Der Apparat ist riesig: Allein in Bayern sind mindestens 30 staatliche, staatsnahe oder öffentlich-rechtliche Institutionen mit der Bekämpfung dessen betraut, was summarisch „Hatespeech“ genannt wird. Sie umfassen Staatsministerien, Hatespeech-Beauftragte aller 22 Staatsanwaltschaften im Freistaat, öffentlich-rechtliche wie private Medien und Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Sie sind quer durch staatliche Gewalten und außerstaatliche Institutionen koordiniert.

Das Resultat ist eine seit Jahren wachsende Zunahme an Strafverfahren gegen Bürger, deren Meinungsäußerungen im Auge der Ermittler zu scharf ausfallen oder zu nah an rechtsextremistischen oder antisemitischen Positionen schrammen. WELT liegen Zahlen zu den Verfahren vor, die Meldestellen, Medienbehörde, Medienunternehmen oder reguläre Polizeidienststellen in Bayern an die Justiz meldeten.

Von Januar bis März dieses Jahres zählte die Münchner Generalstaatsanwaltschaft, bei der der zentrale Hatespeech-Beauftragte der bayerischen Staatsregierung angesiedelt ist, demnach 921 neu eingeleitete Ermittlungsverfahren. Im gesamten Jahr 2024 waren es den Angaben zufolge 3462 Verfahren. Das bedeutet eine Steigerung um elf Prozent gegenüber 2023.

Einige Fälle haben es mittlerweile international in die Schlagzeilen geschafft, darunter der des fränkischen Rentners Stefan Niehoff, der ein „Schwachkopf“-Meme über Grünen-Politiker Robert Habeck geteilt hatte; in der Folge wurde bei ihm eine Hausdurchsuchung durchgeführt.

Der AfD-nahe Journalist David Bendels wurde kürzlich wegen eines Memes verurteilt, das die damalige Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) mit einem Schild zeigt, auf dem zu lesen ist: „Ich hasse die Meinungsfreiheit.“ Bendels bekam sieben Monate Haft auf Bewährung.

Darüber berichteten internationale Medien. Der weltweit gelesene „Economist“ schrieb, die Meinungsfreiheit in Deutschland sei in Gefahr. Und die „Times“ fragte: „Gehen Deutschlands Beleidigungs-Gesetze zu weit?“ Kritik am deutschen Umgang mit Meinungsäußerungen äußerten wiederholt auch US-Politiker, darunter Vizepräsident J.D. Vance.

„Brücke zwischen Justiz und Medien“

Nachvollziehbar wird das koordinierte bayerische Vorgehen auf der gemeinsamen Website „Justiz und Medien – konsequent gegen Hass“ des Justizministeriums und der öffentlich-rechtlichen Medienanstalt BLM, auf der sich ein Bündnis aus staatlichen Strafverfolgern und Medien präsentiert.

Bayerns Justizminister Georg Eisenreich (CSU) lässt sich auf der Seite so zitieren: „Personen, die strafbare Hasskommentare verfassen“, könnten dank der Initiative „noch wirksamer“ verfolgt werden. „Zudem wird mit jedem Ermittlungserfolg auch eine abschreckende Wirkung auf Täter erzielt und das Signal gesendet: Das Internet ist kein rechtsfreier Raum.“

BLM-Präsident Thorsten Schmiege präsentiert sich auf derselben Seite mit der Aussage: „Unsere Initiative schlägt die Brücke zwischen Justiz und Medien.“ Darunter findet sich eine Sammlung der Logos von Medienunternehmen, die „bereits dabei“ sind. Darunter sind private Radio- und Fernsehsender, auch die landesweite Antenne Bayern. Diese Sender produzieren ihre Programme unter dem BLM-Dach. Privatfunk in Trägerschaft privater Unternehmen ist laut Artikel 111a der bayerischen Landesverfassung verboten.

Als Konsequenz besitzt Bayerns Medienbehörde mehr Einfluss auf die Sender und ihre Programme als Medienbehörden anderer Bundesländer: Sie erteilt nicht nur die Sendeerlaubnisse, sondern ist juristisch auch Veranstalter. Die privat produzierten Programme gelten damit formal als öffentlich-rechtlich, müssen sich aber gleichwohl aus Werbeeinnahmen selbst finanzieren. Die BLM regelt teils bis ins Detail, woher etwa Lokalradios ihre Nachrichten beziehen dürfen.

Ebenso dabei sind mehrere Zeitungsverlage, die ihrerseits an den Radio- und TV-Unternehmen beteiligt sind. Auch der öffentlich-rechtliche Bayerische Rundfunk und das erste ARD-Fernsehprogramm gehören dazu.

