Die Grüne Anne Spiegel war 124 Tage Bundesfamilienministerin. Ihr emotionaler Rücktritt sorgte 2022 für Aufsehen, danach tauchte sie ab. Jetzt kehrt sie in die Politik zurück.

Sie galt als das überraschendste Gesicht in der Ampel-Regierung von Olaf Scholz. Doch kaum war Anne Spiegel 2021 Bundesfamilienministerin geworden, holte sie ihre landespolitische Vergangenheit ein. Die grüne Hoffnungsträgerin verließ die Politik unter verstörenden Umständen und verschwand aus der Öffentlichkeit. Jetzt plant Spiegel ein dezentes, bislang fast unbemerktes Comeback: Die 44-Jährige soll Dezernentin für Soziales, Familie und Jugend in der Region Hannover werden. Einmal mehr sorgt sie damit für eine Überraschung.

Die Mehrheit für Anne Spiegels neues Amt scheint sicher

Ausgewählt haben Anne Spiegel die lokalen Grünen nach einer bundesweit angelegten Suche. Der noch amtierende Regionspräsident Steffen Krach (SPD), der im nächsten Jahr Regierender Bürgermeister von Berlin werden will, hat den Vorschlag übernommen. Wenn das Regionalparlament zustimmt, wovon auszugehen ist, tritt Spiegel im Mai 2026 ihr neues Amt an, wie lokale Medien in Hannover und ihrer bisherigen Heimat Rheinland-Pfalz berichten. Das wäre dann rund vier Jahre nach ihrem Abgang aus der Berliner Politik, der in seiner Art ziemlich einzigartig war.

Nur 124 Tage war Spiegel am 11. April 2022 Bundesfamilienministerin, als sie ihren Rücktritt einreichte. Zuvor war sie wegen ihrer Rolle als rheinland-pfälzische Umweltministerin während der Ahrtal-Flut immer stärker unter Druck geraten. Spiegel hatte kurz nach der Naturkatastrophe einen vierwöchigen Urlaub mit ihrer Familie angetreten und die Bewältigung des Unglücks weitgehend ihrem Staatssekretär überlassen. Nach ihrem Wechsel in die Ampel-Regierung von Olaf Scholz verstrickte sie sich in den Aussagen zu ihrem Verhalten immer mehr in Widersprüche.

Erschütternder Auftritt "Es war zu viel" oder: Das Ende der Vereinbarkeit

Am 10. April 2022 lud Spiegel überraschend die Presse in ihr Ministerium ein – es war ein Sonntagabend. In einem Statement bat sie – sichtlich mitgenommen, mit stockender Stimme und unsicherem Blick – um Entschuldigung für den langen Urlaub. Dabei gewährte sie einen ungewöhnlich tiefen Einblick in die Privatsphäre ihrer Familie: Ihr Mann habe sich von einem Schlaganfall erholen müssen, ihre vier Kinder seien nicht gut durch die Corona-Pandemie gekommen.

Am Ende ihres Statements wandte sich Spiegel zur Seite, offenkundig zu einem Mitarbeiter, und sagte leise: "Jetzt überlege ich gerade, ob ich irgendwas … jetzt muss ich das noch irgendwie abbinden." Die Ministerin war sich offenbar nicht bewusst gewesen, dass ihr Auftritt in einigen Sendern live übertragen wurde. Noch am selben Abend soll die Grünen-Spitze ihr nahegelegt haben, zurückzutreten, was sie einen Tag später auch tat. Ihre Nachfolgerin wurde Lisa Paus, die ebenfalls glücklos agierte, sich aber bis zum Ende der Ampel im Amt hielt.

Familienministerin Lisa Paus scheitert an der Kindergrundsicherung – und manchmal an sich selbst

Spiegels Abgang war Anlass für zahlreiche Debatten. So gerieten die Grünen in die Kritik, weil sie aus Proporzdenken eine überforderte Politikerin für das Ministeramt nominiert hatten. Auch wurde an Spiegels Beispiel über die noch immer schwierige Vereinbarkeit von Familie und Beruf gerade für Frauen räsoniert. Und die Härte des Berliner Betriebes stand ebenfalls einmal mehr zur Diskussion.

