"Wenn eine Drohne auftaucht, sollte die nach zehn Minuten abgeschossen werden"
Herr Ischinger, was hat Sie überrascht in der vergangenen Woche?
Wie unzureichend die Nato auf Drohnenangriffe vorbereitet zu sein scheint. Die Tatsache, dass man Schwärme russischer Drohnen, die jeweils ein paar tausend Euro kosten, mit Luft-Luft-Raketen bekämpft, die jeweils Hunderttausende von Euros kosten, erscheint mir abenteuerlich. Und da kann ich nur sagen, weil ich gerade aus Kiew zurückkomme: Von der Ukraine lernen! Die Ukraine musste leider eine große Kompetenz erwerben bei der Entwicklung und Fabrikation von Drohnen jeglicher Art, aber auch bei der Abwehr. Selbst bei großen Drohnenschwärmen fangen die Ukrainer manchmal bis zu 80 Prozent ab. Wir haben diese Fähigkeit nicht, und dieser eklatante Fehlstand muss dringend behoben werden.
Und es geht ja weiter: Am Wochenende drang eine russische Drohne in den rumänischen Luftraum ein, drehte dann aber ab in Richtung Ukraine …
Das hinterlässt bei mir Fragezeichen und Sorgen. Wenn derartige Flugkörper über Nato-Territorium auftauchen, dann sollten die abgeschossen werden, ganz egal ob sie in Richtung Ukraine fliegen oder nicht. Nur so ist unsere Abschreckung in Richtung Moskau glaubwürdig. Die Botschaft muss eindeutig sein: Wenn bei uns eine Drohne erscheint, wird sie nach zehn Minuten abgeschossen.

Zur Person
Wolfgang Ischinger war von 2001 bis 2006 Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in den USA, von 2006 bis 2008 dann in Großbritannien. Anschließend übernahm er die Leitung der Münchner Sicherheitskonferenz. Bis heute ist er Präsident von deren Stiftungsrat.
Aber wer hindert uns daran?
Ein Grund ist, dass Überreste der abgeschossenen Drohne natürlich auf dem Boden Schaden anrichten können. Man hat also die Folgen nicht ganz im Griff. Deshalb hat man offenbar lieber abgewartet und gehofft, dass die Drohne wieder zurück ins Nachbarland fliegt. Ein Ausdruck von Solidarität mit der Ukraine ist das nicht.
Hat die Nato denn klar genug in Richtung Moskau kommuniziert: Das darf sich nicht wiederholen?
Diese Ansage des Bündnisses ist nicht klar genug. Mark Rutte erklärt zwar, dass wir jeden Meter Nato-Territorium verteidigen, aber gleichzeitig hört man Donald Trump, der Zweifel daran hegt, ob der Drohnenangriff Absicht war. Das wird in Moskau sehr genau wahrgenommen.

Mögliche Gebietsabtretungen Die ganz normale Diktatur – das erleben Ukrainer in russisch besetzten Gebieten
Am Dienstag kommt der polnische Präsident Karol Nawrocki nach Berlin. Welche Botschaft haben wir für das angegriffene Nachbarland in diesen Tagen?
Wir haben eine neue Lage. Unser Nachbarland und Nato-Partner ist zum Opfer dieses als Test zu bewertenden Drohnenangriffs geworden. Jetzt sollte die Bundesregierung versuchen, zwei oder drei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Aus dem beabsichtigten gewaltigen Volumen des deutschen Verteidigungsetats sollten wir unseren polnischen Nachbarn einen größeren Betrag zur Verfügung stellen, um zum Beispiel Waffen und Munition insbesondere auch bei deutschen Herstellern einkaufen zu können. Das Ziel ist die Stärkung der Nato-Ostflanke. Es reicht ja nicht, wenn wir Bundeswehrkasernen in Nordrhein-Westfalen ausbauen. Die konkrete Bedrohung spielt sich an der polnischen Ostgrenze und im Baltikum ab. Mit der deutschen Brigade für Litauen machen wir es schon genau richtig. Auch Polen fühlt sich zunehmend bedroht. Angesichts der nicht hundertprozentig harmonischen deutsch-polnischen Beziehungen fände ich diese Stärkung der Ostflanke eine angemessene Geste. Vielleicht könnten wir mit dieser Geste das leider kaum lösbare Thema der deutschen Reparationen zumindest ein klein wenig entschärfen.
Würden Sie bei der Verteidigung gegen russische Drohnen so weit gehen wie der CDU-Verteidigungsexperte Thomas Röwekamp, der fordert, Drohnen, die in Richtung Nato-Gebiet fliegen, schon über der Westukraine abzuschießen?
Aus meiner Sicht spricht nichts dagegen. Nehmen wir mal ein konkretes Beispiel: Die polnische Flugabwehr schießt eine Drohne, die in Richtung Polen steuert, schon ein paar Kilometer vorher über ukrainischem Gebiet ab. Das geht natürlich nur, wenn ein solches Vorgehen mit der ukrainischen Seite präzise abgestimmt ist. Denn über der Ukraine stürzt dann nicht nur die russische Drohne, sondern auch der polnische Flugkörper, der zur Abwehr genutzt wurde, zu Boden. Das muss deshalb rechtlich, politisch und militärisch präzise abgestimmt werden.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj plädiert nicht erst seit letzter Woche dafür. Wer bremst, ist der Westen, um nicht "in den Krieg hineingezogen zu werden", wie es dann gerne heißt.
Wir sind da erst am Anfang der Überlegungen. Mit welchen Mitteln will man denn in den ukrainischen Luftraum hineinschießen? Was ist, wenn eine Rakete ihr Ziel verfehlt, 50 Kilometer weiterfliegt und in einem Wohngebiet landet? Kurzum: Vom Prinzip her ist es sinnvoll, aber man muss an das Kleingedruckte denken.
Die Ukraine hat gerade eigene Raketen mit einer Reichweite von 3000 Kilometern präsentiert. Könnten sie nun nicht darauf pfeifen, was der Westen sagt, und einfach alles in Russland angreifen, was sie für sinnvoll erachten?
Völkerrechtlich kann die Ukraine niemand daran hindern. Ich gehe aber davon aus, dass die Ukraine weiß, wie sehr sie auf engste Abstimmungen mit den Partnern angewiesen ist.
Die westlichen Staaten können recht gut einschätzen, wohin sich ukrainische Soldaten bewegen
Der Vorstoß ins Gebiet Kursk im Sommer 2024 fand aber auch ohne Abstimmung mit den Partnern statt.
Also cum grano salis dürfen wir doch unterstellen, dass die westlichen Staaten recht gut einschätzen können, wohin sich ukrainische Soldaten bewegen und was sie vorhaben.
Aber öffentlich taten Europäer wie Amerikaner kund, nichts gewusst zu haben. Nur um sich aus der Verantwortung zu ziehen?
Die Ukraine hat damals folgende Überlegung angestellt: Wenn wir diese militärische Operation mit den Partnern vorab zur Debatte stellen, gibt es tausend Bedenkenträger und am Ende wird uns abgeraten. Deswegen machen wir das jetzt. Die Ukraine wollte sich nicht die Hände binden lassen.

