Steinmeier im Kibbuz Be'eri: Wo das Leben nur langsam zurückkehrt
Sharon Cohen trägt ein schwarzes T-Shirt. Darauf steht in weißer Schrift: "I love Be’eri". Dazu das Bild eines verbundenen Herzens – es steht für eine Liebe voller Schmerzen. Sharon Cohen ist 45 Jahre alt, sie hat 24 Jahre lang in dem Kibbuz nahe der Grenze zum Gaza-Streifen gelebt. Bis zum 7. Oktober 2023, als die Hamas Be’eri überfiel.
Cohen, ihr Mann und die vier Kinder versteckten sich im Schutzraum ihres Hauses. Die Terroristen versuchten einzudringen, ihr Mann blockierte die Tür. 13 Stunden lang. "Ich habe gedacht, wir schaffen es nicht", erinnert sich Cohen. "Wir haben schon Abschiedsnachrichten an Familie und Freunde geschrieben."
Wahrscheinlich hat die Architektur ihres Hauses Sharon Cohen und die Familie gerettet. Weil der Korridor zum Schutzraum so schmal war, schossen die Angreifer nicht auf die Tür – die zurückprallenden Kugeln hätten sie sonst selbst treffen können. Als Cohen und ihre Familie den Raum verlassen konnten, suchten sie ihre Verwandten. So verheerend war die Verwüstung, so brutal hatten die Terroristen manche Opfer zugerichtet, dass Cohen erst nach 48 Stunden endgültige Klarheit hatte: Die Eltern, eine Tante und ein Cousin ihres Mannes waren tot.

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Gut eineinhalb Jahre nach dem Angriff besucht Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier das Kibbuz Be’eri. Er ist zum zweiten Mal hier. Beim ersten Besuch im November 2023 sah er noch die Blutspuren an den Wänden, die Asche der Feuer, die die Terroristen gelegt hatten, die zertrümmerten Möbel, verrußte Puppen, abgerissene Betten – Reste eines Lebens, das hier zerstört worden war. "Das Grauen zog uns durch Mark und Bein", erinnert sich der Bundespräsident, als er jetzt wieder in Begleitung des israelischen Präsidenten Jitzchak Herzog vor der ausgebrannten Galerie des Ortes steht.
In Be’eri starben am 6. Oktober 101 Bewohner und 31 Sicherheitsleute. 32 Menschen entführten die Terroristen in den Gaza-Streifen. Yuval Haran, ein junger Mann aus Be’eri, bangte um sieben Angehörige. Sie kamen alle lebend zurück. Andere nicht. Sechs Geiseln aus Be’eri wurden bis heute nicht freigelassen. Ihre Fotos hängen an vielen Orten im Kibbuz, die meisten sind junge Männer. Doch ihr Schicksal ist bekannt: Sie sind alle tot. Es geht jetzt darum, ihre Leichen heimzuführen.

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Wenn man heute durch Be’eri geht, sieht man, wie ein neuer Ort entsteht. 120 Häuser wurden komplett abgerissen, jetzt werden neue gebaut. Auch das Haus von Sharon Cohen, das die Terroristen verwüsteten, solange sie den Schutzraum belagerten. Wie viele andere Familien wurden auch die Cohens in Hotels untergebracht, unter anderem am Toten Meer. Mittlerweile leben rund 700 Menschen aus Be’eri in 290 eilends gebauten Notunterkünften in einer Siedlung nahe der Stadt Beer Sheva, südlich von Tel Aviv.
Cohens Haus ist noch nicht fertig, aber Cohen ist auch noch nicht bereit zur Rückkehr. Sie will wieder nach Be’eri, das ja, unbedingt, ihre Familie auch. Ihr Mann ist hier geboren. Eine Schwester in Kanada hat ihnen angeboten, sie aufzunehmen. Doch die beiden Töchter und die zwei Söhne, heute 18, 16, 11 und 7 Jahre alt, protestierten. Auch sie wollen zurück nach Be’eri. Aber solange nicht alle Geiseln frei sind, sagt Cohen, könne sie nicht zurück.
Auch Yuval Haran, ein junger Mann und früherer Bewohner Be’eris, sagt, man könne nicht an einem Ort ein normales Leben in dem Wissen führen, "dass nur wenige Kilometer entfernt, unsere Brüder und Schwestern in irgendwelchen Kellern sitzen". Haran hat seinen Vater und eine Tante am 7. Oktober verloren. Sieben weitere Verwandte, unter ihnen Kinder, wurden entführt. Sie sind wieder frei, "ein Wunder", sagt Haran. Insgesamt hat die Hamas noch immer 58 Geiseln in ihrer Gewalt. Von 20 weiß man, dass sie noch am Leben sind, bei wenigen anderen ist es unklar, mehr als die Hälfte ist tot.
Das Leben kehrt nur sehr allmählich zurück in den Kibbuz. Die Druckerei von Be‘eri, die vielen Menschen Arbeit bot, auch Palästinensern aus dem Gaza-Streifen, ist wieder in Betrieb. Viele Israelis, die hier arbeiten, pendeln jeden Tag. Palästinenser arbeiten dort nicht mehr. In den ersten Monaten erhielten die Cohens staatliche Unterstützung. Heute kaum noch. Beide arbeiten wieder, die Kinder gehen zur Schule. "Wir schlagen uns so durch", sagt die Mutter.
Sieben Millionen Euro gibt Deutschland für eine neue Galerie
Deutschland hilft beim Wiederaufbau der ausgebrannten Galerie als Kulturzentrum in neuer Architektur mit sieben Millionen Euro. Vor allem der Parlamentarische Staatssekretär im Bauministerium, Sören Bartol, hat das Kulturzentrum zu einem persönlichen Anliegen gemacht. Bei Steinmeiers Besuch wird der Siegerentwurf des Architektenwettbewerbs präsentiert.

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Cohen und Haran tragen Ketten mit einem Anhänger zur Erinnerung an die Geiseln. "Unser Herz ist in Gaza", steht darauf auf Hebräisch. Und auf Englisch wieder: "Bring them home now." Tut die Regierung genug, um die Geiseln zu befreien? Cohen und Haran weichen der Frage aus, ob der Krieg der israelischen Armee gegen die Hamas im Gaza-Streifen tatsächlich hilft, die Geiseln zu befreien, oder eher schadet. Sie verständigen sich auf die Formel: "Die Geiseln sind noch nicht alle befreit – also kann es nicht genug sein." Und auf Premierminister Benjamin Netanjahu ist man hier ohnehin nicht gut zu sprechen. Viele werfen ihm vor, für den mangelnden Schutz des Kibbuz verantwortlich gewesen zu sein, der den Terroristen den Überfall erleichtert hat. Und in mehr als 19 Monaten hat Netanjahu Be’eri noch nicht einmal besucht.
Wie das Leben in Nachbarschaft der Palästinenser in Zukunft aussehen könnte, wissen Cohen und Haran nicht. So weit planen sie noch nicht. Will Haran wissen, wer seinen Vater umgebracht hat? "Es hilft mir nicht, wenn ich die Mörder kenne", sagt Haran. "Mein Leben wird nicht besser, wenn ich ein Bild des Menschen vor Augen habe, den ich am meisten hasse."
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