Wenn sich der Nato-Sicherheitsrat Anfang der Woche zur Dringlichkeitssitzung trifft, dürfte erhöhte Alarmbereitschaft herrschen.

Das Protokoll der russischen Eskalation der vergangenen Wochen beginnt in der Nacht auf den 9. September 2025: Damals drangen mehrere dutzend russische Drohnen in den Luftraum Polens ein. Einige Flughäfen des Landes mussten kurzfristig schließen, polnische und andere Nato-Kräfte schossen mehrere dieser Drohnen ab. Die polnische Regierung verurteilte diese „beispiellose Aggression“, weit im Landesinneren fanden sich später Trümmerteile. Wenige Tage nach dem Vorfall meldete auch Rumänien in der östlichen Region Tulcea nahe der ukrainischen Grenze den Überflug einer russischen Drohne. Rumänische F-16-Kampfjets rückten aus, verfolgten die Drohne, bis sie in der Region nahe des Dorfes Chilia Veche vom Radar verschwunden war. Auch Polen meldete eine weitere Sichtung.

Doch nicht nur entlang der südöstlichen „Flanke“ – auch im Norden gibt es vergleichbare Verstöße. Am vergangenen Freitag drangen nach Angaben des estnischen Außenministeriums drei russische Kampfflugzeuge nahe der zu Estland gehörenden Insel Vaindloo über dem Finnischen Meerbusen vor und hielten dort für insgesamt zwölf Minuten Kurs. An der Nato-Luftraumüberwachung über Estland beteiligte F-35-Kampfjets der italienischen Luftwaffe fingen die Flugzeuge nach Angaben der Allianz ab. Eine Nato-Sprecherin bezeichnete den Vorfall als „weiteres Beispiel für das rücksichtslose Verhalten Russlands“. Der UN-Sicherheitsrat wird sich am Montag mit diesem Vorgehen befassen.

Auch Vertreter aller 32 Bündnisstaaten tagen im Nordatlantik-Rat Anfang der Woche in Brüssel und beraten über einen angemessenen Umgang. Neben Estland hatte auch Polen nach den Vorfällen zuvor Beratungen mit Nato-Partnern gemäß Artikel 4 des Nato-Vertrags beantragt. Dieser sieht Konsultationen vor, wenn ein Mitgliedstaat seine territoriale Integrität, Sicherheit oder Unabhängigkeit für bedroht hält. Der estnische Außenminister Margus Tsahkna hatte am Wochenende erklärt, die Luftraumverletzung sei „Teil einer umfassenderen Eskalation Russlands sowohl auf regionaler als auch auf globaler Ebene“. Das russische Verhalten erfordere „eine internationale Reaktion“.

Von der Leyen stellt Milliarden für Rüstung in Aussicht

Nur: Wie wird diese ausfallen? Und wie reagieren Europäische Union und Nato auf zukünftige russische Nadelstiche an ihrer Ostflanke?

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) gab sich nach den Vorfällen am Wochenende kämpferisch: „Die Vorfälle, insbesondere der in Polen, sind äußerst schwerwiegend. Wir werden jeden Zentimeter der europäischen Grenzen schützen“, sagte sie in einem Interview mit der WELT AM SONNTAG. Von der Leyen forderte darin auch eine größere Unabhängigkeit und Eigenständigkeit Europas in Sicherheitsfragen. Mit „Bereitschaft 2030“ habe die EU eine Agenda, um dieses Ziel zu erreichen und ihre Verteidigungsfähigkeit zu stärken: „Wir schließen unsere Fähigkeitslücken. Wir beschleunigen Verfahren. Wir mobilisieren bis zu 800 Milliarden EUR für Verteidigung.“

Auch aus dem politischen Berlin kommen Forderungen nach einer schärferen Antwort auf die russischen Nadelstiche: „Der Kreml versteht leider nur noch die Sprache der Härte“, sagte der außenpolitische Sprecher der Unionsfraktion Jürgen Hardt. „Nur eine klare Botschaft an Russland, dass jede militärische Grenzverletzung mit militärischen Mitteln beantwortet wird, bis hin zum Abschuss russischer Kampfjets über Nato-Gebiet, wird Wirkung zeigen.“