Sie kommen gerade von der YES-Konferenz in Kiew zurück. Verglichen mit früheren Reisen dorthin – wie ist die Stimmung jetzt?
Wie immer gilt: Was man in Kiew sieht, unterscheidet sich massiv von dem, was im Kampfgebiet im Osten vor sich geht. Trotz der Luftangriffe auf Kiew geht das Leben seinen normalen Gang. Die Menschen sitzen in Cafés, der Verkehr brummt, die Läden sind voll. Das täuscht natürlich darüber hinweg, dass die Bewohner nach über drei Jahren zunehmend traumatisiert sind und sich ein Ende dieser Bedrohung heute noch viel dringlicher wünschen als vor zwei oder drei Jahren. Aber meine Schlussfolgerung nach diesem Aufenthalt ist: Der Durchhaltewille und das Bewusstsein, sich weiter erfolgreich, vielleicht noch erfolgreicher verteidigen zu können, sind weiter da.
Gab es denn während der Konferenz keine russischen Angriffe?
Offenbar sehen die Russen davon ab, die ukrainische Hauptstadt anzugreifen, wenn US-amerikanische Gesandte wie Keith Kellogg in Kiew sind. Der ukrainische Präsident hat das so auf den Punkt gebracht: "Es gibt viel weniger Angriffe in Kiew, wenn Kellogg hier ist. Er ist besser als ein Raketenabwehrsystem."
Was nützen eigentlich all diese Konferenzen, ob Münchner Sicherheitskonferenz oder diese Konferenz nun in Kiew. Mehr oder weniger wichtige Menschen sagen auf Bühnen das, was sie ohnehin immer sagen, und reisen dann wieder nach Hause …
Das ist eine sehr berechtigte Frage. Aber gerade in Krisenzeiten sind diese Veranstaltungen wichtig, um die politische Wassertemperatur zu messen. In Kiew waren viele Entscheidungsträger aus europäischen Hauptstädten, die jetzt mit dem Gefühl nach Hause fahren: Wir müssen die Ukraine stärker unterstützen. Aber wie senden wir jetzt gemeinsame Signale an die amerikanische und die russische Seite? Aus jeder Veranstaltung ergeben sich bestimmte Erkenntnisse, auch wenn es keine schriftliche Abschlusserklärung gibt.

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Aber das wirklich Wichtige wird doch hinter den Kulissen besprochen, oder?
Natürlich. Was hinter dem Vorhang stattfindet, ist viel wichtiger als das, was vor dem Vorhang stattfindet. Die Bühne, auf der Reden gehalten werden, ist das Hilfsmittel, um zu zeigen: Hier bin ich, und das ist meine formale Position, oder die meines Landes. Aber abgesehen davon treffen sich die Besucher mit Selenskyj selbst und seinem Berater Andrij Jermak, oder dem ukrainischen Generalstab.
Und zuletzt, Herr Ischinger: Wo bleibt das Positive in dieser Woche?
Offenbar gibt es zwischen dem Iran und der Atomenergiebehörde in Wien einen ersten Schritt in Richtung einer Wiederaufnahme der Kontrollen der iranischen Nuklearanlagen. Das ist ein kleines Licht am Ende des Tunnels. Man kann nur hoffen, dass sich daraus ein nachhaltiger Prozess entwickelt. Und im allerbesten Fall führt das dazu, dass es wieder Verhandlungen zwischen dem Iran und den USA gibt und erneute militärische Auseinandersetzungen vermieden werden können.
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