Mitten in Putins jährlicher Bürgersprechstunde wird einer Journalistin ein Heiratsantrag gemacht
Der russische Präsident Wladimir Putin könnte vom Volk, das er seit fünfundzwanzig Jahren regiert, kaum weiter entfernt sein. Er lässt sich in zweifelhaften Wahlen legitimieren, hält Reden in prunkvollen Kremlstuben und hat sich über die Jahre einen kompromisslosen Umgang mit jeglichen Widersachern angewöhnt. Wenn er sich durch die russische Hauptstadt bewegt, dann geschieht das im Hubschrauber oder in beeindruckenden Fahrzeugkolonnen, bestehend aus gepanzerten Limousinen und zwei Dutzend Polizeiautos. Doch es gibt eine jährliche Ausnahme von jener Unnahbarkeit: Putins sogenannter „Heißer Draht“, ein Mix aus Pressekonferenz und Bürgersprechstunde, der heute zum 22. Mal stattfand.
Der „Heiße Draht“ wird unter dem Namen „Jahresbilanz mit Wladimir Putin“ im Staatsfernsehen übertragen. Unter Putin ist die Veranstaltung zu einer Tradition avanciert, bisher wurde die Veranstaltung nur dreimal abgesagt, etwa 2022, im Jahr des Überfalls auf die Ukraine. Jedes Jahr aufs Neue im Dezember stellt sich der russische Präsident den Fragen seiner Bürger. Der einfache Russe kann per SMS, Anruf, in den sozialen Netzwerken oder über die Webseite eine Frage an Putin richten, als Text oder als Videobotschaft.
Über drei Millionen Fragen kamen in diesem Jahr zusammen. In einem nicht näher bekannten Verfahren werden dann einige Dutzend Fragen ausgewählt, die im Laufe der mehrstündigen Sendung an Wladimir Putin gerichtet werden. Entweder verliest ein Moderator die Frage, oder eine Videobotschaft wird eingeblendet. Zwischendurch dürfen auch Journalisten eine Frage stellen.
Kreml-Sprecher Peskow begrüßt zum „weltweit einzigartigen Format“
Das Studio ist in der diesjährigen Ausgabe gut besucht. Journalisten aus ganz Russland sind angereist. Putin ist etwas zu spät, die zwei Moderatoren überbrücken die Zeit, indem sie ein Potpourri einiger Bürgerfragen verlesen. Wann wird es Rubelscheine mit der Oreschnik-Rakete als Motiv geben? Wer ist besser, Messi oder Ronaldo? Dann greift Putins Pressesprecher Dmtirij Peskow zum Mikrofon, begrüßt zu einem „weltweit einzigartigen Format“. Er bittet die Zuschauer, sich kurzzuhalten und die Handys stumm zustellen. Dann ist es so weit – die Moderation kündigt Wladimir Putin an, heroische Musik spielt. Das Studio blendet eine Bildergalerie ein, die Highlights des Jahres 2025: Putin umarmt Kollege Lukaschenko. Putin auf einer Baustelle. Putin legt Blumen an Denkmälern nieder.
In gelöster Stimmung beginnt die Fragerunde. Die Moderatoren nehmen den Präsidenten in ihre Mitte, im Hintergrund eine Russlandkarte, die um die neu eroberten Regionen erweitert wurde. In den nächsten viereinhalb Stunden werden 106 Fragen an Putin gerichtet. Kritik wurde durchaus geäußert, allerdings meistens verpackt und umschmeichelnd. Putin reagierte mit schnellen Lösungen. Nach hohen Strompreisen in der Region Jakutien gefragt, antwortete Putin: „Wir werden uns das ansehen.“ Ein anderer Teilnehmer beschwerte sich, seine Heimatstadt Uljanowsk würde noch so leben „wie im 19. Jahrhundert“. Putin wandte sich direkt an seinen Pressesprecher: „Schreiben Sie das auf, klären Sie, worum es hier geht.“ Einer beklagte, ihn störe die Dauerpräsenz der Ukraine im Fernsehen. „Es stimmt, es ist Zeit, das zu beenden.“
Kritik an propagandistischer und inhaltsleerer Veranstaltung
Die Veranstaltung wird von Kritikern oft als propagandistisch und inhaltsarm beschrieben, die die suggerierte Volksnähe lediglich inszeniert. Das Format diene dazu, Putin als fürsorglichen Landesvater zu inszenieren, der den „kleinen Mann“ anhört und sofort Abhilfe schafft. Fragen, die reale Probleme thematisieren – etwa die enormen Kriegsverluste oder die politische Unterdrückung – werden konsequent gefiltert. Stattdessen kommt es zu scheinbar direkten, aber inszenierten Problemlösungen. 2023 etwa hatte sich eine Rentnerin beschwert, dass Lebensmittel und im besonderen Eier so teuer geworden seien.
Putin zeigte sich betroffen, entschuldigte sich und gab unumwunden zu, dass an dieser Stelle die Regierung versagt habe. Tatsächlich hob er im Anschluss die Zölle für importierte Eier auf. Als sich dann Schulkinder von der Krim über ihre marode Sporthalle beschwerten, vermeldete der Moderator binnen Minuten, dass sich freiwillige Helfer gemeldet hätten, um die Halle auf Vordermann zu bringen. Derlei Bühnenstücke täuschen Handlungsstärke vor: Sie lenken von wirklich wichtigen Fragen ab und drücken sich gleichzeitig vor der Systemfrage, die lauten würde, warum die Turnhalle überhaupt kaputt und warum die Inflation so hoch ist.
Journalistin wird während der Sendung ein Heiratsantrag gemacht
Stattdessen lockerten in der diesjährigen Ausgabe schmeichlerische, leere Fragen die Veranstaltung auf. „Sind Sie verliebt?“, fragte jemand. „Ja“, antwortete er kurz. Jemand fragte, welches Kennzeichen Putins Dienstwagen hat. Woran er glaube – worauf Putin antwortete: „An Gott, der mit uns ist und Russland niemals verlassen wird.“ Zwischendurch wurde einer Journalistin im Publikum ein Heiratsantrag gemacht. Sie nahm ihn an, wie die Moderation rasch mitteilte.
Etwa ein Viertel der Fragen drehte sich um Außenpolitik und die Ukraine. Wie Putin im Fall einer Kaliningrad-Blockade reagieren würde. Ob 2026 die Ziele der Spezialoperation erreicht werden würden. Und warum der Krieg weitergeht, trotz vorliegender Friedensangebote. Daraufhin antwortete Putin: „Wir fühlen uns nicht für den Tod von Menschen verantwortlich, weil wir diesen Krieg nicht begonnen haben.“ Und der Ukraine wirft er vor, keine Wahlen durchzuführen – Russland habe das trotz Kriegszeit getan. Putin wirkt souverän und in Richtung Europa kaum entgegenkommend. Dem Westen wirft er vor, dass seine Regierungen versuchen würden, die Unzufriedenheit ihrer Bevölkerung über wirtschaftliche Probleme auf eine vermeintlich „bedrohliche“ russische Politik umzumünzen.
Und wenn es zu ernst wurde, wechselte man wieder zu bekömmlicheren Fragen. Putin scherzte darüber, dass seine Arbeitszeiten wohl gegen geltendes Recht verstoßen würden. Wie karg seine Kreml-Wohnung eingerichtet sei, mit dem Kühlschrank, in dem lediglich ein Päckchen fermentierter Milch stehe.
Julius Fitzke ist seit Juli 2025 Volontär bei WELT im Ressort Außenpolitik.
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