwarzen Stühlen. Sie sind aus Bayern nach Berlin gereist, eben haben sie den Plenarsaal gesehen, jetzt warten sie auf den nächsten Programmpunkt: einen Politiker in Jeans, Hemd und Pullover.

„Herzlich willkommen im Deutschen Bundestag“, ruft Gründer, „ihr kommt in aufgewühlten Zeiten.“ Gründer weiß, dass es zu Ende ist; in seinem Büro stehen schon die ersten Umzugskartons. Doch bis zur konstituierenden Sitzung des neuen Bundestages bleibt er Abgeordneter mit vollem Terminkalender. Also erklärt er im Plauderton, wie eine Sitzungswoche abläuft und dass eine Regierungsbefragung mal mehr und mal weniger ergiebig ist, aber immer eine Gelegenheit, sich zu profilieren.

Gründer kam direkt aus dem Studium in den Bundestag. Bei der Wahl 2021 hatte er den Einzug knapp verpasst, doch dann trat ein Abgeordneter überraschend zurück, und Gründer war der Nächste auf der bayerischen Landesliste. Der Nachrücker musste sich schnell einarbeiten. Heute fällt die Vorstellung schwer, dass er je etwas anderes gemacht hat.

Vor den Schülern spricht der Verteidigungspolitiker mit tiefer, fester Stimme. Bei unverfänglichen Themen macht er sich nahbar, etwa wenn er erzählt, wie „scheiße aufgeregt“ er vor seiner ersten Rede im Plenarsaal war. Als ein Jugendlicher wissen will, was er von Christian Lindner hält, betont Gründer dessen Verdienste, sagt aber auch, dass die Partei „personell breiter“ werden müsse. Ein bisschen wirkt es in diesem Moment, als hätte er einen Sprechzettel auswendig gelernt.

Nach einer Stunde greift Gründer zu seiner Aktentasche, er muss zur Fraktionssitzung. Die Union will nächste Woche gemeinsam mit SPD und Grünen ein milliardenschweres Finanzpaket beschließen, auf den letzten Metern ist unerwartet viel zu tun. „Wenn ihr Fragen habt“, sagt Gründer noch, „schreibt mir bei Insta.“

Ein paar Tage später trifft sich die bayerische FDP in Ingolstadt. Es ist der erste Landesparteitag nach der Wahl, ein Stimmungsmesser. Auf einer Bühne im Stadttheater seziert ein Redner nach dem anderen das Desaster. Als ein Parteikollege schimpft, die Wahlkampagne sei „scheiße“ gewesen, lacht Gründer und kommentiert: „Ich denke, es war nicht die schlechteste, aber auch nicht die beste Kampagne.“

Gründer trat mit 18 Jahren in die FDP ein. Zuvor hatte er sich umgeschaut: Die Grünen empfand er als Weltverbesserer, die SPD als altbacken. Die CSU kam nicht infrage, weil es sich angefühlt hätte, wie FC-Bayern-Fan zu werden. 2015 saßen die Liberalen nicht im Bundestag, aber Gründer mochte ihren „frischen Auftritt“. Außerdem seien sie die Einzigen gewesen, „die Digitalisierung überhaupt im Programm hatten“.

Heute findet er vor allem das Aufstiegsversprechen gut: Jeder definiert sein Glück selbst, jeder kann etwas erreichen im Leben. Zur jüngsten Bundestagswahl, sagt Gründer, habe die FDP es nicht geschafft, genau das in den Vordergrund zu stellen.

Im Stadttheater packt er ein Manuskript aus. Er hat eine Rede vorbereitet, will sie aber umschreiben. Mit konzentriertem Gesicht liest er den Text, dann dreht er eines der Blätter um und notiert auf der Rückseite ein Wort: „Glaubwürdigkeit“. In letzter Zeit verwendet er diesen Begriff immer wieder. Er findet, seine Partei trete falsch auf, sie kommuniziere schlecht. In der Nachwahlbefragung, sagt er, habe die Mehrheit der Wähler angegeben, die FDP nicht für einen verlässlichen Koalitionspartner zu halten. Und selbst mit ihrer Kernkompetenz, der Wirtschaftspolitik, sei die Partei in den vergangenen Jahren gescheitert.

