Vielfalt, Nachhaltigkeit und „Empowerment für BIPoC/PoC-Kinder“ auf dem Kirchentag
Die Sonne brennt auf Tausende Besucher am Platz der Menschenrechte zur Kirchentagseröffnung in Hannover herunter. Thomas de Maizière (CDU), ehemaliger Bundesinnen- und Verteidigungsminister sowie Kirchentagspräsident, hat sich eine Kappe mit der Aufschrift „Hoffnungsträgerin“ aufgesetzt.
Und dann kommt Nancy Faeser, die Noch-Innenministerin von der SPD. An ihrem rechten Handgelenk trägt sie eine Rolex Datejust. Aber die Uhr geht falsch, statt 16.48 Uhr zeigt sie 15.47 Uhr, statt 30. April den 21. an. Auf den Dächern der umliegenden Häuser stehen und knien vermummte Scharfschützen neben ihren Gewehren mit Schalldämpfern.
Ein aufgekratztes Moderatorenteam dankt den Sponsoren Deutsche Bahn und Volkswagen. Eine Moderatorin lobt das „prämierte Nachhaltigkeitskonzept“ des Deutschen Evangelischen Kirchentages. Ihr Kollege sucht den Weg ins Publikum. Dort befragt er eine junge Frau. „Warum ist es super gut, mit dem Fahrrad zu kommen?“, will er wissen. „Weil’s einfach schneller geht“, sagt sie. Der Moderator fragt nach: „Vielleicht auch, weil’s Spaß macht?“ – „Ja.“ – „Auch richtig gut für die Umwelt?“ –„Ja.“ – „Megagut, Du bist eine tolle Gesprächspartnerin.“
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zitiert wie schon bei der Eröffnungsrede des deutschen Katholikentages 2022 und Dutzenden Anlässen vorher Dietrich Bonhoeffers „Von guten Mächten wunderbar geborgen“. Alle klatschen.
Danach wird er, eingerahmt von größtenteils weiblichen Pfadfindern, geschützt über innerstädtische Stationen des Protestanten-Treffens geführt. Er kommt zu „Uno“ spielenden Johannitern. „Wer hat gewonnen?“, fragt das Staatsoberhaupt. Danach geht es zur Diakonie und einigen Menschen mit Behinderung. Den Weg durch die Menschenmassen (65.000 Tickets wurden verkauft) auf den Straßen bahnen die Pfadfinder dem Bundespräsidenten und rufen „Aus dem Weg!“, unterstützt werden sie von Personenschützern.
Ein Familienvater mit Metal-Kutte steht mit seiner Frau, die einen Kirchentagsschal trägt, und Kindern mit dem Rücken zu dem sich bewegenden Pulk. Ein Polizist schubst ihn von hinten. Der Mann stolpert. Er wähnt einen Angriff und ruft: „Hey, du Vogel, was soll das?“ Und dreht sich um. Zwei Polizisten halten ihn fest.
Um Volksnähe zu zeigen, muss das Volk aus dem Weg geräumt werden. Die bleibende Erinnerung des Mannes an den Präsidenten auf dem Kirchentag dürfte nicht Nächstenliebe, sondern das Gewaltmonopol des Staates sein.
Wer ist schon „schwarz und indigen“?
Überall auf dem Kirchentag wird das „bunte“ und „vielfältige“ Publikum begrüßt und gelobt. Die Varianz der Menschen ist aber nur ein „50 Shades of Grey“ auf dem Haupthaar von Menschen im besten Alter, die mit bunten Halstüchern zu den Bibelstunden von Eckart von Hirschhausen oder Angela Merkel eilen. Echte Vielfalt findet man auf dem Kirchentag in Hannover in den Abendstunden um die Bahnhofsgegend: Da liegen Menschen mit heruntergelassenen Hosen in Ecken, und es riecht nach Urin. Die Kirchentagsbesucher fremdeln damit.
Obwohl es Kirchentag heißt, dauert die Veranstaltung fünf Tage und dreht sich oft um weltliche und zeitgeistig-politische Themen. Die neue Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) behauptete neulich, die Kirchen seien inzwischen aktivistisch „wie eine NGO“. Aber war es nicht Jesus Christus, der sich für seine Überzeugungen ans Kreuz schlagen ließ und die Politiker seiner Zeit mit der Peitsche aus dem Tempel jagte? Dagegen sind die heutigen NGOs gleichsam fromme Betschwestern.