„Meinungsfreiheit bedeutet nicht Beleidigungsfreiheit“

Die Medienanstalt beschreibt das Bündnis mit der Justiz auf WELT-Anfrage als „wichtigen Schwerpunkt des gesetzlichen Auftrags der BLM, aber auch der Strafverfolgungsbehörden“. Die BLM ist eine Anstalt des öffentlichen Rechts und wird wie ARD und ZDF aus der Rundfunkbeitrag bezahlt. Die Kooperation mit dem Staat sei „eine klare Positionierung gegen strafrechtlich relevanten Hass und Hetze und für den Schutz der Medienschaffenden“, teilt eine BLM-Sprecherin mit. „Studien belegen: Medienschaffende berichten aus Sorge vor Hassrede immer weniger über ambivalente Themen.“

Als Beleg nennt sie zwei Untersuchungen, eine davon erstellt vom Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung in Bielefeld. Sie beruht auf einer Umfrage unter Medienschaffenden, die nach ihrer Wahrnehmung befragt wurden. Rekrutiert wurden die Teilnehmer über Aufrufe des Deutschen Journalisten-Verbandes (DJV) und weitere „mehr als 50 Verbände und Organisationen“, von denen die Studienautoren keine nennen. Insgesamt 2172 Personen hätten sich für die Teilnahme gemeldet. Ausgewertet wurden am Ende die komplett ausgefüllten Online-Fragebögen von 322 Teilnehmern.

Die zweite Studie, auf die sich die BLM beruft, befasst sich allgemein mit der Wahrnehmung von Hatespeech. Befragt wurden online 1013 Personen zwischen 16 und 70 Jahren. Unter den jüngeren Befragten bis 22 Jahre habe die Hälfte angegeben, Ziel von Hasskommentaren geworden zu sein, heißt es darin. Studienleiterin Elisa Hoven wird auf der Website der Universität Leipzig unter Berufung auf eine weitere Untersuchung mit der Aussage zitiert, der Anteil von Hasskommentaren bei Facebook oder der „Tagesschau“ sei zurückgegangen, vermutlich deshalb, weil die Betreiber konsequenter löschen.

Die BLM überprüfe zudem selbst „Inhalte aus dem Bereich ‚Hatespeech‘“, sagt die Sprecherin. Im vergangenen Jahr habe sie das in mehr als 2200 Fällen getan. Im Jahr davor seien es 1500 Fälle gewesen. Was die Überprüfungen ergaben, teilt die BLM nicht mit. Bußgelder habe sie nicht verhängt.

Die Sprecherin stellt klar: „Meinungsfreiheit bedeutet nicht Beleidigungsfreiheit.“ Diese Bemerkung begründet sie auf Nachfrage mit Urteilen des Verfassungsgerichts. Sie gesteht aber auch ein, dass Gerichte bei einer beleidigend formulierten Meinungsäußerung zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht abwägen und im Zweifel die Beleidigung zugunsten der Meinungsäußerung nicht verfolgen dürften.

Dass die privaten Radio- und TV-Programme in Bayern von der BLM abhängig seien, bestreitet die Sprecherin. Es habe auch keinen Druck auf sie gegeben. „Die Beteiligung ist freiwillig.“ Mehr noch: „Die Initiative kam nicht zuletzt auf Wunsch der Medienunternehmen und Medienschaffenden zustande.“ Wie viele Anzeigen wegen „Hatespeech“ von Medienunternehmen gemeldet werden, könne die BLM nicht mitteilen. „Die Medienschaffenden melden ihre Fälle direkt an die Generalstaatsanwaltschaft.“ Dort wird allerdings nicht erfasst, wo Meldungen herkommen.

Ein Problem sehen die Verantwortlichen in der Einbindung journalistischer Medien, zu deren Grundsätzen Distanz zu staatlichen und politischen Akteuren gehört, offenbar nicht. BLM-Präsident Schmiege schreibt über die Initiative: „Sie setzt ein Signal für Pressefreiheit.“

Neben der BLM kooperiert Bayerns Justiz noch mit weiteren Institutionen, die sie auf einer eigenen Website nennt. Dazu gehört eine von der Stadt München und dem Landesfamilienministerium finanzierte NGO namens „Strong!“, die sich um „Betroffene von queerfeindlicher Hate Speech“ kümmert. Die Justiz nennt auch die von der Bundesnetzagentur als „Trusted Flagger“ qualifizierte NGO „REspect“ als Partner, die von mehreren bayerischen Ministerien und der Staatskanzlei von Ministerpräsident Markus Söder (CSU) unterstützt wird. Für Online-Fälle von Antisemitismus und Judenhass gibt es ein Meldeverfahren über die bayerische Niederlassung der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus.

Christoph Lemmer berichtet für WELT als freier Mitarbeiter vor allem über die Politik in Bayern.

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