In den Vereinigten Staaten werden Botschafter vom Präsidenten nominiert und müssen durch den Senat bestätigt werden – so wie zahllose andere Beamte einer neuen Administration. Darum kann es noch einige Zeit dauern, bis die Regierung von Donald Trump einen neuen Botschafter nach Berlin entsendet. Bis dahin vertritt der US-Diplomat Alan Meltzer die Regierung von Donald Trump als Geschäftsträger in Berlin. Er kam schon vor fast einem Jahr in die Bundeshauptstadt, also noch vor der US-Wahl und unter Präsident Joe Biden. Für ihn ist Deutschland eine besondere Station, die mit der Geschichte seiner Familie in besonderer Weise verknüpft ist.

WELT: Herr Meltzer, wie würden Sie einem Kind erklären, warum der Zweite Weltkrieg, der vor 80 Jahren endete, für die Zukunft noch bedeutsam ist?

Alan Meltzer: Der Zweite Weltkrieg war wirklich ein Wendepunkt für die menschliche Zivilisation. Am Sonntag war ich bei der Gedenkfeier in Dachau, und dort sprach der hundertjährige amerikanischer Veteran Bud Gahs. Seine Worte waren sehr kraftvoll. Er sagte: „Wir haben in ganz Europa gekämpft, aber erst als wir die Tore von Dachau durchschritten, haben wir wirklich verstanden, wofür wir gekämpft haben.“ Durch die Auseinandersetzung mit den Verbrechen, die in Dachau und andernorts begangen wurden, hat Deutschland eine Gesellschaft aufgebaut, die sich der Menschlichkeit verpflichtet fühlt. Die Überwindung des Grauens ist vielleicht die wichtigste Botschaft, die ich meiner Stieftochter oder jedem jungen Erwachsenen weitergeben würde, warum die Auseinandersetzung mit dem Krieg so wichtig ist. Aber wenn ich an den 80. Jahrestag zurückdenke, denke ich als Amerikaner auch mit gewissem Stolz daran, welche Rolle wir dabei gespielt haben, Deutschland nach dem Krieg wieder aufzubauen. Durch den Marshallplan, später durch die Berliner Luftbrücke und die Solidarität während des Kalten Krieges haben wir unsere Solidarität und unsere Vorstellung von Freiheit bewiesen. Auch das ist, denke ich, eine sehr kraftvolle Lehre aus dem Krieg.

WELT: Sie sind selbst Jude und ein Teil Ihrer Familie stammt aus Deutschland. Was bedeutet dieser Jahrestag für Sie persönlich?

Meltzer: Meine Familie stammt aus Deutschland, Polen, der Slowakei und Belarus. Ich bin also zu einem Achtel deutscher Herkunft. Meine deutschen Vorfahren kamen 1866 in die USA, und wir wissen nichts über die Verwandten, die sie in Hamburg zurückgelassen haben. Aber die Familie meines Vaters und Familienangehörige meiner Mutter in Wien und in Belarus sind im Holocaust umgekommen. Darum nehme ich das Bekenntnis „Nie wieder“ und das Erinnern sehr ernst. Meine Frau und ich spazieren gerne durch Berlin. Dabei achten wir immer auf Stolpersteine. Wenn wir einen sehen, schauen wir ihn in der App nach und versuchen mehr über die Menschen zu erfahren, an die da erinnert wird. Vielleicht ist das auch ein Versuch, einigen der Menschen hinter der unvorstellbaren Zahl von sechs Millionen Ermordeten ihre individuelle Identität zurückzugeben. Es ist wirklich bemerkenswert, wie sich Deutschland seiner Vergangenheit stellt.

WELT: Am Mittwoch haben Sie gemeinsam mit der Organisation "Marsch der Lebenden" eine Zeremonie zum Jahrestag ausgerichtet, bei der Überlebende der Shoah im Mittelpunkt standen. Das Motto lautete „80 Jahre und kein Schlussstrich“. Viele Deutsche haben aber derzeit den Eindruck, dass sich Ihre Regierung in Washington immer wieder auf Seiten der AfD stellt, deren einflussreicher Politiker Björn Höcke eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ fordert.

Meltzer: Präsident Trump hat in seinen ersten 100 Tagen mehr für den Kampf gegen Antisemitismus getan als jeder Präsident zuvor. Wie in seiner ersten Amtszeit ist die Erinnerung an den Holocaust ein wichtiges Anliegen für ihn. Die Vereinigten Staaten unterstützen keine politischen Parteien im Ausland. Was wir aber unterstützen, ist das Prinzip der Meinungsfreiheit. Dieses Bekenntnis ist in der Gründungsgeschichte der USA verankert. Thomas Jefferson war ein starker Verfechter eines freien Marktes der Ideen. Dieser Wettbewerb der Ideen gehört zum Kern der Demokratie. Darin werden sich die besten Ideen durchsetzen und schlechte Ideen – auch jene, auf die Sie hinweisen – werden marginalisiert. Aber Demokratie muss freie Meinungsäußerung im gesamten Spektrum schützen, im Sinne einer lebendigen Auseinandersetzung und der politischen Vielfalt.

WELT: Das heißt, wenn ein Politiker sagt, die Erinnerungskultur sollte abgeschafft werden, dann ist das eine Meinung, die in der deutschen Öffentlichkeit diskutierbar sein sollte?