Man müsse die russische Frage: „Wie weit lassen sich die Europäer das gefallen?“ unmissverständlich beantworten, so Hardt. „Sonst drohen uns nicht nur Luftraumverletzungen, sondern bald auch der Angriff auf systemrelevante Ziele und Sabotageaktionen bis am Ende russische Soldaten aufmarschieren.“

„Putin testet uns in allen Dimensionen – in der Luft, im Cyberraum oder unter Wasser – und verfolgt genau, wie wir reagieren“, sagte die stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Siemtje Möller. Zugleich werde deutlich, dass die Verteidigungsmechanismen im Bündnis greifen. „Ich bin mir sicher, dass die Nato auch diesmal entschlossen und zugleich besonnen reagieren wird.“

Die Grünen halten weitere Sanktionsschritte für notwendig: „Mit betroffenen Statements und hilflosen Appellen wird man dem Kriegsverbrecher Putin keine Grenzen aufzeigen“, sagte die stellvertretende Grünen-Fraktionsvorsitzende Agnieszka Brugger. „Ein Stopp der Schengen-Visa, Beschlagnahmung der eingefrorenen russischen Vermögen sowie eine massive Verschärfung der Sanktionen von Energie bis Düngemittel und eine glaubwürdige robuste Haltung bei der Luftverteidigung von NATO-Luftraum sind überfällig und das Mindeste.“

AfD und Linke: ähnliche Antworten auf Putin

Die Fraktionen von AfD und Linken mahnen zur Besonnenheit, wenn auch mit unterschiedlichen Ansätzen. „Allein Russland“ trage die Verantwortung für die Eskalation, sagte Ulrich Thoden, verteidigungspolitischer Sprecher der Linksfraktion. „Die Reaktion der Nato auf die Vorfälle hat gezeigt, dass die Verteidigungsfähigkeiten des Bündnisses ausreichen und keine weiteren militärischen Maßnahmen erforderlich sind.“ Statt auf „militärische Planspiele“ müssten die Vereinten Nationen eingeschaltet werden. „Zielgerichtete Abschüsse russischer Kampfflugzeuge im grenznahen Luftraum der Nato sind unverantwortlich und bringen uns einem heißen Krieg näher.“

Das Anrufen des Nordatlantikrates nach Art 4 des NATO-Vertrages sei „geboten und legitim“, sagte Rüdiger Lucassen, verteidigungspolitischer Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion. Langfristig müssten die europäischen NATO-Staaten aber „ihren Weg zu einer strategischen Autonomie Europas finden“. Das fange mit einer überzeugenden Verteidigungsfähigkeit der eigenen Nation an und münde in einer europäischen Militärstruktur, „analog zur Nato und ggf. unabhängig von den USA“.

Und Russland? Lässt wenig Zweifel, vor dem Treffen des Nato-Sicherheitsrats weiter auf Eskalation zu setzen. Am Sonntag flog eine russische Militärmaschine über der Ostsee, ohne Flugplan und Funkkontakt. Bei der Maschine habe es sich um ein Aufklärungsflugzeug vom Typ Il-20M gehandelt, teilte die Luftwaffe mit. Die Nato aktivierte daraufhin zwei Eurofighter, die vom Fliegerhorst Rostock-Laage starteten. Noch blieb es bei einem Alarmstart der Abfangjäger.

Korrespondent Philipp Woldin kümmert sich bei WELT vor allem um Themen der inneren Sicherheit und berichtet aus den Gerichtssälen der Republik. Kürzlich ist im Verlag C.H. Beck sein Buch „Neue Deutsche Gewalt. Wie unsicher unser Land wirklich ist“ erschienen, das er gemeinsam mit WELT-Investigativreporter Alexander Dinger geschrieben hat.

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