Die EU-Kommission macht es für Bürger Russlands schwerer, nach Europa zu reisen. Das kümmert Putin nicht, schreibt unsere Autorin, aber jene Russen, die nach Freiheit lechzen.

Mit Verwunderung lese ich die Nachrichten der letzten Tage: Fast zeitgleich stoppt die EU-Kommission die Erteilung von Mehrfach-Schengen-Visa an russische Staatsbürger – während Viktor Orbán erklärt, dass der Besuch Wladimir Putins in Ungarn, also einem EU-Land, weiterhin auf der Tagesordnung steht. 

Natürlich hat jedes Land das Recht, seine Visavergabe einzuschränken. Hier aber wird der Schritt mit dem Kampf gegen das Putin-Regime begründet. Das ist absurd. Niemand in der russischen Führung wird darunter leiden, und russische Spione und Verbrecher werden dem Westen weiterhin Kopfzerbrechen bereiten. Ganz normale Russen aber werden noch seltener die freie Welt besuchen können. 

Zur Person

Ekaterina Kotrikadze, 41, gehört zu den bekanntesten Gesichtern des russischen Exil-Journalismus. Sie leitet seit 2020 das Nachrichtenressort des unabhängigen Kanals TV Rain, der inzwischen aus dem Ausland sendet. 2022 floh sie aus Russland und lebt heute in Amsterdam. In Russland gilt sie als "ausländischer Agent", seit September läuft gegen sie ein Ermittlungsverfahren wegen Verunglimpfung der russischen Armee

Die Verschärfung der Visabestimmungen für Russen begann bereits 2022, und schon jetzt ist die Bewegungsfreiheit von Inhabern eines russischen Passes stark eingeschränkt. 2019, also im letzten Jahr vor Corona und Krieg, lag die Zahl der an Russen vergebenen Schengen-Visa bei vier Millionen, 2024 waren es 500.000, also achtmal weniger. Viele europäische Konsulate in russischen Städten außerhalb Moskaus wurden geschlossen, das Prüfungsverfahren wurde komplizierter, und eine Reihe von EU-Ländern, die baltischen Staaten, Polen, Tschechien, haben die Erteilung von Touristenvisa komplett eingestellt. Es gibt keine Direktflüge mehr zwischen der EU und Russland. Das ist alles verständlich, denn der Hintergrund ist ja, dass Putin die Ukraine überfallen hat. Aber reicht das nicht? 

Russlands Bürger werden bestraft, weil sie Putin nicht gestürzt haben

Zur gleichen Zeit, als die EU-Kommission die Visavergabe weiter erschwerte, begann die britische Online-Bank Revolut, Konten von Personen ohne Aufenthaltsgenehmigung in der EU zu schließen, begründet wurde das mit dem Inkrafttreten des 19. Sanktionspakets der EU. Das trifft vor allem jene Menschen, die Russland verlassen haben, weil sie Putins Politik ablehnen. 

Das alles heißt: Russische Bürger werden dafür bestraft, dass sie das autokratische Regime nicht gestürzt haben, während gleichzeitig in verschiedenen Städten Russlands Straßenmusiker – manche  gerade erst volljährig geworden – verhaftet werden, nur weil sie "verbotene" Lieder gespielt haben, während Hunderte von Passanten mitsangen. Die 18-jährige Naoko (Diana Loginowa) sang in St. Petersburg Lieder von Musikern, die als "ausländische Agenten" gelten und Russland verlassen haben. Unter anderem sang sie folgende Worte: 

"Ich bitte euch,
beendet das Böse und diesen Krieg,
und lasst alle Soldaten bis zum Morgen zurückkehren."

Diana wurde in eine Sonderhaftanstalt gebracht und mit Arrest bestraft, und jedem, der Russland kennt, ist klar, dass derzeit gegen das Mädchen ein Strafverfahren in der Mache ist. Vor Gericht gaben sie und ihr Gitarrist, der ebenfalls verhaftet wurde, ihre Verlobung bekannt. Hat man in Brüssel von dieser Geschichte gehört? 