Meltzer: Unser Verständnis von Meinungsfreiheit unterscheidet sich von jenem in Deutschland. Wir glauben, dass der freie Austausch von Ideen, selbst der Austausch schlechter Ideen, ein wesentlicher Bestandteil der Demokratie ist. Ich widerspreche natürlich entschieden der Auffassung, die Sie zitiert haben. Bei der Erinnerungskultur darf es keinen Schlussstrich geben. An die Vergangenheit zu erinnern, ist unsere gemeinsame Verpflichtung. Gleichzeitig unterstützen wir entschieden und mit Nachdruck das Prinzip der freien Meinungsäußerung.

WELT: Auch Friedrich Merz hat sich zu diesem Thema geäußert. Er ermahnt Ihre Regierung, sich nicht in deutsche Innenpolitik einzumischen.

Meltzer: Ich denke, das sind Diskussionen, die auf Ebene der politischen Führungen beider Länder geführt werden müssen. Es steht mir nicht zu, mich da einzumischen.

WELT: Der Sieg vor 80 Jahren, der auch eine Befreiung für Deutschland war, wurde gemeinsam von amerikanischen und russischen Streitkräften errungen. Heute sind die Beziehungen so angespannt, dass der russische Botschafter zu vielen der morgigen Gedenkveranstaltungen gar nicht eingeladen ist. Sie selbst haben in Russland gedient und sprechen Russisch. Wie erklären Sie, dass sich die Interpretation des Krieges im Laufe der Zeit so stark auseinanderentwickelt hat? Putins Russland instrumentalisiert das Gedenken an den Zweiten Weltkrieg ja vor allem gegen den Westen.

Meltzer: Unglücklicherweise hat Russland im Lauf seiner Geschichte historische Ereignisse immer wieder politisch instrumentalisiert. Das ist bedauerlich, denn es gibt sehr ernste Lehren aus dem Krieg, die niemals vergessen werden sollten. Ich habe zwei Jahre in Russland gelebt, von 2003 bis 2005. Das war eine ganz andere Zeit. Es ist sehr bedauerlich zu sehen, wo Russland heute steht.

WELT: Gibt es eine Chance, dass Russland zu seinem alten Kurs zurückkehrt – also sich öffnet und auf den Westen zugeht?

Meltzer: Das ist sehr schwer vorherzusagen. Irgendwann werden die Menschen in Russland, so glaube ich, Ihre Freiheiten einfordern – jene Freiheiten, die auch Amerikaner und Deutsche genießen. Und sie werden wieder Teil der internationalen Gemeinschaft sein wollen. Aber wann das passieren wird, ist unmöglich vorherzusagen.

WELT: Im Wahlkampf schien Donald Trump anzudeuten, dass er Nato-Verbündete im Fall eines russischen Angriffs nur dann verteidigen würde, wenn sie die gemeinsamen Ziele für Verteidigungsausgaben erfüllt haben. Hat das westliche Bündnis für die Amerikaner seinen absoluten Wert verloren?

Meltzer: Nein, keineswegs. Außenminister Rubio war im April beim Nato-Außenministertreffen in Brüssel und hat unmissverständlich klargemacht, dass die USA sich weiterhin zur Nato bekennen – dass auch Präsident Trump sich zur Nato bekennt. Tatsächlich war der erste Botschafter, den Präsident Trump in dieser Amtszeit benannt hat, unser Vertreter bei der Nato. Wir stehen also sehr klar zur Allianz. Der Außenminister hat aber auch gesagt, dass dieses Bündnis kein Abhängigkeitsverhältnis sein sollte, sondern eine Allianz unter Gleichen. Das bedeutet auch, dass alle Mitglieder ihren Teil beitragen müssen. Seit dem Ende des Kalten Krieges haben viele europäische Länder das Risiko als geringer eingeschätzt und ihre Streitkräfte drastisch verkleinert. Aber die jüngsten Ereignisse zeigen klar: Es gibt nach wie vor sehr ernsthafte Bedrohungen in Europa. Gerade einmal 800 Kilometer von Berlin entfernt herrscht Krieg. Um dieser Bedrohung zu begegnen, so glauben wir, müssen alle Verbündeten deutlich mehr tun. Aus Sicht von Präsident Trump sollten die Verbündeten fünf Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Verteidigung ausgeben. Eine Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg lautet: Hoffnung allein ist keine Strategie. Wir alle hoffen auf Frieden, aber wir können ihn nur sichern, wenn unsere Verteidigung stark genug ist, um Aggressionen abzuschrecken.

WELT: Wie bewerten Sie dann die Aussetzung der Schuldenbremse für das Verteidigungsbudget, die Friedrich Merz durchgesetzt hat?

Meltzer: Dass Deutschland schon heute 2,1 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes für Verteidigung ausgibt, verdient Anerkennung. Damit wurde das Zwei-Prozent-Ziel, das die Nato 2014 beschlossen hat, schon überschritten. Und wir halten die erfolgreiche Initiative der deutschen Regierung, das Grundgesetz – konkret die Schuldenbremse – zu ändern, um deutlich höhere Verteidigungsausgaben zu ermöglichen, für einen sehr wichtigen und vielversprechenden Schritt.

Senior Editor Daniel-Dylan Böhmer berichtet für WELT über deutsche Außenpolitik, den Nahen Osten und Afghanistan.

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke