„Russland verfügt über Mittel, uns alle auf verschiedene Weise anzugreifen“
Schweden war eines der ersten Länder, das auf die russischen Drohnen in Polen reagierte und sofort die Entsendung von Flugzeugen und Material zur Flugabwehr zusagte. Jessica Rosencrantz, 37, ist seit September 2024 EU-Ministerin im Kabinett von Ministerpräsident Ulf Kristersson.
WELT: Frau Rosencrantz, die EU-Chefdiplomatin Kaja Kallas hat den Drohnen-Vorfall in Polen als die „schwerste Verletzung des europäischen Luftraums“ seit Beginn des Ukraine-Kriegs bezeichnet. Wie sollte Europa darauf reagieren?
Jessica Rosencrantz: Wir müssen es sehr ernst nehmen. Der Vorfall unterstreicht, was viele von uns schon seit Langem sagen: Die russische Aggression ist nicht nur eine ernsthafte Bedrohung für die Ukraine, sondern für die gesamte europäische Sicherheit. Deshalb müssen wir unsere Unterstützung für die Ukraine weiter verstärken. Europa ist derzeit der größte Unterstützer, aber wir können noch mehr tun – militärisch, zivil und auf andere Weise. Dazu zählt auch die Förderung einer zukünftigen Mitgliedschaft der Ukraine in der EU, die immer mehr zu einem Teil der Diskussion über Sicherheitsgarantien zu werden scheint. Und wir müssen den Druck auf Russland erhöhen. Wir diskutieren derzeit über das 19. EU-Sanktionspaket, Schweden drängt kontinuierlich auf weitere Maßnahmen.
WELT: Bislang haben die Sanktionen nicht den entscheidenden Unterschied gemacht. Was bräuchte es in dieser Hinsicht, um Russland wirklich zu schaden?
Rosencrantz: Wir sehen schon jetzt, dass es der russischen Wirtschaft schadet und es ein wirksames Instrument ist, um die Kriegswirtschaft zu treffen. Aber wir müssen unseren Druck weiter erhöhen, Paket für Paket, und sicherstellen, dass wir den russischen Energiesektor und die Unterstützer der Schattenflotte stärker ins Visier nehmen.
WELT: US-Präsident Donald Trump hat sich offen für weitere sekundäre Sanktionen gegen beispielsweise Indien und China gezeigt, wenn Europa diese mitträgt. Sollte die EU mitziehen?
Rosencrantz: Die EU und die USA haben sehr unterschiedliche Sanktionsregelungen. Das macht es kompliziert. Aber ich halte es für wichtig, dass wir uns in viel mehr Punkten abstimmen. Und wir würden natürlich einen verstärkten Druck seitens der USA auf die russische Wirtschaft und ihre Unterstützer begrüßen. Gleichzeitig muss Europa dafür sorgen, dass wir jetzt und langfristig über die finanziellen Mittel verfügen, um die Ukraine zu unterstützen, und entscheiden, welche Instrumente wir dafür einsetzen wollen. Unter anderem müssen wir uns die eingefrorenen russischen Vermögenswerte ansehen. Wenn wir all dieses Geld haben, wäre es durchaus sinnvoll, es zu nutzen.
WELT: Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat in ihrer Rede zur Lage der EU gesagt, dass die eingefrorenen Vermögen nicht beschlagnahmt werden sollen. Sind Sie von der Entscheidung enttäuscht?
Rosencrantz: Ich begrüße es, dass wir eine Diskussion darüber führen, wie wir die Einnahmen auf neue Weise nutzen können. Das ist ein Schritt nach vorn. Aber wir setzen uns auch dafür ein, dass wir über die Vermögenswerte und deren Verwendung insgesamt sprechen. Das wird eine schwierige Diskussion zwischen den EU-Mitgliedstaaten, aber es ist eine Diskussion, die wir führen müssen. Russland muss für den Schaden aufkommen, den es verursacht hat.
WELT: Einige EU-Länder setzen sich für gemeinsame Schulden ein, um die Stärkung der europäischen Verteidigung zu finanzieren. Schweden und Deutschland haben sich dagegen ausgesprochen.
Rosencrantz: Ganz Europa hat in den letzten Jahrzehnten zu wenig in seine Verteidigungsfähigkeiten investiert. Ich begrüße es sehr, dass die Länder nun erkennen, dass wir mehr tun müssen und sich innerhalb der Nato auf ein ehrgeiziges neues Ziel geeinigt haben. Letztendlich ist das aber eine nationale Verantwortung. Schweden hat in den letzten Jahren seine Investitionen in die Verteidigung verdoppelt – durch Priorisierungen innerhalb unseres Haushalts. Für das neue Nato-Ziel werden auch Kredite notwendig sein. Ich glaube aber, dass alle EU-Länder diese Verantwortung selbst übernehmen müssen. Die EU kann eine Rolle dabei spielen, den nationalen Regierungen diese Investitionen zu erleichtern, etwa durch Darlehen über das sogenannte SAFE-Instrument oder die neue Defizitregelung, die einen Teil der Verteidigungsausgaben ausklammert. Doch EU-Anleihen wären unserer Meinung nach nicht der richtige Weg.
