„Ich will nicht, dass Antisemitismus und Frauenfeindlichkeit hier wieder eingeführt werden“
Er mache sich angreifbar, warnten seine Mitarbeiter. Nachdem sich im Bundestagswahlkampf 2021 ein „tiefschwarzer Schatten“ auf ihn gelegt hatte, sah sich Michael Roth dazu gezwungen, zwei Auszeiten einzulegen. Gegen die Widerstände in seinem eigenen Team habe er sich entschieden, seine psychischen Beschwerden öffentlich zu machen, wie der SPD-Politiker mehrfach berichtete. Das sei er den Menschen seines Wahlkreises schuldig gewesen. Nach den Reaktionen sei ihm bewusst geworden, dass „viele darauf warteten, dass einer den Mut hat, über eine psychische Erkrankung zu sprechen“.
Das Ergebnis präsentierte der ehemalige Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses am Dienstag vor etwa 200 Zuschauern im Berliner Pfefferberg Theater. Gemeinsam mit der Journalistin Anne Will stellte er sein Buch „Zonen der Angst“ vor, das auf sehr persönliche Art und Weise seinen Werdegang als Arbeiterkind in der nordhessischen Provinz und sein mentales Leiden beleuchtet, auf das sich die Spitzenpolitik wie ein „Brandbeschleuniger“ ausgewirkt habe. Psychische Erkrankungen würden nach wie vor „totgeschwiegen“, beklagt Roth an diesem Abend einleitend, Betroffene als „unbrauchbar“ abgestempelt.
In „Zonen der Angst“ ergründet und ergreift er die Wurzel seiner psychischen Leiden: Die „Katastrophen“ und „seelischen Verwüstungen“ seiner Kindheit und Jugend, über die er niemals zuvor mit jemandem gesprochen habe – nicht einmal mit seinem Ehepartner. „Allein der Gedanke an diese Jahre ekelte mich. Ich wollte diese Erinnerungen in mir auslöschen“, beschreibt er eindringlich im Buch. „Ich war als ein Meister des Verdrängens und Vorgaukelns jahrzehntelang vor mir selbst geflüchtet.“ Mitunter produziert Roth bei seiner Selbstbetrachtung einen pathetischen Überschuss, doch seine Offenheit ist bestechend.
Insbesondere seinem Vater schreibt er eine Schlüsselrolle für seine Erkrankung zu. „Ich hasste ihn“, schreibt Roth schonungslos. „Aus seiner Unsicherheit und seinem fehlenden Selbstwertgefühl entsprang eine Grausamkeit, die mich, seinen Ältesten, besonders traf. Er führte mich vor seinen Trinkgefährten vor, wenn ihm danach war, oder rächte sich später an mir – für Demütigungen, die nicht ich, sondern sein frustrierendes Leben ihm auferlegt hatte.“ Von seinem Selbstmitleid hätte er nur im Alkohol „eine ruinöse Form des Trostes“ gefunden. „Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, erinnere ich mich als Erstes an diesen ständigen Psychoterror, die Regellosigkeit und Willkürherrschaft, die mein Vater als Folge seines schleichenden Kontrollverlusts Zuhause errichtet hatte.“
Wenn er sich im Buch verstärkt dem Politischen zuwendet, ist es augenfällig, dass er mit einer Abscheu über die rot-grünen Granden um die Jahrtausendwende schreibt, als erkenne er in ihnen Wiedergänger seines Vaters. Wie Gerhard Schröder Menschen behandelte, sei „abstoßend“ gewesen. Oskar Lafontaine sei ein „brillanter Demagoge“, der „an seiner eigenen Eitelkeit fast zerbarst“. Im direkten Umgang habe sich die ganze „Generation Gerd“ um die beiden früheren SPD-Vorsitzenden und dem Grünen Joschka Fischer präsentiert „mit einer Arroganz und toxischen Männlichkeit, die kaum zu überbieten“ gewesen sei. „Ihre sehr männlichen Rituale, die darauf hinausliefen, sich ordentlich einen hinter die Binde zu kippen und dabei zu verkumpeln, waren nicht mein Ding.“
Wohlwollende Beurteilungen spart er sich hauptsächlich für die jüngeren Parteimitglieder auf. Kevin Kühnert etwa charakterisiert er als „rhetorisch brillant, charismatisch, telegen“. Mit Heiko Maas arbeitete er als Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt zusammen. Ein „feiner Mensch“, heißt es im Buch. Der frühere Bundesaußenminister hat sich in eine der hinteren Reihen des Pfefferberg Theaters platziert. Generell lässt sich die enorme Wertschätzung für die außenpolitischen Bemühungen Roths an den Gästen im Publikum ablesen. Gleich vier Botschafter sind vor Ort, die Kultur-Szene ist ebenso vertreten wie die internationale Politik und – zentral in der ersten Reihe platziert – Marie-Agnes Strack-Zimmermann. Jene FDP-Politikerin, die ihn und Anton Hofreiter in die Ukraine begleitet hatte und zu einer der entschiedensten Unterstützerinnen des überfallenen Staates wurde.