Am Nachmittag tritt Gründer ans Pult. Er spricht über das Glaubwürdigkeitsproblem. Viele wüssten nicht, wofür die FDP steht. Es sei Zeit für ein neues Grundsatzprogramm. „Liebe Parteifreundinnen und Parteifreunde“, ruft er zum Schluss, „lasst uns auf das besinnen, was uns Liberale ausmacht. Wer illegale Migration begrenzen will, ist nicht rechts. Wer sich mehr für Bürgerrechte einsetzen will, ist nicht automatisch links. Dass wir unterschiedliche Schwerpunkte, unterschiedliche Biografien haben, das ist eine Stärke.“

Gründer will sich selbst keinem Parteiflügel zuordnen. In manchen Punkten sei er sozialliberal, in anderen sehr libertär. Er wünsche sich einen funktionierenden, schlanken Staat. Die Einführung des Mindestlohns sei gut gewesen, er findet es aber falsch, wenn sich Politiker vor Wahlen einen „Überbietungswettbewerb“ mit versprochenen Erhöhungen liefern. Das Nein zum Tempolimit ist aus seiner Sicher verhandelbar. Er hätte es, sagt er, für längere Laufzeiten von Atomkraftwerken und niedrigere Energiepreise geopfert.

Als Abgeordneter trägt Gründer an manchen Tagen einen Anzug, an anderen Jeans und Pullover. Am 18. März, dem Tag seiner letzten Sitzung im Plenarsaal, hat er sich für den Anzug entschieden, dazu eine dunkelrote Krawatte. Gründer sagt, er fühle sich eigenartig. Er sei kein Freund von Abschieden.

In den nächsten Stunden soll der abgewählte, aber noch handlungsfähige Bundestag über das Finanzpaket entscheiden. Doch zuerst versammelt sich die FDP zum Protest. Auf der Straße neben dem Reichstag hat sie einen Lastwagen mit der Aufschrift geparkt: „Schulden schaffen keine Zukunft. Reformen schon.“

Die Abgeordneten stellen sich für ein Foto davor auf, in der Mitte Christian Dürr, ein Stück daneben Nils Gründer. Als sich ein Auto nähert, ist die Menge so groß geworden, dass kein Durchkommen ist. Am Steuer sitzt Lisa Paus, die Familienministerin von den Grünen. Sie schaut zu und wartet. Es ist die vorerst letzte Blockade der FDP.

Denn mit dem Versuch, das Schuldenpaket zu verhindern, scheitern die Liberalen. Zuvor streiten die Abgeordneten stundenlang, Dürr warnt vor „hemmungsloser Schuldenmacherei“. Gründer notiert seine Gefühle, er will den Moment festhalten. In einer Pause geht er zu Bärbel Bas, der Bundestagspräsidentin, um sich zu verabschieden.

Nach der Sitzung verlässt er den Plenarsaal und schreitet den Flur entlang, das Gesicht ausdruckslos. Mit der Hand wischt er sich eine Träne von der Wange. Als er den WELT-Reporter sieht, fällt er sofort in seine Rolle zurück. „Hi!“, ruft er mit fester Stimme. Auf dem Weg nach draußen schaut er auf sein Handy. Seine Mutter hat ihn im Fernsehen erkannt, Gründer antwortet mit einer Sprachnachricht: „Hallo Mama, ich melde mich nachher noch mal. Ich muss ins Büro, aber ich bin jetzt das letzte Mal raus, und das ist schon irgendwie seltsam. Fühl dich gedrückt.“

Zwei Tage später steht ein Mann vor dem Bundestagsgebäude in der Dorotheenstraße 93, vor sich hat er einen hüfthohen Bilderrahmen abgestellt. Der Mann ist Gründers Büroleiter. Er hat Termine für ihn organisiert, bei wichtigen Entscheidungen geholfen, ein Team von fünf anderen Mitarbeitern geführt. Jetzt verkauft er per „Kleinanzeigen“-App die letzten Dinge aus dem Büro. Den Rahmen für 20 Euro.

