„Nicht kriegstüchtig“ – Ärzte warnen vor Überlastung im Verteidigungsfall
Nach dem Abschuss russischer Drohnen über Polen vergangene Woche ist die sicherheitspolitische Lage in Europa einmal mehr angespannt. Die Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) warnt nun davor, dass das medizinische System in Deutschland nicht gut genug auf einen Verteidigungsfall vorbereitet sei. Gernot Marx, Vorsitzender der DGAI, sagte am Montag in Berlin: „Wir sind im Moment nicht ausreichend kriegstüchtig. Wir haben keine Konzeption, wir haben keine ausreichende digitale Vernetzung, und wir haben keine klar definierten Prozesse und Strukturen.“
Ein Verteidigungsfall mit bis zu 1000 Patienten täglich – die Zahl basiere auf Berechnungen der Bundeswehr und sei ein realistisches Szenario – erfordere eine enorme Logistik: Notfallversorgung, operative Versorgung und intensivmedizinische Behandlung müssten eng aufeinander abgestimmt sein – auch zwischen verschiedenen Krankenhäusern. „Wer hat noch OP-Kapazitäten? Wer kann auch einen Intensivpatienten aufnehmen? Wer kann jetzt schon niemanden mehr versorgen? Solche Fragen bedürfen zwingend Antworten“, sagte Marx.
Während der Corona-Pandemie habe man zwar bereits Erfahrungen in Krisensituationen sammeln können. Doch: „In einer Bedrohungslage gibt es keine Wellenverläufe mit Prognosemodellen, mit denen man sich auf einen Anstieg oder Abfall der täglich aufzunehmenden Intensivpatienten vorbereiten kann.“
Er betonte, dass Deutschland im Kriegsfall „die Drehscheibe für die Patientenverlegung“ sei. Neben deutschen Patienten würden voraussichtlich auch Soldaten von Nato-Verbündeten über Deutschland weiterverteilt werden.
Grietje Beck, Präsidentin des Berufsverbands Deutscher Anästhesistinnen und Anästhesisten, erklärte, schon heute seien die Kapazitäten „nahezu ausgeschöpft“. „Spielräume gibt es in der normalen Versorgung kaum.“
Um einer hohen Patientenzahl zu begegnen, brauche es „Kleeblatt 2.0“, wie Jan-Thorsten Gräsner, Direktor des Instituts für Rettungs- und Notfallmedizin am Uniklinikum in Kiel, erläuterte. Mit dem sogenannten Kleeblatt-System wurde 2020 während der Corona-Pandemie ein Konzept zur bundesländerübergreifenden Verlegung von Intensivpatienten in Deutschland eingeführt. Ein solch angepasstes System benötige es nun auch für den Verteidigungsfall. „Diese Anpassung muss jetzt erfolgen. Wenn wir hier nicht vorbereitet sind, verlieren wir wertvolle Zeit. Wir verlieren Menschenleben, wenn es dann darauf ankommt“, sagte Gräsner. Der vorgeschlagene Mechanismus helfe nicht nur bei kriegerischen Auseinandersetzungen, sondern auch bei anderen Katastrophen.
Mit diesem Konzept könne neben einem Mangel an Behandlungskapazitäten auch einem Mangel an Rettungswagen oder Rettungshubschraubern entgegengewirkt werden. „Die vorhandenen Rettungsmittel sind täglich im Einsatz, an einigen Stellen sind sie auch bereits an der Belastungsgrenze. Daher ist auch für die Transporte eine zentrale Koordinierung dringend notwendig.“ Er fordere eine „digitale Echtzeiterfassung aller relevanten Ressourcen“. „Wir müssen wissen, welche Krankenhausbetten in welchen Versorgungsstufen akut verfügbar sind, wo gibt es wie viele Beatmungsplätze, wo ist welches Material vorhanden?“ Dazu brauche es eine zentrale Koordinierungsstelle, forderte er Richtung Politik.
Darüber hinaus benötige es regelmäßige Trainings und Schulungen. „Rettungsdienst ist Teamarbeit, das erleben wir jeden Tag auf der Straße. Deswegen sind die Vorbereitungen auf eine Krise nur als Team möglich. Wir brauchen eine überregionale und interprofessionelle Vernetzung. Das heißt: Training für alle.“
DGAI-Chef Gernot Marx führte außerdem aus, dass eine „flächendeckende, verpflichtende Telemedizin-Infrastruktur“, also eine digitale Struktur, eingeführt werden müsse, um Verlegungen zu reduzieren und Ressourcen effizient nutzen zu können.
Nach Einschätzung von Klinik-Direktor Jan-Thorsten Gräsner, der an der Entwicklung des sogenannten Kleeblatt-Systems während der Corona-Pandemie beteiligt war, ist das medizinische System in Deutschland auf einen Kriegsfall im internationalen Vergleich in etwa so vorbereitet wie andere europäische Länder auch. Er sagte: „Echt vorbereitet auf eine solche Lage, auf diese Patientenzahlen, ist kein Land in Europa.“
Die DGAI vertritt neben dem Fachbereich der Anästhesiologie auch deren Teilbereiche Intensivmedizin, Schmerztherapie und Notfallmedizin. „Wir sind das Fundament der Notfallversorgung in den Kliniken“, sagte Grietje Beck. Den Angaben des Verbands zufolge leiten Anästhesisten mehr als die Hälfte aller Intensivstationen in Deutschland und stellen rund 70 Prozent aller Notärzte.
Politikredakteur Nicolas Walter berichtet für WELT über gesellschaftspolitische Entwicklungen im In- und Ausland.
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