Es sind dann auch ebenjene außenpolitischen Themen, die in dem SPD-Politiker erkennbar Leidenschaft wecken – und den harmonischen Abend regelrecht wachrütteln. Als eine Zuschauerin etwa den Nahen Osten thematisiert, redet er sich geradezu in Rage. „Ich habe den Eindruck, dass es inzwischen auch im progressiven Milieu zum guten Ton gehört, erst einmal zu sagen: Ein Jude ist nur dann ein guter Jude, wenn er sich von Israel distanziert“, beanstandet Michael Roth. Jüdische Menschen „sollen sich von dem einzigen Staat distanzieren, der ihnen überhaupt Sicherheit und Frieden verspricht. Das ist Israel, weil Deutschland steht nicht mehr dafür.“
Die Entschlossenheit, mit der er die Ukraine als seine zentrale außenpolitische „Mission“ unterstütze, war es dann auch, die ihn von der Fraktion und vor allem von dessen Vorsitzenden Rolf Mützenich entfremdete. „Wenn die Tür zum Fraktionssaal aufging, hatte ich zuletzt den Eindruck, ich steige in einen Kühlschrank“, erzählte Roth im „Stern“-Interview, das seinen Rückzug nach 27 Jahren im Bundestag einleitete. „Ich fror. Ich litt. Auf Sympathie und Wertschätzung in meiner Peergroup war ich zwingend angewiesen. Als die Harmonie komplett versiegt war, wurde ich immer kleiner, trauriger, schweigsamer“, schreibt er im Buch. Ende 2023 folgte die finale Demütigung, als auf dem SPD-Parteitag zum Teil Jubel ausbrach, als er die Wiederwahl in den Parteivorstand im ersten Durchgang verpasste und auf einen zweiten verzichtete.
Fehlte es Roth schlicht an Kompromissbereitschaft? Er selbst sähe es wohl anders. „Das ist das Lebenselixier der Demokratie“, hatte er in seinem letzten Gespräch mit Anne Will hervorgehoben. „Am Anfang sollte eine klare Haltung stehen – und dann muss man eine Brücke bauen. Und das wird zunehmend schwieriger.“ Die Menschen sehnten sich nach Klarheit in einer komplizierter werdenden Welt. Andere würden wohl einwenden, dass die Parteien mit schwindender Zustimmung ein schärferes Profil entwickeln, um klar abgegrenzte Milieus anzusprechen. Innerparteiliche Kompromisslösungen stören da eher.
Unter dieser Annahme böte die SPD neben einem Rolf Mützenich, der sich nach wie vor gegen die weitere Ausrüstung ausspricht, wohl nicht ausreichend Raum für einen Michael Roth. Ist der Außenpolitiker in der SPD womöglich fehl am Platz, greift Will die naheliegende Frage auf. „Die SPD war und ist sicherlich auch noch ein Spiegelbild der Gesellschaft“, erwidert Roth beinahe entschuldigend, um doch wieder zu seinem Unverständnis über die „Frieden schaffen ohne Waffen“-Fraktion zurückzukehren. „Die SPD war niemals in ihrer Geschichte eine pazifistische Partei. Wir sind immer für Befreiung eingetreten – natürlich auch mit Waffengewalt.“
Als ihn ein Zuschauer fragt, ob die Sozialdemokratie noch eine Zukunft habe, muss Roth lange überlegen, bevor der Parteisoldat in ihm doch noch zum Vorschein kommt. „Selbstverständlich hat die SPD eine Zukunft“, antwortet er mit gespielt wirkender Selbstsicherheit. Seine Partei sei jedoch „manchmal falsch abgebogen“ und habe den „sozialdemokratischen Leistungsethos“ aus den Augen verloren. Hinzu komme, dass sie eine emphatische Ansprache pflegen müsse. Es müsse den progressiven Kräften gelingen, „das Gute im Menschen zum Schwingen und Klingen zu bringen“, fordert Roth. Die SPD dürfe „die Arena der Emotionen nicht denjenigen überlässt, die das Arschloch in dir suchen – das Böse. Das tun nämlich die AfDler.“
Doch Roth gibt sich keinerlei Illusion hin, auf welchem Weg sich die hiesige Gesellschaft befindet. Er sei dabei, sich zu „entpatriotisieren“, da die Debatten um Waffenlieferungen und der zunehmende Antisemitismus seine persönliche Kluft zu Deutschland vergrößert hätten. Neben der „Ausgrenzung“ von Schwächeren durch die AfD bezog er sich dabei später auch auf „migrantische Kreise“, deren Ablehnung der hiesigen Weltoffenheit die politische Linke aufhorchen lassen müssten. „Ich will nicht, dass auch noch Antisemitismus und Frauenfeindlichkeit hier wieder eingeführt werden. Ich möchte nicht, dass das Patriarchat durch die Hintertür wieder eingeführt wird.“
„Das ist nicht mein Land, tut mir leid“, urteilt er mit überraschender Vehemenz. „Ich bin wieder an einem Punkt angelangt, wo ich als 17-Jähriger war, als es mir schwerfiel, die Nationalhymne zu singen.“ Doch während ihm Nationalstolz und politischer Einfluss abhandenkommen, hat ihn der Schreibprozess zu „Zonen der Angst“ wieder ein gutes Stück näher zu sich selbst gebracht, wie er im Theater offenbart. „Ich habe einen sensiblen, klugen, manchmal freundlich charmanten, bisschen ehrpusseligen Menschen getroffen, der inzwischen viel schlauer ist als damals.“
„Zonen der Angst – Über Leben und Leidenschaft in der Politik“ von Michael Roth ist seit dem 18. September 2025 im Verlag C.H. Beck erhältlich.
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