In Russland selbst weiß jeder, was selbst ein kleinster Protest nach sich ziehen kann. Man weiß von Strafverfahren wegen eines Facebook-Posts gegen den Krieg (Facebook selbst wurde übrigens ebenfalls als extremistisch verboten). Man weiß von dem in einer Strafkolonie ermordeten Oppositionsführer Alexej Nawalny. Ich habe große Zweifel, dass die EU-Beamten, die für diese neuen Sanktionen verantwortlich sind, selbst protestierend vor den Kreml ziehen würden, wenn sie russische Staatsbürger unter diesen Umständen wären. Nein, sie würden schweigen, wie die meisten Bürger Russlands, die unter den Bedingungen schrecklicher Repressionen leben. 

Die gegen Russen verhängten Beschränkungen sind eine Kollektivstrafe. Visa für Europa werden nun für Menschenrechtsaktivisten, die weiterhin heldenhaft in Russland arbeiten, für Professoren, die sich abmühen, ihren Studenten heimlich die Wahrheit zu erzählen, und für die wenigen Journalisten, die wie durch ein Wunder noch nicht hinter Gittern sitzen und weiterhin über Ungerechtigkeiten berichten, schwer zu bekommen sein. Ja, auch Kriegsbefürworter sind davon betroffen, das stimmt, aber jetzt werden alle Menschen in Russland gleichgestellt. Diese Entscheidung ist kontraproduktiv. 

Mit dem Staat verbundene Kriminelle werden immer einen Weg finden, dorthin zu gelangen, wohin sie wollen

Ich kenne die Argumente für Sanktionen gegen Russen. Das erste und häufigste: Eine Nation, eine "Sklavennation", wie es häufig heißt, die einen solchen Krieg begonnen hat, sollte Europa nicht besuchen. Eine andere Begründung: So wird sich Europa vor russischen Agenten, Saboteuren, Mördern und anderen gefährlichen Elementen schützen. Nein, das wird es nicht. Mit dem Staat verbundene Kriminelle werden immer einen Weg finden, dorthin zu gelangen, wohin sie wollen. Im Gegensatz zu den meisten Russen verfügen sie über genügend Geld und Beziehungen. 

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Ein weiteres Argument: Die Bürger Russlands müssen die Folgen ihrer Wahl spüren. Sie haben ja für Putin gestimmt. Allerdings wird so unterschlagen, dass die letzten "Präsidentschaftswahlen" ein absurdes Theater waren: Putins "Konkurrenten" wurden vom Kreml ernannt und versuchten nicht einmal, so zu tun, als würden sie um das Amt kämpfen. Einer dieser "Kandidaten", Leonid Slutsky, erklärte sogar öffentlich, dass er nicht die geringste Absicht habe, Putin zu besiegen. Kurzum: In der Visa-Politik der EU gegenüber Russen sind weder Sanktionslogik noch gerechte Vergeltung zu erkennen.

Vielmehr scheint es, als sei diese Maßnahme aus Ohnmacht getroffen worden. Der schreckliche Krieg in der Ukraine dauert nun schon fast vier Jahre, und in dieser Zeit ist es der EU nicht einmal gelungen, sich endgültig vom russischen Öl und Gas zu lösen. Die EU-Kommission ist zum Beispiel nicht in der Lage, Einfluss auf Ungarn zu nehmen. Dessen Regierungschef Viktor Orbán weigert sich nicht nur, auf russische Energieressourcen zu verzichten, sondern vereinbart mit US-Präsident Trump auch eine Aussetzung der Sanktionen gegen Budapest, die das normalerweise nach sich ziehen würde.

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Bezeichnenderweise fürchtet Orbán eher Washington als Brüssel. Dort kommt man noch nicht einmal bei der Frage weiter, wie die eingefrorenen Gelder der russischen Zentralbank verwendet werden sollen. Belgien fürchtet spätere Klagen seitens Moskaus und erhebliche Verluste. Sanktionen gegen einfache Russen zu verhängen, ist hingegen kein Problem, da hier so etwas natürlich nicht droht.

Natürlich darf man fragen: Sind denn die Visaverschärfungen gegenüber russischen Bürgern angesichts des größten Krieges in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg nicht eine Lappalie? Und es stimmt – die jüngsten Maßnahmen bringen niemanden um. 

Sie zeigen allerdings die Ohnmacht der europäischen Bürokratie gegenüber dem zynischen und extrem brutalen Regime in Russland. Putin interessiert sich nicht für die russischen Bürger und hat sich nie dafür interessiert. Solche Beschränkungen kommen ihm nur zugute. Jedenfalls hindern sie ihn nicht daran, Krieg zu führen. Und auch der Ukraine helfen sie nicht.

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