WELT: Schweden hat selbst einige hybride Angriffe erlebt, die höchstwahrscheinlich aus Russland gesteuert wurden. Wie besorgt sind Sie um die Sicherheit Ihres Landes?
Rosencrantz: Ich denke, ganz Europa sollte sich Sorgen machen. Russland verfügt über die Fähigkeiten und Mittel, uns alle auf verschiedene Weise anzugreifen oder zu beeinflussen. Das kann militärisch sein, aber auch durch Desinformation oder Cyberangriffe. Die Situation in Polen sollte uns daran erinnern, dass das, was in der Ukraine geschieht, für uns alle existenziell ist. Wir haben nicht nur eine moralische Verpflichtung, die Ukraine zu unterstützen, sondern auch ein eigenes Interesse daran. Wir sind alle auf die eine oder andere Weise bedroht. Nicht nur jetzt, sondern auch in absehbarer Zukunft. Das müssen wir bei allen Entscheidungen in Bezug auf Sicherheit, Verteidigung und die Unterstützung der Ukraine berücksichtigen.
WELT: Aus Washington kamen in den letzten Monaten gemischte Signale. Wie sehr vertrauen Sie auf die Unterstützung der USA?
Rosencrantz: Die USA haben deutlich gemacht, dass sie sich weiterhin engagieren und ihre Rolle in der Nato erfüllen werden. Gleichzeitig ist die Botschaft sehr klar, dass sie von den europäischen Ländern erwarten, mehr für die eigene Sicherheit zu tun. Das haben wir auch schon von früheren amerikanischen Regierungen gehört, und nun ist auch die europäische Diskussion zu diesem Schluss gekommen. Wir sind uns einig, dass es Raum und Notwendigkeit für Europa gibt, mehr Verantwortung für die europäische Säule in der Nato zu übernehmen. Und was die Ukraine betrifft, begrüße ich, dass die USA beabsichtigen, eine Rolle bei möglichen Sicherheitsgarantien in der Zukunft zu spielen. Wir haben jetzt ein klares Signal von 26 Ländern erhalten, die sich in irgendeiner Form an einer Sicherheitsmission beteiligen wollen. Das ist ein wichtiges Zeichen.
WELT: Was wäre Schweden bereit, dazu beizutragen?
Rosencrantz: Wir schließen nichts aus, sehen eine Rolle für Schweden aber insbesondere im Bereich der Luftüberwachung und der Seestreitkräfte. Allerdings gibt es dafür bestimmte Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen. Wir müssen sicherstellen, dass es sich um einen vernünftigen Rahmen handelt, und dass auch die USA beteiligt sind.
WELT: Ein anderes Thema, das die EU derzeit beschäftigt, ist der Krieg im Gaza-Streifen. Von der Leyen hat sich in ihrer Rede für Sanktionen gegen Israel ausgesprochen, dafür gibt es in der EU allerdings keine Mehrheit – auch aufgrund des Widerstands Deutschlands.
Rosencrantz: Was wir derzeit im Gaza-Streifen erleben, ist in jeder Hinsicht erschreckend. Die Hamas hat den Krieg begonnen, und wir stehen voll und ganz hinter dem Recht Israels, zu existieren und sich zu verteidigen. Aber es gibt Grenzen. Man muss sich an die Regeln des Krieges und das humanitäre Völkerrecht halten. Es muss Druck auf die Hamas ausgeübt werden, damit sie die Geiseln freilässt, aber auch auf Israel, damit es mehr humanitäre Hilfe in den Gaza-Streifen lässt. Dazu gehört die Aussetzung des Handelsteils des EU-Assoziierungsabkommens mit Israel, und auch Sanktionen gegen Extremisten in der Regierung und unter den israelischen Siedler. Es ist einer der komplexesten Konflikte der Welt, und wir wissen, dass die Länder aus verschiedenen Gründen – nicht zuletzt aus historischen – unterschiedliche Standpunkte dazu vertreten. Aber ich hoffe, dass wir innerhalb der EU zu einer Einigung kommen und die schreckliche Situation in Gaza beenden können.
Lara Jäkel ist Redakteurin im Ressort Außenpolitik. Für WELT berichtet sie unter anderem über Nordeuropa und die USA.
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