Der Auto Club Europa (ACE) hat in seinem Schulweg-Index bundesweit 167 Grundschulen mit rund 49.000 Kindern unter die Lupe genommen. Das Ergebnis: 59 Prozent der getesteten Schulwege wurden als „in Ordnung“ eingestuft, fünf Prozent als „sicher“. 30 Prozent seien dagegen „mangelhaft“, sechs Prozent sogar „gefährlich“. Falk Hoffmann, 37, Projektkoordinator vom ACE, ordnet die Ergebnisse ein.

WELT: Herr Hoffmann, Ihrem Schulweg-Index zufolge gilt mehr als ein Drittel der überprüften Schulwege als „mangelhaft“ oder sogar „gefährlich“. Hat Sie dieses Ergebnis überrascht?

Falk Hoffmann: Wirklich überrascht hat es mich nicht. Ich bin mit unseren Ehrenamtlichen vor Ort eng verdrahtet und konnte sehen, dass sich das Ergebnis abzeichnet. Wir führen Aktionen zur Schulwegsicherheit seit Jahren bundesweit durch und stellen dabei immer wieder fest, dass es dauerhafte, eklatante Probleme gibt. Es tut sich einfach zu wenig. Die Zahlen zeigen eindeutig auf, wie prekär die Situation ist und machen klar, dass es keine Ausreden mehr geben darf.

WELT: Sie klingen wütend.

Hoffmann: Zahlen des Statistischen Bundesamtes zufolge wurden im vergangenen Jahr 27.260 Kinder im Straßenverkehr verletzt, 53 Kinder sind gar nicht mehr nach Hause zurückgekehrt. Natürlich macht das wütend und betroffen. Vor allem deshalb, weil eigentlich alles auf dem Tisch liegt. Wir alle wüssten, wie wir die Situation verbessern könnten – es fehlt allein am Willen und einem abgestimmten Prozess, damit sich etwas ändert.

WELT: Welche Kriterien wurden bei der Bewertung der Schulweg-Sicherheit berücksichtigt?

Hoffmann: Wir haben bundesweit mit einem einheitlichen Erhebungsbogen gearbeitet und uns jeweils 30 Minuten vor Schulbeginn die Elterntaxi-Situation angesehen. Dabei ging es um Fragen wie: Wo halten die Eltern – im Halteverbot, auf dem Gehweg oder korrekt? Steigen die Kinder auf der sicheren Seite aus? Gibt es riskante Wendemanöver oder Rückwärtsfahrten?

Anschließend haben wir die Infrastruktur im Umkreis von etwa 200 Metern um die Schule bewertet: Gibt es Tempo-30-Zonen, Elternhaltestellen, sichere Querungen, gute Beleuchtung und ausreichend breite Gehwege? Auch Faktoren wie Schulwegpläne, Elternarbeit oder Aktionen mit Warnwesten spielten eine Rolle.

Am Ende haben wir das schlechtere Ergebnis aus beiden Bereichen – Elterntaxi und Infrastruktur – als Gesamtnote gewertet. Denn bei der Sicherheit von Kindern gilt für uns ein besonders strenger Maßstab.

WELT: Beim Bringverkehr wurden in Ihrem Index bei 41 Prozent aller Fälle Verstöße gegen Verkehrsregeln festgestellt. Zudem ließen in 17 Prozent aller Fälle Eltern ihre Kinder auf der Fahrbahnseite aussteigen. Dadurch steige das Risiko für Unfälle, sagen Sie. Viele Eltern fahren ihre Kinder aus Sicherheitsgründen allerdings lieber selbst zur Schule. Was würden Sie ihnen gern mitgeben?

Hoffmann: Für Eltern sind ihre Kinder logischerweise das Wichtigste, was sie haben. Sie wollen, dass ihre Kinder einfach und sicher zur Schule kommen, da ist das Auto naheliegend. Aber damit handeln sie leider kontraintuitiv. Die Statistik zeigt ganz klar, dass das Elterntaxi das gefährlichste Verkehrsmedium ist, um ein Kind zur Schule zu bringen.

Eine gute Alternative ist zum Beispiel der sogenannte Laufbus. Eltern begleiten dabei eine Gruppe von Kindern auf festen Routen mit festgelegten „Haltestellen“ zu Fuß zur Schule. Das ist eine einfache Maßnahme, bei der die Kinder lernen, sich souverän im Straßenverkehr zurechtzufinden. Und zudem bekommen sie noch eine Portion Frischluft.

WELT: Rheinland-Pfalz und das Saarland schneiden sowohl beim Bringverkehr als auch bei der Infrastruktur besonders schlecht ab. Woran liegt das?