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Spiegel selbst tauchte nach ihrem Rücktritt völlig ab. Sie gab auch mit größerem zeitlichem Abstand kein Interview. Im Frühjahr 2024 nahm sie erstmals wieder an einem Landesparteitag der rheinland-pfälzischen Grünen teil – zum Missfallen einiger Anwesender, wie die "Rhein-Zeitung" berichtete. Vor knapp einem Jahr wurde Spiegel in das Leitungsteam der gemeinnützigen Organisation "Krisenchat" aufgenommen. Seither arbeitet sie dort als sogenannte Chief Operating Officer. "Krisenchat" bietet jungen Menschen in Not Hilfe an. Unter dem Slogan: "Wenn Reden schwer fällt: schreib einfach" können sie sich direkt über die Internetseite an die Organisation wenden.

Die Dezernentin verfügt über einen Zwei-Milliarden-Etat

Spiegels neuer Job in Hannover ist für das Leben der Menschen in der niedersächsischen Landeshauptstadt und ihrer Umgebung nicht unbedeutend. Die Region ist ein Kommunalverband aus Hannover und umliegenden Gemeinden und damit der größte Landkreis in Deutschland. Die Region Hannover hat mit fast 1,2 Millionen Menschen mehr Einwohner als das Saarland. Spiegels Ressort verfügt nach Angaben der "Hannoverschen Allgemeinen Zeitung" (HAZ) mit mehr als zwei Milliarden Euro über das größte Budget aller Dezernate.

Der stern versuchte, Spiegel über die Presseabteilung ihres Arbeitgebers zu erreichen, die Anfrage blieb jedoch unbeantwortet. Von ihrer Vorstellung am vergangenen Mittwoch ist nur ein Satz Spiegels überliefert: "Das Dezernat in Hannover verantwortet genau die Themen, für die ich viele Jahre politische Verantwortung hatte und die mir am Herzen liegen." Eine persönliche Beziehung zu ihrem neuen Wohn- und Arbeitsort ist nicht bekannt. Spiegel habe Hannover nur einmal aus Anlass einer Visite auf der Weltausstellung Expo im Jahr 2000 besucht, notierte die Lokalpresse.

Die Rückkehr nach einem Karriereknick ist in der deutschen Politik nicht ungewöhnlich – oft lief es im zweiten Anlauf sogar besser als beim ersten Mal. Franz Josef Strauß musste 1962 wegen der "Spiegel"-Affäre zurücktreten, kehrte aber in der Großen Koalition 1966 als Finanzminister zurück und wurde später einflussreicher bayerischer Ministerpräsident. Wolfgang Schäuble verlor in der CDU-Spendenaffäre Partei- und Fraktionsvorsitz, fünf Jahre später berief ihn Angela Merkel als Innenminister in ihr erstes Kabinett. Auch Anne Spiegels Partei hat ein prominentes Stehaufmännchen vorzuweisen: Cem Özdemir stolperte 2002 unter anderem über eine Bonusmeilen-Affäre, wurde später dennoch Parteichef und Bundesminister.

Die Rückkehr – Teil 1 von 3 Karl-Theodor zu Guttenberg: "Ich wurde gnadenlos überschätzt"

Aktuell ranken sich Spekulationen um eine etwaige Rückkehr des früheren Wirtschafts- und Verteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg, der inzwischen im Besitz eines korrekt erworbenen Doktortitels ist – wobei das Interesse an ihm auch der Berufung seiner Lebensgefährtin Katherina Reiche zur Wirtschaftsministerin im Kabinett von Kanzler Friedrich Merz geschuldet ist. Etwas verheißungsvoller könnte die Zukunft Annegret Kramp-Karrenbauers sein, die als CDU-Vorsitzende an mangelnder Durchsetzungsfähigkeit scheiterte, nun aber als mögliche Bundespräsidentin gehandelt wird.

Möglicherweise liegen überraschende Comebacks sogar im Trend. Fast zeitgleich mit Anne Spiegels Nominierung wurde bekannt, dass die frühere Hamburger SPD-Chefin Traute Müller wieder für den Landesvorstand kandidieren will. Nachdem bekannt geworden war, dass ihr Mann zu DDR-Zeiten für die Stasi gearbeitet hatte, hatte Müller ihr Amt als Senatorin aufgegeben – vor 32 Jahren.

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