Für Aufregung hat im Vorfeld auch die Ankündigung des Workshops „Werde mutig und stark – Empowerment für BIPoC/PoC-Kinder“ gesorgt. Im Begleittext des Workshops heißt es: „Dieses Angebot richtet sich ausschließlich an Black, Indigenous und Kinder of Color.“ Ein Gespräch lehnen die Organisatorinnen ab. Auch der Kirchentag antwortet nicht, welche Personengruppe eigentlich gemeint sei.
„Schwarz und indigen“ könnte irgendwie auch den bayerischen Metzgermeister Alois Rainer von der CSU meinen, der in der künftigen Regierung von Friedrich Merz Landwirtschaftsminister werden soll. Fraglich ist darüber hinaus, ob auf einer der weißesten Veranstaltungen in Deutschland überhaupt genügend „Kinder of Color“ zu finden sind, die das Angebot wahrnehmen wollen.
Tatsächlich finden die Besucher die Positionierung ihrer Kirche zu solchen Themen ziemlich super. Das Tochter-Tante-Mutter-Gespann, das erzählt, schon vor 20 Jahren gemeinsam auf dem Kirchentag gewesen zu sein, kommt vor allem wegen der „Friedensgespräche“. Chris, ein junger barfüßiger Student aus Osnabrück, sagt: „Das Tempolimit ist christlich geboten. Das heißt für mich Bewahrung der Schöpfung.“
Im Dunkeln treffen sich die Menschen mit Kerzen und Lichtern in der Hand zur Andacht auf den großen Plätzen der Stadt. Am Opernplatz singen sie „Der Mond ist aufgegangen“, während indigene Hannoveraner in Ferraris und Lamborghinis durch die Luisenstraße defilieren.
Oft wird auf den Veranstaltungen von multiplen Krisen gesprochen. Die Menschen, die hier sprechen und zuhören, wirken trotz ihres teils fortgeschrittenen Alters von jugendlicher Egozentrik getrieben. Sie halten das Erleben der „Krisen“ für historisch einzigartig. Menschen des Dreißigjährigen Krieges, der Kreuzzüge oder der Kleinen Eiszeit, die im ausgehenden 19. Jahrhundert in Frankreich zu Hungerwintern führte, würden wohl widersprechen.
Diese menschlich-westliche Egozentrik und Überhöhung der eigenen Bedeutung wird auch bei der Bibelarbeit der ehemaligen Kanzlerin Angela Merkel deutlich. In ausgetretenen Sneakern sitzt sie am Donnerstag in Halle 4 auf dem Messe-Gelände und erklärt, warum Klimaneutralität und Nachhaltigkeit wichtig seien. Merkel findet, dass die Menschheit „auf die Ewigkeit angelegt“ sei. Aber es sind doch 99,9 Prozent aller jemals existierenden Arten ausgestorben – warum sollte ausgerechnet der Mensch für die Ewigkeit gemacht sein? Merkel wirkt den Aussterbensverweigerern von Extinction Rebellion näher als der christlichen Botschaft vom Leben nach dem Tod.
Oft ist der Kirchentag wie eine Regierungserklärung vergangener Zeit. Nach Merkels Bibelstunde wird in einer anderen Halle ihr früherer Regierungssprecher Steffen Seibert, inzwischen gut gelaunter wie sonnengebräunter Botschafter in Israel, zugeschaltet. Am Tag darauf lädt Merkels einstiger Minister de Maizière zur Bibelstunde.
Aber man muss das gar nicht alles sehen. Dann geht man zum Beispiel abends in die Dreifaltigkeitskirche. Da tritt Komponist und Musiker „Traugott Fünfgeld mit badischen Bläser:innen“ auf. Vor dem Altar ist ein goldenes Kreuz, dahinter eine riesige Malerei zu sehen, auf der sich ein Mann dem Sohn Gottes vor die Füße wirft. Um die Menschen herum ragen jahrhundertealte Wände aus Backstein in die Höhe. Oben an der Orgel sitzt Traugott Fünfgeld. Unten vor dem Alter stehen die Bläser und Bläserinnen.
Und sie spielen so schön, dass man weinen muss. Dann vergisst man, wie Olaf Scholz am Freitagvormittag seinen Ehering knetete.
Frédéric Schwilden ist Autor im Politik-Ressort. Er interviewt und besucht Dorf-Bürgermeister, Gewerkschafter, Transfrauen, Techno-DJs, Erotik-Models und Ministerpräsidenten. Er geht auf Parteitage, Start-up-Konferenzen und Oldtimer-Treffen. Sein Roman „Toxic Man“ ist im Piper-Verlag erschienen.
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