Gründer, der kurz darauf selbst vor dem Gebäude auftaucht, hat heute seinen letzten Tag. In zwei Stunden wird er sein Büro abschließen und mit dem Zug nach Neumarkt fahren. Er wird einiges vermissen, das spürt er jetzt schon. Trotzdem versucht er, das Gute zu sehen. In den nächsten Wochen wird er wieder ein echtes Privatleben haben.

An diesem Nachmittag tritt er ein letztes Mal in den Fraktionssaal. Nichts erinnert mehr an die FDP, die Banner mit den Parteifarben sind abgebaut. „Ja, krass“, sagt Gründer. Die Debatten und Entscheidungen, die guten und schlechten Momente, all das ist Vergangenheit. Und jetzt? „Wir kommen wieder. Auf alle Fälle. Das hab‘ ich mir hier drin schon versprochen.“

Genau sechs Wochen später sitzt Gründer in Neumarkt im Biergarten. Es ist Mai geworden, die Sonne scheint. Seit er nicht mehr Abgeordneter ist, war er mit seiner Freundin in Finnland, hat seine Großeltern ein paarmal besucht und Tennis gespielt. Auf die Frage, wie es ihm geht, sagt er: „Total gut. Ich erhole mich gerade von der Zeit im Bundestag. Und ich merke, dass sich die Akkus wieder aufladen.“

Er kümmert sich um letzte Dinge. Eben hat er in seinem fast leeren Wahlkreisbüro vorbeigeschaut. Ein Stuhl und ein Tisch standen noch darin, an einer Wand lehnte das Schild mit seinem Namen, das draußen neben dem Eingang gehangen hatte. „Das Schild nehme ich als letztes mit“, sagte Gründer und lachte leise. Der Raum war so karg, dass seine Stimme von den Wänden hallte.

Als ehemaliger Abgeordneter bekommt er ein Übergangsgeld: 11.227,20 Euro, drei Monate lang, weil er drei Jahre im Bundestag saß. Er hat einen neuen Job in Aussicht, im September soll er anfangen. Als was, das will er erst sagen, wenn es offiziell ist. In der FDP will er sich weiter engagieren, an diesem Wochenende fährt er zum Parteitag.

Gründer trinkt sein alkoholfreies Weizen aus. „Ich glaube“, sagt er, „die FDP hat eine Chance zu überleben und wieder in den Bundestag zu kommen.“ Die Partei sei an einem „kritischen Punkt“, aber sie könne die Situation nutzen, um Klischees zu überwinden und sich neu aufzustellen. Er spricht von der Bedeutung der FDP für die Demokratie, von einer „Politik ohne Scheuklappen“ und einem Wählerpotenzial über zehn Prozent.

Und er erinnert sich an die Jahre, als die FDP schon einmal in der außerparlamentarischen Opposition war, „eigentlich eine coole Zeit“, sagt er: „Es waren nur Überzeugungstäter dabei. Niemand hatte eine Aussicht auf irgendeinen Posten.“ Gründer redet, als spiele sich gerade nicht das vorläufige Ende einer Geschichte ab, sondern der hoffnungsfrohe Anfang einer ganz anderen. Vielleicht hat er sogar recht.

Sebastian Gubernator ist Redakteur im Ressort Nachrichten & Gesellschaft. In den vergangenen Monaten war er immer wieder im Bundestag, um den Auszug der FDP zu begleiten.

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