Hoffmann: Man muss das ein bisschen relativieren. Der Index wurde nach objektiven Maßstäben erstellt. Allerdings hatten wir in Rheinland-Pfalz und im Saarland mehrere Beispiele, bei denen Eltern aktiv auf unsere Kreisclubs zugekommen sind und uns auf Schulen mit prekären Situationen hingewiesen haben. Dem sind wir dann nachgegangen, hatten dort dann aber eben auch schlechtere Ergebnisse.

WELT: In welchen Ländern waren die Ergebnisse besonders positiv?

Hoffmann: Positiv war vor allem der Bringverkehr in Sachsen oder Brandenburg. Die Eltern haben dort im Schnitt ihre Kinder sicherer aus dem Auto aussteigen lassen. In Sachsen sind beispielsweise nur acht Prozent aller Kinder auf der Fahrbahnseite ausgestiegen. Dort war häufig auch die Infrastruktur besser, beispielsweise waren Hinweisschilder für Elternhaltestellen aufgestellt. Die Infrastruktur kann das Verhalten der Eltern im Bringverkehr positiv beeinflussen. Daran sollten sich auch andere Länder orientieren.

WELT: Was fordern Sie konkret?

Hoffmann: Den größten Effekt hätten Kontrolle und Sanktionen. Die Datenlage zeigt klar, dass sich Menschen dadurch sicherer verhalten. Auf Dauer ist das aber sehr personalintensiv. Deswegen braucht es als zweiten Faktor Aufklärung und Prävention, damit sich langfristig etwas am Verhalten ändert. Aufklären müssen Kommunen, Schulen und Verbände. Als dritte Maßnahme braucht es entsprechende bauliche Maßnahmen. Kommunen müssen das angehen, wenn die Infrastruktur zu unsicher ist und es immer wieder zu brenzligen Situationen kommt. Alle drei Komponenten – Kontrollen, Aufklärung und bauliche Maßnahmen – müssen zusammen gedacht werden.

Unser Problem in Deutschland ist, dass die linke Hand häufig nicht weiß, was die rechte Hand macht. Wir müssen ins Handeln kommen. Der Schulweg muss der sicherste Weg von allen sein. Außerdem wäre es entscheidend, dass ein jährliches Monitoring stattfindet: Praxistests vor Schulen und Schulwegpläne an wirklich allen Schulen: Der kürzeste Schulweg ist nicht immer der sicherste. Wenn das flächendeckend umgesetzt wäre, hätten wir schon viel erreicht.

WELT: Wenn wir in fünf Jahren wieder sprechen – glauben Sie, die Lage wird sich bis dahin verbessert haben?

Hoffmann: Uns treibt der Optimismus an. Wir machen Aktionen wie den Schulweg-Index mit rund 700 Ehrenamtlichen. Alle wollen ihren Beitrag dazu leisten, damit sich die Situation verbessert. Wir zeigen nicht nur den Status quo auf, sondern gehen auch aktiv auf Schulen und Behörden zu und machen Druck.

In Meißen hat das zum Beispiel dazu geführt, dass unsere Ergebnisse im Stadtrat diskutiert wurden. Es wurden Halteverbots-Zonen installiert, der Bordsteinbelag wurde ausgetauscht und regelmäßige Kontrollen eingeführt. Solche Beispiele zeigen, dass wir optimistisch sein können, etwas zu bewirken.

Aber natürlich muss ein politischer Wille dahinterstehen. Dazu sind insbesondere auch die Länder gefragt, damit die Lehrpläne ein einheitliches Niveau haben. Warum sollte denn beispielsweise Verkehrssicherheit in Kiel anders gestaltet sein als in Kempten, Aachen oder Görlitz? Verkehrssicherheit darf keine Frage der Postleitzahl sein.

WELT: Wie genau sehen die Unterschiede in den Lehrplänen aus?

Hoffmann: Ich möchte keinem Bundesland eine böse Absicht unterstellen, aber wir sehen, dass es ein Flickenteppich ist. Manche Länder nehmen das Thema ernster, andere weniger. Bildung ist zwar Ländersache, aber wir fordern, dass die Verkehrssicherheit einheitlich in die Lehrpläne integriert wird. Es muss dieselben Standards bundesweit geben.

Dazu bräuchte es die Koordination über die Kultusministerkonferenz, die die Lehrpläne angleicht. Beispielsweise muss das Zu-Fuß-Gehen einen höheren Stellenwert bekommen. Auch das Fahren mit Bus und Bahn muss stärker eingeübt werden. Die Theorie ist wichtig, aber die Kinder müssen das dann zusätzlich auch in der Praxis, im echten Leben lernen.

Politikredakteur Nicolas Walter berichtet für WELT über gesellschaftspolitische Entwicklungen im In- und Ausland.

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