Es ist die zentrale Anschuldigung im Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen Wladimir Putin: Dem russischen Präsidenten wird vorgeworfen, für das „Kriegsverbrechen der unrechtmäßigen Vertreibung“ und der „unrechtmäßigen Überführung der Bevölkerung“ – insbesondere von Kindern – verantwortlich zu sein. Mehr als 19.000 ukrainische Minderjährige sind seit Beginn der russischen Vollinvasion aus den besetzten Gebieten entführt, russifiziert und teils zwangsadoptiert worden. Ein Artikel im feministischen Magazin „Emma“ deutet diese Praxis nun zu einer humanitären Geste um.

„Raubt Russland Kinder?“, fragt Autor Helmut Scheben in der Überschrift, in der eine Verneinung bereits mitschwingt. Die Vereinigten Staaten hätten Kinder „in all ihren Kriegen verfrachtet“, bemängelt er, doch nie sei dabei von „Kinderraub“ die Rede gewesen. „Wenn die russische Armee elternlose Kinder und Jugendliche aus ukrainischen Kampfgebieten evakuiert, kann dies keine humanitäre Aktion sein, weil Russland in der Gestalt von Putin jede Menschlichkeit und Barmherzigkeit abzuerkennen ist.“ Die Berichterstattung über verschleppte Kinder tut er kurzerhand als „Propaganda-Fiktionen“ ab.

Scheben, der bereits selbst als Gast im russischen Staatssender RT (Russia Today) aufgetreten ist, beruft sich auf ebenjenes Propaganda-Medium, wenn er darlegt, dass vier Millionen Ukrainer im ersten Kriegsjahr nach Russland „flüchteten“. Unter ihnen sollen sich 730.000 Kinder befunden haben. „Die überwiegende Mehrheit dieser Minderjährigen kam mit einem gesetzlichen Vertreter nach Russland: mit Eltern, Erziehungsberechtigten, Tutoren“, behauptet der Autor. Mehr noch: Das russische Militär schütze Kinder vor Kriegshandlungen, russische Behörden kooperieren mit Kiew, um Familien zusammenzuführen.

„Wer es schafft, glaubhaft zu machen, dass der Feind Kindern Gewalt antut, der hat erreicht, dass der Feind als ein bestialisches Ungeheuer wahrgenommen wird“, resümiert Scheben seinen Artikel. „Mit einem Feind, dem derart die Menschlichkeit abgesprochen wurde, kann es keine Verständigung geben, keine Friedensverhandlungen, kein Pardon. Wer eine Bevölkerung ‚kriegswillig‘ machen will, der muss den Feind als Monster darstellen.“

Dabei sind die Vorwürfe gegen Russland, ukrainische Minderjährige nach Russland zu deportieren, gut dokumentiert. Bereits vor drei Jahren hatte die „New York Times“ davon gesprochen, dass Kinder wie „Kriegsbeute“ behandelt würden. Die Nichtregierungsorganisation „Save Ukraine“ hat unlängst von einem Online-Katalog berichtet, indem Kinder aus der annektierten Region Luhansk steckbrieflich aufgeführt und zur Adoption angeboten werden. „Das sind Kriegsverbrechen, das ist gegen das Völkerrecht“, betonte der ukrainische Botschafter Oleksii Makeiev gegenüber WELT.

Deutliche Kritik übte Makeiev nun auch an dem Magazin. „Der Internationale Strafgerichtshof hat Haftbefehle gegen Putin und seine ‚Beauftragte für Kinderverschleppung‘ erlassen“, schrieb der Diplomat auf der Plattform X. „Emma relativiert und leugnet Kriegsverbrechen und macht sich zum russischen Komplizen.“ Für ihn stelle sich die Frage: „Wer bezahlt euch?“

Auch von deutschen Politikern gab es Kritik. „Verrutschte Maßstäbe, blanker Zynismus, Whataboutism, Täter-Opfer-Umkehr“, beanstandete Michael Roth (SPD), früherer Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses. Von einer „Geschichtsverdrehung besonderer Art“ sprach Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt. „Kinder werden entführt und Emma behauptet, sie würden in Sicherheit gebracht. Welch ein Abgrund. Der Kreml freut sich.“

Aus den Reihen des BSW erfuhr der Artikel hingegen Lob. „Emma“ steche damit „positiv hervor“, befand Sevim Dağdelen, da es sich um „kein bloßes Wiederholen der Verlautbarungen aus der Selenskyj-Administration“ handele. Ihre Parteivorsitzende Sahra Wagenknecht empfahl den Beitrag, da er die „Ungereimtheiten und Widersprüche innerhalb der Narrative von den ‚russischen Kinderräubern‘“ darlege.

Wagenknecht hatte früh eine ähnliche Sicht auf die russische Invasion wie „Emma“-Herausgeberin Alice Schwarzer erkennen lassen. 2023 verfassten die beiden Frauen eine als „Manifest für Frieden“ deklarierte Online-Petition, die unter anderem forderte, die Waffenlieferungen an die Ukraine zu stoppen. Letzten Winter ließen Schwarzer und Wagenknecht den „Appell der 38“ folgen, einen offenen Brief, mit dem sie „einen großen europäischen Krieg verhindern“ wollten.

Im „Manifest für Frieden“ hatte sich Schwarzer besorgt über die Zukunft der ukrainischen Kinder geäußert. Wie es um deren Wohlergehen unter russischem Einfluss bestellt ist, zeigt die Geschichte der ukrainischen Jugendlichen Nastia, die WELT 2023 recherchiert hatte. Sie absolvierte bei Kriegsausbruch eine Konditorei-Ausbildung fernab ihrer Eltern am Asowschen Meer. Da sie in den Wirren des Krieges den Kontakt zu ihrer Mutter verloren hatte, galt sie als unbegleitet. Statt ihr bei der Suche zu helfen, gaben russische Soldaten Nastia in ein Wohnheim. Später sollte sie in die Föderation verschleppt und zur Adoption freigegeben werden. Dem konnte sie zuvorkommen, indem sie rechtzeitig ihre Mutter über Social Media erreichte.

Mykola Kuleba von der Wohltätigkeitsorganisation „Save Ukraine“ kann von weiteren Strategien der Russen berichten, mit der ukrainische Kinder ihren Eltern entrissen werden. „Sie rufen bei der Mutter an und sagen ihr, dass in wenigen Tagen ein verpflichtendes Ferienlager starten werde“, berichtete er WELT. Insbesondere ärmere Familien würden auf diese Weise angesprochen. Die Kinder würden mit russischer Propaganda umerzogen und kehrten nicht mehr zurück. „Wenn sie zu dem vereinbarten Zeitpunkt nicht zu Hause sind, erklären die Russen, dass eine Rückkehr unmöglich sei, weil diese wegen ukrainischer Angriffe zu gefährlich wäre.“

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