Hausarztmangel verschärft sich – „Der Westen wird sich dem Niveau des Ostens angleichen“
Es ist ein ehrgeiziges Vorhaben der schwarz-roten Koalition: Besuche beim Facharzt sollen künftig nur noch mit einer Überweisung vom Hausarzt möglich sein – dafür aber mit Termingarantie. Das erklärte Ziel von Gesundheitsministerin Nina Warken (CDU): Medizinisch nicht notwendige Facharztbesuche sollen reduziert und so die Wartezeiten für alle Patienten verkürzt werden. So weit die Theorie des im Koalitionsvertrag vorgesehenen „Primärarztsystems“.
In der Praxis aber dürfte sich der Plan kaum umsetzen lassen, wie aus neuen Berechnungen des Barmer Instituts für Gesundheitssystemforschung und der Bertelsmann Stiftung hervorgeht. Denn bis zum Jahr 2040 wird sich die in einigen Regionen jetzt schon prekäre Versorgungssituation weiter zuspitzen, wie die Erhebung „Zukunftsperspektiven für die hausärztliche Versorgung“ zeigt.
Laut Kassenärztlicher Bundesvereinigung gab es Ende 2024 noch 55.000 Hausärztinnen und Hausärzte – wobei jedes Jahr zwischen 1700 und 1900 von ihnen aus Altergründen ausscheiden, Tendenz deutlich steigend. Bisher hätten die zwischen 1800 und 2000 Neuzulassungen diese Lücke gerade so schließen können, so die Studie. „Es ist jedoch absehbar, dass die demografische Entwicklung nicht nur zu einer Alterung der Patientinnen und Patienten und somit zu einer höheren Nachfrage nach hausärztlicher Versorgung führt.
Gleichzeitig erreichen immer mehr Ärztinnen und Ärzte ein Alter, in dem sie ihre Versorgungsleistung nicht mehr im gleichen Maße erbringen können oder wollen.“ Zudem sei ungewiss, ob der hausärztliche Nachwuchs bereit sein werde „die aktuell üblichen und oft sehr langen Arbeitszeiten beizubehalten“.
Für ihre Prognose befragten das Barmer Institut und die Bertelsmann Stiftung daher zunächst 3700 Hausärztinnen und Hausärzte nach ihrem aktuellen und gewünschten Arbeitsleben und rechneten die Personalentwicklung und die Bedarfe der alternden Bevölkerung hoch. Da einige Ärzte Teilzeit arbeiten, wurden Angebot und Bedarf zur besseren Vergleichbarkeit in sogenannte „Vollzeitäquivalente“ umgerechnet.
Nach dieser Berechnungsmethode ist derzeit von einer Hausärzteversorgung in Höhe von 51.407 „Vollzeitäquivalenten“ auszugehen. Bis 2040 wird sich diese Zahl auf 45.492 reduzieren – einerseits durch eine Verringerung der Hausärzteschaft um 1278 Personen, andererseits durch eine geringere wöchentliche Arbeitszeit: Im Schnitt wollen die befragten Ärzte 3,3 Stunden pro Woche weniger arbeiten. Gleichzeitig aber steigt der Bedarf an hausärztlichen Leistungen von derzeit 50.750 auf 52.466 Vollzeitäquivalente. Die Versorgungsrelation aus Angebot und Bedarf verschlechtert sich den Berechnungen zufolge also von derzeit 101 Prozent auf 87 Prozent.
Doch das ist nur die deutschlandweite Durchschnittsbetrachtung. Blickt man in einzelne Regionen, dürfte die Versorgungslage teilweise noch deutlich schlechter ausfallen. Im Osten des Landes, wo die Versorgungslage schon heute angespannt ist, wird sie sich bis 2040 weiter verschlechtern. „Der Westen Deutschlands hingegen, der heute noch eine überwiegend gute Versorgungslage aufweist, wird sich dem Niveau des Ostens angleichen“, heißt es in der Studie. Ursächlich hierfür sei die demografische Entwicklung, die sich in West- und Ostdeutschland in unterschiedlichen Phasen befindet. „Während in Ostdeutschland ein hoher Versorgungsbedarf durch eine alternde Bevölkerung bereits heute erreicht ist und gleichzeitig viele Ärztinnen und Ärzte in den Ruhestand gegangen sind, folgt der Westen dieser Entwicklung bis zum Jahr 2040.“
Die Situation wird demnach im Jahr 2040 nicht mehr so stark von Unterschieden zwischen West- und Ostdeutschland, sondern vor allem von einem Stadt-Land-Gefälle geprägt sein. Gerade im ländlichen Raum, wo die Bevölkerung besonders stark altert, sei der medizinische Nachwuchs rar. „Entsprechend dieser Vorhersage weisen gerade die ländlichen Räume und kleine bis mittlere Gemeinden ein hohes Unterversorgungsrisiko auf“, heißt es in der Analyse.
Als Unterversorgung gilt demnach eine Versorgungsrelation von unter 75 Prozent. Im Jahr 2040 werden den Berechnungen zufolge etwa 2,1 Millionen Menschen in Deutschland ein hohes Unterversorgungsrisiko von über 90 Prozent haben und weitere 6,2 Millionen ein Unterversorgungsrisiko von über 50 Prozent, wenn keine geeigneten Gegenmaßnahmen ergriffen werden.
Um die schlimmsten Verwerfungen zu beheben, wäre der Analyse zufolge eine geringfügige gezielte Steuerung des hausärztlichen Nachwuchses nötig. „Bereits eine Umsteuerung von circa drei Prozent des hausärztlichen Nachwuchses in die Regionen mit dem höchsten Bedarf würde eine flächendeckende Unterversorgung verhindern“, schreiben die Autoren. In Zahlen wären das 650 Ärztinnen und Ärzte, die sich in strukturschwachen Regionen ansiedeln müssten. Bei einer Umsteuerung von zehn Prozent des ärztlichen Nachwuchses, also von etwa 2500 Ärztinnen und Ärzten, wären demnach sogar „gleichwertige Lebensverhältnisse in Bezug auf die hausärztliche Versorgungslage“ möglich. Viel wird also darauf ankommen, ob es in den nächsten Jahren durch Anreizsysteme wie Landarztprogramme gelingt, dass ländliche Regionen nicht abgehängt werden.
„Angesichts dieser Zukunftsaussichten ist das im aktuellen Koalitionsvertrag formulierte Ziel eines Primärarztsystems nur schwer umsetzbar“, bilanzieren die Autoren. Ohne weitere Strukturreformen ließe sich ein solches System aufgrund der damit zusätzlich steigenden Nachfrage nach Hausärztinnen und Hausärzten „allenfalls in großen Städten“ umsetzen, so das Fazit. „Ein globales Versorgungskonzept, das auch strukturschwache Räume berücksichtigt, ist es jedoch nicht.“
Zudem seien die Probleme in der hausärztlichen Versorgung nicht allein durch eine bessere Steuerung der ärztlichen Kapazitäten zu lösen. Wichtig seien beherzte Reformen, etwa die Schaffung multiprofessioneller Gesundheitszentren und die Auslagerung von Versorgungsbereichen, die heute noch dem Arztvorbehalt unterliegen, an medizinische Fachkräfte, schlagen die Autoren vor. „Letzten Endes ist der politische Wille erforderlich, die Versorgung berufs- und sozialrechtlich breiter aufzustellen und professionsübergreifende Angebote zeitgemäß und bedarfsgerecht zu organisieren.“
Sabine Menkens berichtet über gesellschafts-, bildungs- und familienpolitische Themen.
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